T. von Held

Afrikanische Märchen auf 668 Seiten


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schlanke Gestalt erzitterte.

       »Du zitterst ja,« sagte der Löwe verächtlich.

       »Ja,« entgegnete die Schlange, »je mehr ich zittere,

       um so schwerer treffe ich,« und dabei schoß sie vorwärts

       und bohrte ihren Giftzahn tief in die linke Augenbraue

       des Löwen, und im selben Augenblicke ringelte

       sich ihr ganzer geschmeidiger Körper um den

       Hals des Löwen und vergrub sich in seine dicke

       Mähne. Das Gift brannte wie Feuer in dem Kopf und

       dem Körper des Verwundeten; als es bis zum Herzen

       gedrungen war, fiel er nieder und war tot.

       »Gut! sehr gut,« meckerte die Ziege und betrachtete

       lüsternen Auges die Bananen. Darauf schworen

       Schlange und Ziege sich ewige Freundschaft.

       »Jetzt folge mir!« sagte dann die Schlange. »Ich

       habe eine kleine Arbeit für dich!«

       »Arbeit, beste Freundin? was denn?«

       »O sie ist leicht und nicht ermüdend! Wenn du diesen

       Pfad hier entlang gehst, so kommst du in ein

       Dorf, in dem Menschen wohnen. Dort erzähle, was

       ich getan habe und zeige den Leuten den toten Löwen.

       Sie werden sich darüber freuen, und du wirst in den

       Gärten der Menschen Nahrung im Überfluß finden.

       Freilich werden sie dich schlachten, sobald du fett

       bist; aber dafür hast du auch ein Leben voller Genuß

       und Behaglichkeit gehabt.«

       »Mir ist die Arbeit recht,« entgegnete die Ziege,

       »und vor dem Ende meines Lebens graut mir auch

       nicht. Was dich anbetrifft, so fürchte ich, daß du niemals

       Ruhe und Frieden finden wirst; denn Tiere und

       Menschen werden dich stets als Feind fürchten und

       verabscheuen.«

       Darauf schieden sie.

       Die Ziege ging den ihr gewiesenen Pfad entlang

       und kam bald zu den Menschen und ihren Wohnungen.

       Vor dem Dorfe sah sie ein Weib, das war damit

       beschäftigt, sich Holz zu sammeln. Als es aufblickte

       und ein Tier mit spitzen Hörnern auf sich zukommen

       sah, erschrak es und wollte fortlaufen; als es jedoch

       sein friedliches Meckern hörte und sah, wie es hin

       und wieder stehen blieb, um saftiges Grün und Gras

       zu fressen, besann es sich und rief die Ziege an, die

       dann auch zögernd nahe trat.

       »Folge mir,« sagte die Ziege, als sie ganz nahe gekommen

       war; »ich will dir etwas Seltsames zeigen.«

       Zwar erschrak die Frau ein wenig, als sie das Tier

       sprechen hörte, aber ihre Neugierde gewann die Oberhand,

       und sie folgte, bis sie zu der Stelle kam, an der

       der tote Löwe lag. Dort blieb sie stehen und rief aus:

       »Was ist denn dieses? Was bedeutet das alles?«

       Die Ziege erwiderte:

       »Dieser hier war einst der König aller Tiere; vor

       ihm fürchteten sich alle Wesen, welche im Walde und

       auf dem Felde lebten. Aber er wurde zu stolz, zu

       hochmütig und fühlte sich zu sehr als derjenige, dem

       alles untertan sein mußte. Deshalb forderte ich ihn

       zum Kampfe heraus mit einem kleinen unscheinbaren

       Wesen, welches in Hecken und Büschen lebt, und du

       siehst, er ist im Kampfe gefallen!«

       »Und wer war der Sieger?«

       »Die Schlange.«

       »Du hast recht,« rief das Weib, »die Schlange ist

       die Beherrscherin aller Wesen, nur nicht des Menschen.

       «

       »Du hast wahr gesprochen!« antwortete die Ziege.

       »Das weiß auch die Schlange, und deshalb sandte sie

       mich zu den Menschen, daß sie mich pflegen und bei

       sich behalten sollten. Bin ich aber fett und rund geworden,

       so werden sie mich töten und verzehren. Das

       waren die Worte der Schlange.«

       Die Frau horchte auf diese Worte und merkte sie

       wohl. Dann zog sie des Löwen Fell ab, trug es in das

       Dorf und erzählte dort den Leuten von ihrem wunderbaren

       Erlebnis. Von jenem Tage an ist die Ziege ein

       Mitglied des menschlichen Haushaltes geworden, und

       der Dank dafür gebührt der Schlange; denn hätte sie

       nicht die Ziege zum Menschen geschickt, so wäre sie

       für immer wild und unstät geblieben, wie ihre Schwester,

       die Antilope.

       Fußnoten

       1 Dies Märchen wurde Mr. Stanley von einem Eingeborenen

       der Kongogegend erzählt und gibt Zeugnis

       von der regen Phantasie und dem wunderbaren Talent

       der meisten Stämme der Afrikaneger, die Tiere mit

       Ideen und Sprache zu beleben.

       Kimyera.1

       Ein Märchen der Wanyoro aus der Landschaft

       Unyoro nördlich vom Viktoria-Nianza.

       In Unyoro herrschte vor langer, langer Zeit ein mächtiger

       König Namens Uni. Dieser nahm zum Weibe

       ein Mädchen eines benachbarten Stammes, das hieß

       Wanyana. Wanyana aber hatte für ihren Gatten nichts

       wie Haß und Abscheu in ihrem Herzen und zeigte ihm

       ihre Gefühle täglich. Eines Tages kam zu dem König

       ein Mann, der wollte Vieh einhandeln, und weil er

       schön auf der Flöte spielen und gut unterhalten konnte,

       so bat ihn Uni, ein Weilchen in seinem Reiche zu

       bleiben. Allabendlich setzte sich nun der Fremdling

       nieder unter einen großen Baum vor den Hütten des

       Königs und unterhielt diesen wie seine Weiber mit

       Flötenspiel und Erzählungen. Wohlgefällig ruhte

       dabei sein Auge auf den schmucken Gestalten der jungen

       Frauen, welche ihm zuhörten. Am meisten aber

       entzückte ihn die Schönheit Wanyanas, und er sowohl

       wie viele andere der Anwesenden gewahrten auch

       bald, daß seine Neigung nicht unerwidert blieb. Ja,

       bald flüsterte man unter den Weibern allerlei über

       Wanyana und Kalimera und wollte wissen, daß die

       Liebenden sich heimlich träfen und leidenschaftliche

       Worte tauschten. Zu Unis Ohren