T. von Held

Afrikanische Märchen auf 668 Seiten


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1. Soweit unsere Kenntnis reicht, hat keine Rasse

       oder Nation jemals eine bedeutende Civilisation aus

       sich selbst heraus entwickelt, sondern hat den Anstoß

       dazu durch das Eindringen fremder Elemente empfangen.

       Nun ist Afrika seit den ältesten Zeiten niemals in

       direkter und dauernder Verbindung mit einer belebenden

       Civilisation gewesen. D a s l i e g t z u m

       g r o ß e n T e i l a n d e r A b g e s c h l o s s e n -

       h e i t d e s u n g e g l i e d e r t e n K o n t i n e n t s .

       Die Sahara hinderte die Berührung mit der Mittelmeer-

       Kultur. Durch Jahrhunderte hindurch ist zwar

       die Westküste von Angehörigen christlicher Nationen

       besucht worden, die aber nicht Kulturträger, sondern

       Sklavenhändler waren. Sonderbar ist allerdings, daß

       die Kultur der alten Ägypter und der Punas nicht größere

       Spuren hinterlassen hat. Wo islamitische Völker

       ihren Einfluß geltend gemacht haben, wie z.B. an der

       Ostküste Centralafrikas, da ist ein gewisser Fortschritt

       nicht zu verkennen.

       2. Die Ü p p i g k e i t d e r a f r i k a n i s c h e n

       N a t u r versieht den Neger ohne besondere Anstrengung

       seinerseits mit des Lebens Nahrung und Notdurft.

       Der Anreiz zur Thätigkeit und zur Anspannung

       der Geisteskräfte ist daher sehr gering.

       3. Das Bestehen der S k l a v e r e i bildet ein drittes

       großes Hindernis der Entwicklung. Alle Arbeit ist

       Sache der Sklaven und eines freien Mannes daher unwürdig.

       4. Die große Masse der afrikanischen Völker hat

       weder eigene Schriftzeichen erfunden, noch ein fremdes

       Alphabet adoptiert. Hieraus folgt der M a n g e l

       e i n e r g e s c h r i e b e n e n L i t t e r a t u r , die bei

       anderen Völkern ein so mächtiger Faktor für die Entwicklung

       der Civilisation gewesen ist. Daß eine eigene

       Schrift sich nicht entwickeln konnte, liegt sicherlich

       an dem allgemein verbreiteten Unwesen der Zauberei.

       5. Der Einfluß der F e t i s c h m ä n n e r , Medizinmänner,

       oder wie sie sonst heißen, steht endlich jedem

       Fortschritt im Wege. Jede Offenbarung von Genie,

       jede Erfindung wird dem Einfluß von Geistern zugeschrieben.

       Das blöde Volk wird gegen den Armen,

       der mehr wissen will als andere, aufgehetzt, und mit

       dem Leben bezahlt er seine Kühnheit.

       6. Das Bestehen der P o l y g a m i e und des Frauenkaufs

       in ganz Afrika untergräbt die Sittlichkeit und

       schwächt den Zusammenhang der Familie.

       Hieraus geht gleichzeitig hervor, wo die Hebel anzusetzen

       sind, um die Afrikaner auf den Weg der Entwicklung

       zurückzubringen, den nicht mangelnde geistige

       Anlagen, sondern die natürlichen Verhältnisse

       des afrikanischen Kontinents und einige unglückliche

       soziale Institutionen ihnen verlegt haben.

       Nach allem Gesagten wird es weniger auffällig erscheinen,

       wenn von der Volkslitteratur der Afrikaner

       die Rede ist und hinzugefügt wird, daß ihre Erzeugnisse

       sich denen anderer Völker dreist an die Seite

       stellen lassen. Die Litteraturgattungen, die der Afrikaner

       besonders ausgebildet hat, sind das M ä r c h e n

       (mit Riesen, Zwergen, Geistern, Hexen, allerhand

       Zaubereien wie bei uns), die F a b e l (meist Tierfabel),

       die E r z ä h l u n g oder besser A n e k d o t e

       (meist mit didaktischer Tendenz), die r e l i g i ö s e

       T r a d i t i o n (über den Ursprung der Welt, die Erschaffung

       des Menschen, Entstehung des Todes etc.),

       h i s t o r i s c h e E r z ä h l u n g e n (aus der Stammesgeschichte),

       R ä t s e l und S p r i c h w ö r t e r .4

       Hierzu kommen noch P o e s i e n jeglicher Gattung,

       Liebeslieder, Spottlieder, Kriegslieder, Epen, Trauergesänge,

       religiöse Lieder, Lehrgedichte u.s.w. Alle

       Poesie wird stets mit Gesang begleitet, und bei den

       unten folgenden Proben sind an einigen Stellen die

       Musiknoten hinzugefügt. Das Metrum ist accentuierend.

       Die größeren Gedichte sind meist in Strophen

       geteilt. Gereimt sind fast alle und oft sehr kunstreich,

       wie aus dem bei einigen Gedichten der folgenden

       Sammlung angegebenen Originaltext ersichtlich ist.

       Die Sprache in den poetischen Stücken ist oft archaisch,

       häufig sehr gedrängt und dunkel und der Kürze

       wegen schwer in gebundener Form in andere Sprachen

       zu übertragen. Ich habe daher mehrere Gedichte

       in prosaischer Übertragung geben müssen und muß

       einem in rebus poeticis erfahreneren Nachfolger die

       poetische Umformung überlassen.

       Die einzelnen Stücke der Sammlung sprechen, was

       den Inhalt anlangt, im allgemeinen für sich selbst. Wo

       es nötig schien, habe ich eine nähere Erklärung in

       Fußnoten gegeben. Hinsichtlich der Tierfabeln mag

       indessen hier allgemein bemerkt werden,5 daß der

       Elefant im allgemeinen der Typus der Stärke und

       Weisheit ist. Der Löwe repräsentiert zwar auch die

       Stärke, aber meist den Adel der Gesinnung, wie in unsern

       Fabeln. Die Hyäne vereinigt brutale Gewalt mit

       Dummheit, der Leopard Macht mit Beschränktheit.

       Der Fuchs oder Schakal ist das Urbild der Schlauheit,

       der Affe das der Verschmitztheit und Gewandtheit.

       Der Hase oder das Kaninchen gilt als klug und behend

       und vertritt meist die Stelle des Fuchses in unsern

       Fabeln. Der Hund personifiziert alles Niedrige,

       Knechtische und Verächtliche; die Turteltaube ist das

       Sinnbild der Reinheit, Keuschheit und Weisheit

       u.s.w.

       Größere Sammlungen von Litteraturstücken einzelner

       Völkerschaften sind im Laufe der letzten Jahrzehnte

       bereits mehrfach veröffentlicht worden, aber da

       sie meist linguistischen Zwecken zu dienen hatten, für

       ein größeres Publikum so gut wie unzugänglich,