Ute Christoph

Im Land der drei Zypressen


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Hatten Sie einen schönen Tag?“ fragte Angele.

      Sie lächelte, und ihr vom südfranzösischen Klima gegerbtes Gesicht legte sich in tausend Fältchen.

      Ich berichtete der kleinen Frau von meinem Besuch in St. Pons und dem kurzen Abstecher in die Gorges.

      Mein Schulfranzösisch war zwar im Laufe der letzten Jahre etwas eingerostet, aber ich konnte mich immer noch gut verständlich machen.

      „Haben Sie sich eigentlich in unserem schönen Dorf schon einmal genauer umgesehen?“ Angele schöpfte eine Kelle gut riechenden Eintopf auf meinen mit Blümchen gemusterten Teller, während ihr Mann André die Gläser mit Rotwein füllte.

      „Nein“, antwortete ich und schüttelte den Kopf, „das habe ich morgen vor. Ich bin bisher nur mit dem Auto die Straße hochgefahren. Von dort oben hatte ich einen fantastischen Blick auf das ganze Dorf. Es scheint ziemlich groß zu sein.“

      „Das ist es“, brummte André und tunkte ein Stück Brot in seinen Eintopf.

      „Ich packe Ihnen für den Ausflug etwas zu essen ein“, schlug Angele vor. „Dann können Sie Olargues ausgiebig besichtigen, ohne uns zu verhungern.“ Sie fuhr sich mit der flachen Hand über das silbergraue Haar, das sie am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden hatte.

      Während Angele das benutzte Geschirr vom Tisch in die Spüle räumte, bedeutete mir André, mit ihm nach draußen zu gehen. Wir nahmen unsere Weingläser und setzten uns auf die Bank gleich neben der Tür. Ich lehnte mich an die immer noch sonnenwarme Bruchsteinmauer und sah ziellos in den Himmel.

      Unzählige Sterne reihten sich eindrucksvoll aneinander wie goldene Nadelstiche auf schwarzem Samt. Die Milchstraße war nicht länger nur eine Fantasie aus exotischen Märchen – ich sah sie. Mein Blick wanderte über diese endlose Straße, während die Grillen zirpten und eine Nachtigall ihr Lied sang.

      „La voie lactée“, erklärte André und deutete mit dem Zeigefinger in den Himmel.

      „La voie lactée – Milchstraße“, wiederholte ich.

      André nickte zustimmend, obwohl er kein Deutsch verstand.

      Angele hatte ein Stück trockenes Holz ins Feuer gelegt, und es duftete nach verbrannter Eiche. Anfang Mai waren die Tage in den Bergen zwar sonnig und warm, doch in den Abendstunden kühlte die Luft in den Bergdörfern merklich ab und die Einwohner entzündeten in den Öfen und Kaminen kleine Feuer.

      Während ich gelegentlich an meinem Wein nippte und gedanklich die vielen sinnlichen Eindrücke des vergangenen Tages passieren ließ, drehte sich André eine Zigarette und sinnierte leise vor sich hinmurmelnd über die Arbeiten des nächsten Tages. Früh morgens wollte er ein Huhn schlachten, anschließend die Wiese mähen und danach Ziegenkäse machen.

      Die kleine Herde der Vidals bestand aus zehn Ziegen. Und manchmal verarbeitete André in seiner Käserei auch die Ziegenmilch der Nachbarn.

      Käse, den die Dorfbewohner selbst nicht benötigten, boten sie auf einem der nahe gelegenen Wochenmärkte feil, ebenso wie die Ernten aus den Gärten. Da in dem sonnigen Klima Obst und Gemüse im Überfluss wuchsen, war es den Bewohnern von Olargues möglich, einen guten Teil davon auf den Märkten der Umgebung zu verkaufen.

      Dieser herrlich schroffe und gleichzeitig blühende Landstrich, die heimelige Atmosphäre des Hauses und die Gastfreundlichkeit der Vidals taten mir gut. Das alles war Balsam für meine geschundene Seele. Es war erst mein zweiter Abend bei Angele und André, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich nicht wieder nach Deutschland zurück gemusst, zurück in die Einsamkeit meiner kleinen Wohnung.

      Am späten Morgen weckte mich das Motorengeräusch eines Freischneiders. Ich öffnete das alte, knarrende Sprossenfenster, steckte den Kopf hinaus und sah hinab ins Tal. Die Schatten vereinzelter Wolken krochen langsam an der gegenüberliegenden Hügelkette hinauf. Der frische Duft von gemähtem Gras lag in der Luft.

