Ute Christoph

Im Land der drei Zypressen


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errichtet würde, vor mir hätte.

      Wie mochte dieses Gut ausgesehen haben? Wie viele Generationen von Mensch und Tier hatten hier zusammen gelebt?

      Ich schloss die Augen: Die Rotbuchen säumten einen gepflegten, mit Kies bedeckten Weg, der zum zweigeschossigen Haupthaus führte. Links neben dem Eingang stand eine Holzbank, während den Platz rechts neben der Tür ein riesiger Kübel mit vom Wind sanft bewegtem, blühendem Lavendel schmückte.

      Ich sah einen Mann, der Zypressen pflanzte. Im Garten hinter dem Haus schöpfte eine lachende Frau mit langen rauschenden Röcken Wasser aus dem Brunnen, während eine Andere Unkraut jätete. Es roch nach frisch gebackenem Brot. Da waren wiehernde Pferde und ein Mann, der freundlich Befehle rief. Dann ritt jemand fort.

      Gedankenverloren packte ich die Überreste meines kleinen Picknicks in den Rucksack und kehrte zum Auto zurück.

      Der viel versprechende Duft von Hühnchen mit Knoblauch und Rosmarin strömte durch das offene Fenster in mein Zimmer, wo ich bequem mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett lag und mit offenen Augen von dem alten Anwesen mit den drei Zypressen träumte. Ich warf einen Blick auf die Uhr neben meinem Buch auf dem Nachttisch. Zeit für das Abendbrot. Ich rieb mit den Handballen über meine Augen, bis die Kontaktlinsen schmerzten, und verscheuchte damit gänzlich den Hauch von Schläfrigkeit, die sich nach meiner Rückkehr nach Olargues eingestellt hatte. Mit den Fingern kämmte ich mir durchs Haar, schlüpfte in die flachen Sandalen neben der Tür und erschien einige Augenblicke später in der Küche, in der Angele gerade den Backofen öffnete und mit selbst gehäkelten Topflappen die heiße Auflaufform zum Tisch balancierte. André schlurfte müde ins Zimmer.

      „Dein Tag war sehr lang“, sagte Angele mitfühlend, „setz Dich, das Essen ist fertig.“

      Während sie redete, stellte sie das tönerne Gefäß auf einen Untersetzer und nahm den Deckel ab. Angele strich ihrem Mann fürsorglich über den Arm. Dann entdeckte sie mich.

      „Ah, unsere liebe Elke aus Deutschland – guten Abend.“

      Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen und rückte ihn an den gemütlich gedeckten Tisch. Auch die obligatorische Flasche Rotwein und die Karaffe mit kühlem Quellwasser fehlten nicht.

      „Hat Ihnen das Dorf gefallen?“ fragte Angele, während sie geschickt mit einer Geflügelschere das dampfende Hühnchen zerteilte.

      „Es ist wirklich wunderschön“, antwortete ich und hob betonend die Augenbrauen. „Besonders begeistert war ich von den verlassenen Häusern. Darin konnte ich wunderbar herumstöbern, träumen und Geschichten erfinden.“

      Ich tupfte mir sorgfältig mit der geblümten Papierserviette neben meinem Teller die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck Wein. „Das Huhn schmeckt köstlich“, lobte ich meine Gastgeberin.

      Die Französin lächelte stolz.

      „Als ich oben im Dorf war, habe ich auf dem gegenüberliegenden Hang Ruinen und drei Zypressen gesehen und bin dorthin gefahren.“

      „Oh, Sie waren auf dem Gut der Héraults?“

      „Ist das der Name der Familie, die dort gelebt hat?“ fragte ich neugierig und legte das Besteck aus der Hand. „Warum wohnt dort niemand mehr?“

      Angele runzelte die Stirn. „Ach, meine Liebe, das Anwesen wurde vor weit mehr als einhundert Jahren verlassen. Seitdem verfällt es.“

      Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Ein Gut verlassen? Einfach so? Und es gab niemanden mehr, der dort leben wollte?“

      Angele berührte den Silberknoten an ihrem Hinterkopf und hob die Schultern. „Nun, es gehörte den Héraults. Sie verließen den Hof, einer nach dem anderen. Und keiner von ihnen kehrte jemals zurück. Irgendwann geriet das Gut in Vergessenheit. Nicht jedoch die Geschichte der Héraults.“

      Meine Neugier wuchs.

