Maja M. Scharf

Die Galloway Geschwister


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ab und lief einfach davon. Ehe ich mich auch nur rühren konnte, war er in dem dichten Rauch verschwunden.

      „Amelia!?“ Ein hysterischer Schrei holte mich in die Realität zurück und meine Mutter stürzte sich auf mich. „Um Gottes Willen, geht es dir gut, mein Schatz?“

      Meine Mutter umarmte mich, nahm mein Gesicht in ihre Hände und küsste mich ab. Sie drückte mich ganz fest an sich und begann heftig zu schluchzen.

      „Mama“, versuchte ich sie zu beruhigen, „es geht mir gut.“ Was ich selbst kaum glauben kann!

      Meine Mutter schluchzte. „Oh, Gott sei Dank! Gott sei Dank!

      Ich blickte an mir herunter und bewegte meine Glieder und meinen Kopf; ich schien tatsächlich völlig unverletzt zu sein. Wie um alles in der Welt war das möglich? Wie hatte der Junge das gemacht? Ich musste ihm nachlaufen und ihm danken. Ich musste ihn fragen, wie er es hatte schaffen können, mich rechtzeitig zu erreichen. Außerdem musste ich mich vergewissern, dass es ihm gutging!

      In dem Moment stürmten Sanitäter und Feuerwehrleute den Laden, sie löschten die kleinen Flammen, die die Explosion hinterlassen hatte, und versorgten die Menschen, die in der unmittelbaren Nähe gewesen waren.

      Als sie mich untersuchen wollten, sträubte ich mich. Ich musste den Jungen finden!

      „Sei doch vernünftig, Mädchen“, sagte der Sanitäter. „Du könntest ernsthafte Verletzungen davongetragen haben!“

      „Amelia, du musst dich untersuchen lassen“, beharrte auch meine Mutter. „Es ist ein Wunder, dass es dir gut geht; du warst am nächsten an der Tür dran, als es passierte.“

      Nein, es ist kein Wunder, dachte ich. Er war es. Er hat mir das Leben gerettet.

      „Mir geht’s gut“, sagte ich entschieden und stand auf. Ich kam problemlos auf die Beine und spürte nach wie vor keinerlei Anzeichen einer Verletzung.

      Der Sanitäter packte meinen Arm. „Wir müssen dich untersuchen. Es dauert auch nicht lange.“

      Ich riss mich los. „Es geht mir gut, ehrlich“, rief ich und bevor mich jemand aufhalten konnte, lief ich los. Ich sprang über die Betontrümmer und rannte aus dem Schuhgeschäft hinaus. Ich blickte mich in alle Richtungen um und hielt Ausschau nach dem Jungen, der mir soeben das Leben gerettet hatte. Ich schaute nach rechts und links, nach oben und unten, lief ziellos durch die Gegend und suchte nach ihm, doch ich konnte ihn nicht finden.

      Gerade als ich die Hoffnung aufgeben und zurück zum Laden laufen und mich untersuchen lassen wollte, entdeckte ich ihn plötzlich doch. Er stand etwa dreißig Meter von mir entfernt an einer Ecke und spähte unauffällig zu dem Schuhgeschäft rüber.

      Schnellen Schrittes ging ich auf ihn zu, dabei betrachtete ich ihn und suchte nach erkennbaren äußeren Verletzungen. Er war etwas verdreckt und sein weißes T-Shirt war an einigen Stellen zerrissen und schwarz, aber ansonsten schien auch er vollkommen unversehrt zu sein. Von blutigen Wunden war keine Spur zu sehen. Wie konnte das nur möglich sein?

      Als ich nur noch zehn Meter von ihm entfernt war, wandte er seinen Blick plötzlich mir zu. Seine Augen begegneten meinen und ich blieb abrupt stehen. Einen Moment lang sahen wir einander wieder nur an, dann wandte er sich erneut ab und verschwand hinter der Ecke.

      „Hey!“, rief ich laut und setzte mich auch wieder in Bewegung. Nach wenigen Schritten begann ich zu laufen. „Hey! Warte!

      Doch als ich um die Ecke lief und damit rechnete, ihn wegrennen zu sehen, war er spurlos verschwunden. Ich stutzte und blickte mich stirnrunzelnd in alle Richtungen um, doch er war nirgends mehr zu sehen.

      Ich schluckte und nach einer kleinen Weile ging ich zurück zu dem Schuhgeschäft, wo meine besorgte Mutter und der etwas genervte Sanitäter mich erwarteten.

      „Na, junge Dame?“, sagte er in strengem Ton. „Lässt du dich jetzt endlich untersuchen?“

      Ich nickte nur, sagte jedoch kein Wort.