      Ich drehte mich um und betrachtete das Zimmer. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl, alles aus hellem, massiven Holz. Trotz oder vielleicht gerade wegen der simplen Einrichtung verströmte der Raum eine ungeheure Wärme und Gemütlichkeit. Die grob verputzen Bruchsteinwände waren weiß getüncht. Vier Kanthölzer über dem Bett umrahmten einen bildgroßen Ausschnitt von Bruchsteinen, darüber befand sich eine Glasscheibe. „Damit man sieht, wie es vor der Renovierung ausgesehen hat“, hatte André erklärt. Ich ging in das angrenzende kleine Bad und betrachtete mein Gesicht unter dem schulterlangen, dunkelblonden Haar im Spiegel. In den Augenwinkeln der grünen, leicht schräg stehenden Augen zeichneten sich die ersten Fältchen ab.

      Für 32 ist das in Ordnung, dachte ich und lächelte meinem Spiegelbild freundlich zu. Ich hatte schöne, gerade Zähne. Der kleine Mund passte in das ovale Gesicht. Meine Nase war schmal und vielleicht ein bisschen zu lang. Ich sah an mir herab. Mit gerade mal einem Meter sechzig war ich zwar nicht besonders groß, aber Arme, Beine und Oberkörper passten proportional zueinander. Nur die kleine Wölbung des Bauches störte mich. Den plötzlichen Stich in meinem Herzen ignorierte ich.

      Als ich wenig später die Wohnküche betrat, goss Angele gerade Wasser in eine große Schüssel mit Mehl, Zucker, Eiern und Butter, tauchte die bloßen Hände in das Gefäß und begann, kräftig zu kneten. Ich wusste bereits, dass daraus am Ende ein schmackhaftes süßes Brot entstand.

      Das Frühstück stand auf dem Tisch. Brot vom Vortag – Angele backte jeden Tag –, Butter, Käse aus Ziegenmilch, Paté, die André aus dem Supermarkt im Nachbarort mitgebracht hatte, und Maronencrème.

      In einem Reiseführer hatte ich gelesen, dass sich die Menschen in dieser Region früher vornehmlich von Maronen ernährt hatten. Nach der Ernte rösteten sie die Kastanien in zu diesem Zweck errichteten Hütten, um sie haltbar zu machen. Auf den Steinböden dieser Hütten entzündeten sie große Glimmfeuer, über denen die Maronen auf einem übergroßen Gitterrost über Tage hinweg, in denen das Feuer stetig vor sich hin schwelte, konserviert wurden. Sie verarbeiteten die Frucht zu Brot, Kuchen, Suppe und Aufstrich.

      „Schade, dass Sie erst nach der Kirschblüte gekommen sind“, sagte Angele. „Die Pracht des weißen Blütenmeers hätte Ihnen gefallen. Wir haben an der Dorfstraße ein Stückchen weiter oben ein kleines Grundstück mit Kirschbäumen, wie viele Nachbarn hier.“

      „Ich bin bestimmt nicht zum letzten Mal hier“, warf ich ein, und da war ich mir ganz sicher.

      „Sie sind hier jederzeit herzlich willkommen.“

      Angele wies mit dem Zeigefinger auf einen olivgrünen Rucksack auf der Anrichte neben dem Ofen, in dem jetzt der Brotlaib verschwand.

      „Ich habe Ihnen etwas zu essen eingepackt. Es wird ein schöner Tag, warm, aber nicht heiß. Also genau das richtige Wetter, um sich unser Dorf anzusehen.“

      Sie blinzelte mir aufmunternd zu.

      „Das werde ich“, sagte ich lächelnd, stellte das Geschirr in die Spüle, nahm den kleinen Rucksack mit dem Lunch und warf ihn mir über die Schulter.

      Dann gab ich Angele spontan einen Kuss auf die Wange und verließ das Haus.

      Der Pfad vom Grundstück der Vidals mündete auf die Dorfstraße, die von Kirschbaumplantagen gesäumt in das Zentrum von Olargues führte, das vor tausend Jahren in den Hang gebaut worden war. Schmale Häuser in Ocker- und Umbratönen schmückten die verwinkelten Gassen. Neben den blau lackierten Türen, die sich direkt auf die Straße öffneten, standen Kübel mit üppig blühenden Pflanzen. Aus den Steinen, mit denen die Gassen gepflastert waren, brachen bunte Blumen. Manche Sträßchen waren für Autos viel zu eng. Vor tausend Jahren hatte man daran noch nicht gedacht.

      Alles war so einfach, so ursprünglich.

      Den Wegen kreuz und quer folgend, ließ ich mich spontan leiten von Eindrücken beim Blick in abbiegende Gassen, lief unter alten Torbögen hindurch und kletterte über grob behauene, ausgetretene Steinstufen.

      Besonders begeistert war ich von den Ruinen längst verlassener Häuser. Die Dächer fehlten, herabgestürzte Bruchsteine