T. von Held

Afrikanische Märchen auf 668 Seiten


Скачать книгу

ein Greif kam geflogen, setzte sich auf das Dach des

       Hauses, in dem die Kinder allein waren und machte

       sie furchtsam, indem er sprach:

       »So, ihr Kinder, nun ist mein Essen bereit! Wohin

       ist euer Vater gegangen?«

       Sie antworteten:

       »An die Küste.«

       Der Greif sagte:

       »Gut! So will ich mein Essen haben.«

       Da fürchteten sich die Kinder und zeigten ihm die

       Hühner ihres Vaters. Die verzehrte der Vogel und

       machte sich davon.

       In der zweiten Nacht schlief der Vater an der

       Küste. Der Greif kam wieder auf das Dach geflogen

       und sprach zu den Kindern die gleichen Worte wie am

       Tage vorher. Da waren die Kinder sehr ängstlich und

       zeigten ihm die Ziegen ihres Vaters, die verspeiste er

       und flog fort.

       In der dritten Nacht war der Mann nicht mehr sehr

       weit von seinem Hause entfernt. Der Greif kam wieder

       auf das Haus geflogen und sprach, wie er vordem

       gesprochen hatte. Die Kinder fürchteten sich und

       zeigten ihm die Hunde. Die fraß er auf und flog

       davon.

       Am folgenden Morgen kehrte der Vater heim. Er

       begrüßte seine Kinder, fand sie aber krank und abgemagert.

       Deshalb fragte er sie:

       »Warum seid ihr so mager geworden, meine Kinder?

       «

       Da berichteten sie, was sich in seiner Abwesenheit

       zugetragen hatte. Der Vater hörte schweigend zu und

       überlegte, wie er wohl am besten des Greifes habhaft

       werden könne. Er hatte an der Küste starke Pfeile gekauft

       und hoffte, mit ihnen den bösen Vogel zu erlegen.

       Als die Sonne untergegangen war, begab er sich

       mit seinen Kindern ins Haus, schloß die Türe zu und

       machte eine Luke in das Grasdach. Es dauerte gar

       nicht lange, bis der Vogel kam und sich gerade vor

       der Luke auf dem Dache niederließ.

       Er rief die Kinder und fragte:

       »Wohin ist euer Vater gegangen?«

       Der Vater aber hatte den Kindern befohlen, den

       Greif wütend zu machen; deshalb antworteten sie:

       »Du Taugenichts und Bösewicht, warum läßt du

       uns nicht in Frieden? Du hast unsere Hühner, Ziegen

       und Hunde gefressen, heute bekommst du nichts!«

       Da wurde der Vogel sehr zornig und rief:

       »Wie kommt es, daß ihr mich heute beschimpft?

       Ich werde kommen und euch selber fressen.«

       Mit diesen Worten versuchte er, in das Haus einzudringen;

       aber der Vater nahm geschwind seinen

       Bogen und seine Pfeile und schoß. Da fiel der Greif

       blutend zu Boden, und ein zweiter Schuß tötete ihn.

       Der Vater ging nun mit seinen Kindern vor die Tür

       des Hauses, wo der tote Vogel lag; sie rupften ihn und

       bereiteten ihn zu, daß er gebraten werden konnte.

       Darauf legten sie das Fleisch an das Feuer, und der

       Vater sprach zu den Kindern:

       »Ich gehe jetzt auf das Feld. Gebt wohl acht, daß

       das Fleisch gut gebraten ist, wenn ich wiederkomme,

       und eßt nicht davon, denn ich will es allein essen.«

       Der Knabe aber spürte Lust, von dem Gericht zu

       kosten, trat herzu, hob den Deckel von dem Topf auf,

       in dem das Fleisch war, und wollte eben zulangen, als

       er eine Stimme hörte, die rief:

       »Iß mich nicht, iß mich nicht!«

       Da lief der Knabe davon. Bald aber kehrte er zurück,

       ergriff schnell ein Stück des Fleisches und aß.

       Da erscholl die Stimme des Fleisches wiederum laut

       und deutlich, so daß die Schwester des Knaben sie

       hörte, herzulief und fragte:

       »Warum hast du von dem Fleisch gegessen?«

       Ihr Bruder wurde darauf sehr böse und schalt sie

       und gab ihr allerlei Namen. Da lief das Mädchen auf

       das Feld zu dem Vater und erzählte ihm alles. Als

       beide bald darauf nach Hause zurückkehrten, fanden

       sie den Knaben in einen Büffel verwandelt. Der Vater

       rief ihm zu:

       »Wenn du Säbelantilopen siehst, so folge ihnen

       nicht; wenn du Elefanten siehst, folge ihnen nicht;

       wenn du eine Herde Büffel siehst, so folge ihnen!«

       Da rannte der Büffel davon und verschwand in dem

       Walde; der Vater blieb mit der Tochter allein zurück.

       Eine Kaffernkindergeschichte.

       Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten

       zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen. Da die

       Mutter der Kinder aber eine Kannibalin war, so hatte

       der Vater beide gleich nach ihrer Geburt zu ihrem

       Großvater geschickt, bei dem lebten sie und wuchsen

       auf. Als sie nun groß waren, sprachen sie eines Tages

       zu dem alten Manne:

       »Wir sind lange genug hier gewesen; es verlangt

       uns heimzugehen, um unsere Eltern zu sehen.«

       Der Großvater antwortete:

       »Werdet ihr auch zurückkommen? Ihr wißt doch,

       daß eure Mutter eine Menschenfresserin ist?«

       Die Kinder aber blieben bei ihrem Vorsatz, und so

       willigte der Großvater schließlich ein und ließ sie ziehen.

       Doch ehe sie sich auf den Weg machten, warnte

       er sie noch und sprach:

       »Seht zu, daß nur euer Vater um eure Anwesenheit

       wisse und nicht eure Mutter. Meidet sie!«

       Als die Sonne untergegangen war, sagte Kinazinei,

       der Knabe, zu seiner Schwester:

       »Laß uns nun gehen, meine Schwester; denn der

       Weg ist weit.«

       Die ganze Nacht über schritten sie rüstig vorwärts

       und erreichten ihres Vaters Hütte kurz vor Sonnenaufgang.

       An der Tür der Hütte blieben sie stehen und

       horchten, ob sie der Mutter Stimme hören würden.

       Als sie sicher waren, daß nur der Vater daheim war,

       öffneten sie und traten ein. Kaum sah der Vater seine

       Kinder, als er vor