      „Ist wirklich alles okay, mein Schatz?“, fragte meine Mutter und nahm mich in ihren Arm. „Was ist denn los?“

      Seufzend lehnte ich mich an sie und fragte mich, warum der Junge einfach abgehauen war. Auch während ich mit meiner Mutter im Krankenwagen ins Krankenhaus gefahren wurde, dachte ich ununterbrochen an nichts anderes als an den Jungen; an seinen eindringlichen Blick von der Bank am Springbrunnen aus, an seine unglaublichen blauen Augen, daran, wie er schon vor der Explosion auf mich zugestürmt war, als hätte er gewusst, was passieren würde, und daran, wie er mich wie durch ein Wunder hatte retten können …

      2

      Ich musste nicht einmal eine Nacht im Krankenhaus bleiben. Zuerst hatten die Ärzte darüber gesprochen, aber alle Untersuchungen waren positiv verlaufen und ich hatte ihnen und auch meiner Mutter mehrmals versichert, dass es mir gutging.

      Ich sagte niemandem ein Wort von dem mysteriösen Jungen; es würde vermutlich nur beunruhigend auf meine Mutter und die Ärzte wirken, zumal es viel zu unglaublich klang, um wahr zu sein. Manchmal erwischte ich mich sogar selbst bei dem Gedanken, dass ich es mir womöglich doch nur eingebildet hatte. Andererseits hatte es zig Augenzeugen im Einkaufszentrum gegeben und ich hatte den Jungen eindeutig gespürt, als er sich auf mich gestürzt hatte, also war es offensichtlich wirklich geschehen. Trotzdem wollte ich es für mich behalten, zumal mir so viel Aufmerksamkeit ohnehin unangenehm gewesen wäre.

      Aus diesem Grund erzählte ich es auch Eric und Millie nicht, die ich an diesem Abend auf der Party traf.

      Gegen neun Uhr stand ich vor Erics Haus, aus dem bereits laute Partymusik und die Stimmen von unzähligen feiernden Menschen ertönten.

      „Hey Kleine“, begrüßte Eric mich fröhlich, als er die Tür öffnete und mich hereinließ.

      Eric war ein sehr großer und muskulöser Junge, hatte dunkelblondes Haar, blaue Augen, hohe Wangenknochen und ein außergewöhnlich nettes Gesicht mit einem außergewöhnlich fröhlichen Lachen, das einem auf der Stelle sympathisch sein musste. Auf seiner Nase und seinen Wangen wimmelte es von Sommersprossen, die sein Gesicht jetzt im Sommer nur noch gebräunter wirken ließen.

      Eric war mein bester Freund und der einzige Mensch, mit dem ich wirklich auf einer Wellenlänge war. Wir kannten uns seit fast vier Jahren; damals waren wir beide in demselben Einkaufszentrum gewesen und zu zweit im Fahrstuhl stecken geblieben. In dieser Situation hatten wir uns zwangsläufig unterhalten, irgendwann angefangen zu lachen und aus der eigentlich blöden Situation war erstaunlicherweise ein echt lustiger Nachmittag geworden. Nachdem wir nach etwa zwei Stunden aus dem Fahrstuhl befreit worden waren, waren wir uns am nächsten Tag zufällig wieder über den Weg gelaufen und waren zusammen einen Kaffee trinken gewesen. Wir hatten uns einfach super verstanden und auch heute noch, fast vier Jahre später, waren wir die besten Freunde.

      „Hey Großer“, gab ich grinsend zurück.

      Es waren schon einige Leute hier, die alle tanzten, tranken und sich amüsierten. Hier und da standen einige sich küssende und fummelnde Pärchen an der Wand gelehnt, man brüllte sich über die laute Musik hinweg an und die Luft war stickig und von dem Rauch von unzähligen Zigaretten erfüllt. Es war eine ganz normale typische Party bei Eric.

      „Komm, ich besorg dir was zu trinken“, rief Eric mir zu und wir bahnten uns einen Weg durch die feiernde Menge zur Küche. Während Eric mir aus dem großen Bierfass einen Becher zapfte, ließ ich meinen Blick erneut über die feiernde Menge schweifen. Allerdings sah ich sie gar nicht wirklich. Der mysteriöse Junge war wieder in meinem Kopf aufgetaucht und starrte mich aus seinen blauen Augen eindringlich an.

      Ich war so gedankenverloren, dass ich überhaupt nicht bemerkte, dass Eric mir einen Becher reichte. Erst als er lauthals meinen Namen brüllte, zuckte ich zusammen und wandte mich ihm zu.

      „Hier, dein Bier“, rief Eric und kicherte kurz über diesen wahnsinnig einfallsreichen Reim.