      „Was wissen Sie über die Héraults?“

      „Die Geschichte, die wir hier von Generation zu Generation weitergeben. Unser Dorf lebt von Geschichten – von alten und von neuen. Hier gibt es ja sonst nicht viel an Unterhaltung.“

      Angele lächelte fast entschuldigend.

      „Würden Sie mir die Geschichte erzählen?“ bat ich.

      Die alte Frau nickte seufzend.

      „Sie hieß Vivienne“, murmelte sie. „Niemand weiß genau, woher sie kam und wohin sie wollte …“

       In den Wäldern zwischen Bédarieux und Olargues, 11. April 1850

      Der schmale Weg durch den Wald war uneben und holprig. Die schlecht gefederte Kutsche schlingerte gefährlich zur Seite, und Vivienne war jedes Mal überrascht, wenn das Gefährt wieder auf allen vier Rädern über die Straße rumpelte. Dichte Baumkronen schluckten das Mondlicht. Tief hängende Zweige schlugen gegen die Fensterscheiben. Es war gespenstig da draußen.

      „Diese Fahrt ist unerträglich. Ich halte das nicht eine Minute länger aus“, sagte die kleine Frau, die Vivienne gegenübersaß, und wischte sich mit einem fleckigen Tuch das rote Gesicht.

      Die Füße der dicklichen Reisegefährtin berührten kaum den Boden und Vivienne, die sich in der rumpelnden Kutsche nicht nur an der ledernen Handschlaufe festklammerte, sondern auch die Füße fest in den Boden stemmte, empfand Mitleid.

      „Uns wird kaum etwas anderes übrig bleiben, bis wir unser Ziel erreicht haben, Liebes“, sagte der Mann neben ihr.

      Im Gegensatz zu seiner Frau war er schlank, ja, fast dürr. Auf dem Schoß hielt er ein etwa dreijähriges Mädchen. Er strich der Kleinen über das blonde, strähnige Haar und legte dann seine Hand beruhigend auf die in ihren Schoß gebetteten Hände seiner Frau.

      „Denk an unser neues Leben“, redete er weiter. „Wir werden es besser haben als jemals zuvor. Ein eigenes kleines Haus, Tiere und Felder, die wir bestellen. Wir werden genug zu Essen und zu Trinken haben. Unserem Kind wird es gut gehen. Und vielleicht bekommt es noch Bruder oder Schwester.“

      Die Frau kicherte verlegen und zwickte ihren Mann in die Daumenwurzel.

      Vivienne schmunzelte.

      „Wir haben etwas gespart und wollen uns jetzt im Dorf meines Schwagers niederlassen“, erklärte die Frau.

      Vivienne nickte und verlagerte das Gewicht auf ihren rechten Fuß.

      „Ach, wie froh werde ich sein, wenn wir endlich da sind“, klagte die Frau.

      Vivienne blickte aus dem Fenster. Angesichts der undurchdringlichen Finsternis fröstelte sie und zog ihren schweren Umhang enger um sich.

      Der Mann neben ihr hielt die Augen geschlossen. Vivienne beneidete den Mann. Wie gern hätte auch sie diese unruhige Fahrt verschlafen. Sie bemühte sich, beim Schaukeln der Kutsche nicht gegen ihn zu stoßen, um ihn nicht zu wecken. Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand und sehnte sich nach einem Bett.

      „Wohin wollt Ihr?“ fragte die dicke Frau.

      Vivienne schluckte. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass ihr auf ihrer Reise jemand diese Frage stellen würde und sich eine Geschichte ausgedacht.

      Niemals hätte sie die Wahrheit sagen können! Niemand vermochte zu verstehen, warum sie den Mann, den ihre Eltern für sie ausgewählt hatten, nicht heiraten konnte. Die gute Partie, um die sie all ihre Freundinnen beneideten. Er war reich, besaß ein großes Haus mit Bediensteten, die ihm auch den nur kleinsten Wunsch von den Augen ablasen, eine weit über die Region hinaus bekannte Pferdezucht und unzählige Weinberge mit Trauben von exzellentem Ruf.

      Vivienne hingegen sah nicht seinen Wohlstand und den Besitz. Auch nicht all die kleinen und großen Annehmlichkeiten, die eine Ehe mit diesem Mann mit sich gebracht hätte. Sie sah den Ausgewählten selbst. Er war hässlich, grobschlächtig und sein Benehmen ekelte sie. Mit seinen vierzig Lebensjahren war er darüber hinaus mehr als doppelt so alt wie sie selbst.