Jörg Nitzsche

Das Leben auf der anderen Seite


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Charles Dickens gelesen, er hat die sozial Schwächsten der viktorianischen Epoche in England trivial aber sehr einfühlsam dargestellt. „The Old Curiosity Shop - Der Antiquitätenladen“ war eines meiner liebsten Bücher. Ich kann hinschauen wohin ich will, hier finde ich genau die Kulisse für so einen Film.

      Die Luft ist dick, ich kann keine hundert Meter schauen. An den Mietshäusern sind die Fassaden so angegriffen, große Flächen vom Putz sind freigelegt, daß selbst die dahinterliegenden roten Backsteine sich lösen. Ich schaffe es über die Tucholskystraße bis zu Schönhauser Allee. Ich erblicke aber auch viele, teils wunderschöne Altbaufassaden. Verrenke mir fast den Hals beim Hochschauen dieser historischen Gemäuer. Völlig der Welt und der Zeit entrückt bin ich plötzlich in der berühmten Schönhauser Allee gelandet. Wie habe ich mich nur hier hin verirrt? Hier wirkt alles verschlafen. Was mögen sich für Lebensgeschichten hinter den grauen Fassaden dieser Altbauwohnungen abgespielt haben in den letzten Jahrzehnten? Einige Menschen leben hier vielleicht seit dem 2.Weltkrieg. Die letzten 40Jahre sind hier einfach vorüber gegangen. Ich kann mir vorstellen, daß hier 40 Jahre ein Dornröschenschlaf stattgefunden hat. Hier ist alles so geblieben, nichts hat sich verändert. Ob hier einer nach dem tieferen Sinn seines Leben gefragt hat, oder einfach nur sein Leben gelebt hat? Und dabei sind es genau so Menschen wie ich. Das ist Berliner Leben, wie es wohl ehrlicher nicht sein kann. Traumhafte Hinterhofmilieus in diesem alten Berlin meiner momentanen Zeitreise. Für Filme wie Tadelöser & Wolff könnte das Straßen- und Hinterhofmilieu hier hergehalten haben. U-Bahn steht für Untergrundbahn, die fährt hier aber oben während die S-Bahn unter der Straße entlang donnert. Hier geht wohl alles drunter und drüber. Aber das kenne ich ja auch von den Landungsbrücken in Hamburg nicht anders. Die Schönhauser mieft noch richtig den alten Charme, den ich einfach liebe. Früher konnte man hier wohl „schön hausen“, zumal eine Allee ja auch immer etwas hochwertigere Wohnkultur assoziiert. Es ist aber laut und schmutzig. Mehr oder weniger vom Ruß und Qualm der 2-Takter verdreckt. Ich schweife mit meinen Gedanken zu dem stimmungsvollen alten Berliner Milieu Otto Nagels, einer Sehnsucht nach dem bunten, aber bitterarmen Volksleben dieser Zeit. Wechselnde Anstriche, abbröckelnder Putz, alte Leuchtschriften und Plakate bepflastern das urige Szenario. Hausflure, die ich betrete, erforsche ich wie bei einer Höhlenwanderung. Auf jeder Etage ein Gemeinschaftsklo, also immer der Nase nach. Düstere Mietskasernen, so wirkt es von außen. Innen sind es vielleicht wunderschöne, große Kaufmannswohnungen mit hohen Stuckdecken. Mein Gott, jetzt habe ich aber auch richtig Hunger bekommen. Ich genehmige mir eine Wurst aus einer Wurstbude. Das ist ein Fehler, mir wird plötzlich kotz-übel. Zusammen mit dem Gestank der Zweitakter scheint das eine unheilvolle Mischung zu ergeben. Jede Hofeinfahrt, jede offene Haustür nutze ich zur Flucht von der Straßenverschmutzung hoffe auf einigermaßen frische Luft in diesen Häuserfluchten und überbrücke so meine Übelkeitsphasen. Doch das reicht nicht, ich brauche dringend frische Luft. Zwei hübsche Blondinen frage ich nach Grünflächen. Bescheuerte Anmache, denken die bestimmt. "Hier gibts nur Beton", ist ihre knappe Antwort und lächeln mich dabei verschmitzt an. Neben all dem Beton gibt es glücklicherweise noch ein paar menschliche Wesen, denke ich. Ich schaue mich in Richtung Alex und Fernsehturm noch ein wenig nach Flächen abseits der Straßen um. Am liebsten würde ich hier noch länger verweilen. Aber meine Atmung versagt und mit meiner Übelkeit ist es auch nicht zum Besten bestellt. Möchte jetzt nicht unbedingt auf offener Straße Kotzen müssen. Endlich am Alex angekommen kann ich endlich wieder etwas tiefer durchatmen. Was soll ich zu der Berliner Luft sagen. Mir fällt sogleich nur dieses eine Lied dazu ein:

      „Das ist die Berliner Luft Luft Luft,?

       so mit ihrem holden Duft Duft Duft,

      wo nur selten was verpufft pufft pufft ...“

      Das muß noch zu Zeiten vor der Motorisierung geschrieben worden sein. Einen holden Duft stelle ich mir anders vor, als diesen Trabi-Gestank. Das spüre ich wohl als Hamburger ganz besonders. Bei uns treibt der Wind den blauen Dunst schnell von mir weg. Hier scheinen sie wirklich immun zu sein gegen diesen blauen Qualm. Hier am Alex bin erst mal weg von diesen Trabiwolken. Ich stand kurz vor einer Kotzattacke. Nun sitze ich hier und fühle mich gerade voll im Arsch. Und dann dieses Grau überall, davon wird mir gerade auch nicht besser. Schade, der Alex ist echt traurig anzuschauen. Hier ist Beton allgegenwärtig. Das MZG am Bahnhof Alexanderplatz heißt soviel wie Marathon-Zech-Garage und ist zum Abfüttern des Publikums gedacht. Danach ist mir aber jetzt nicht zumute. Zum Glück erhole mich doch recht schnell und weiter geht’s. Ohne Pause zieht es mich auf meiner Entdeckungstour weiter und zwar in Richtung des total neu renovierten Nikolaiviertels. Dabei komme ich auch an dem wirklich imposanten Backsteinrathaus vorbei, eine Klasse für sich. Das Nikolaiviertel sollte wohl ein bißchen auf Nostalgie getrimmt werden. Ist aber gefällig anzuschauen, das Nikolaiviertel am Nußbaum. Hier fließt auch wieder die Spree, die sich am Nikolaiviertel entlang schlängelt und hier so eine Trachtenoptik wie in Amsterdam vorgaukelt. Nein, das ist jetzt gemein, das sieht hier echt toll aus. Mittendrin die Nikolaikirche umringt von schönen Geschäften, Bars, Kneipen und Cafe's. Kleine schnuckelige Läden, das Nikolaicafe, Gewürzläden und andere. Eine alte Wasserpumpe steht da nicht nur zur Zierde. Gut 2 m hoch, sie funktioniert sogar. Das sieht wirklich toll aus, so etwas Schönes muß man auch bei uns erst einmal suchen. Gleichzeitig ist hier auch ein Wohnungsbaukomplex entstanden. Die Wohnungen dürften hier einen außergewöhnlichen Standard haben. Wer hier wohl wohnen durfte? In dieser privilegierten Wohngegend werden sicher auch nur Parteiangehörige wohnen. Paßt schon, das Regierungsviertel in der Kurstraße/Werderscher Markt ist ganz in der Nähe. Bin überwältigt von diesem Kontrastensemble. Wunderschön und liebevoll aufgebaut ist dieses Viertel. Die schönen Wohnhäuser sind nicht höher als drei Stockwerke. Über den Mühlendamm drüber lande ich an der Spree. Auch hinter der Spree ein wirklich ansprechendes Neubauviertel. Ostberlin hat schon seinen ganz eigenen Reiz. Auch der Innenstadtbereich, wenn er auch komplett im Kontrast zu meinem bisher gesehenen steht. Hier an der Spree sind einige Grünanlagen und Ruhezonen, die zum Verweilen einladen. Hier steht auch die Parteihochschule. Ich setzte mich kurz auf eine Bank. Endlich mal frische Luft schnappen. Bin auch immer wieder von den künstlerisch gestalteten Plakaten beeindruckt. Vor allem darüber beeindruckt, wie scheinbar Banales zu Heldentaten hochstilisiert wird. Beim Hochhausbau wird von Taten, Leistungen und Erreichtem gesprochen. Die Worte Macht, Bauern und Arbeiter dürfen dabei natürlich nicht fehlen. So soll ja auch der Berliner Tierpark unter eindrucksvollstem Einsatz der Einwohner der Hauptstadt, vom nationalen Aufbauwerk aufgerufen und entstanden sein. Bis zu 1000 Aufbauhelfer an manchen Tagen gleichzeitig. Aufbauhelfer sind all diejenigen, die auf der Suche nach einer Wohnung sind und dafür freiwillige Arbeitsstunden, bzw. Aufbaustunden wie es im DDR-Jargon hieß, ableisten mußten. Ich spreche hier in Vergangenheitsform, weil ich keine Ahnung habe ob das immer noch passiert. Ich beobachte ältere Herrschaften, die mit ihrem Hund oder auch alleine spazieren gehen. In der Leipziger Straße in Berlin wohnt die Prominenz fällt mir ein. Habe ich mal gelesen. Mein Orientierungssinn soll mich wieder zur Mauer bringen. Viel zu kurz habe ich am Brandenburger Tor verweilt. Entlang der großen Leipziger Straße streife ich die Einkaufszentren ab. Gerade rast eine Polizeisirene an mir vorbei, ich meine natürlich ein Polizeiauto. Aber diese Polizeisirene hier in der DDR finde ich absolut cool. Dagegen hören sich unser Tatütata wie beschissen klingendes Playmobil an. Also das hier ist absolut nicht DDR-typisch. Ich hätte kaum vermutet solch modern gestylte Geschäfte hier zu sehen, schon gar nicht nach all dem was mir bisher heute so ins Auge stach. Ein wenig kreuz und quer streife ich so noch weiter, immer in die Richtung, die mich wieder zu den Linden führt. Ein gewaltiges Bau-Areal namens „Passage Friedrichsstraße“ erscheint plötzlich vor mir, hier wird eine Kaufhalle mit 60 Läden, 12 Gaststätten, 82 Wohnungen entstehen. Sollte früher ein Exquisit-Kaufhaus werden. So schlecht geht’s denen hier aber nicht, entfleucht es mir wieder mal scherzhaft. Hauptgebäude der Humboldt-Universität „Unter den Linden“. In diesem Haus lehrte schon Max Planck von 1889-1928. Zurück in der Friedrichsstraße stehe ich plötzlich vor einem Antiquitätengeschäft, welches wundervolle Porzellanskulpturen aus Meißen präsentiert. Ich konnte mich schon immer für Meißner Porzellan begeistern, und kann mich auch jetzt nicht sattsehen. Diese Barockfiguren mit diesen feinen Farbanstrichen müssen einfach begeistern. Für die Rock- und Armbereiche wird echter