Jörg Nitzsche

Das Leben auf der anderen Seite


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Fotogeschäfte, Spielzeugläden, Tabakläden. Eine ganz eigene Welt um mich herum, für die mir die Vorstellungskraft gefehlt hätte. Ich tippel einfach kreuz und quer die Straße entlang. Bin plötzlich beim Grenzübergang „Invalidenstraße“. Hier stehen sich zwei große Gebäude Aug in Aug gegenüber. Auf der Ostseite, was früher die Militärakademie war, dann das Justizministerium und jetzt das Krankenhaus ist. Eine zeitlang war das auch ein Diplomatenkrankenhaus. Oberste Justizbehörde nach dem Krieg. Hier haben die berühmten und spektakulären, politischen Schauprozesse in den 50er Jahren stattgefunden, und hier sind die ganzen absurden Grenzfluchturteile gefällt worden. Maßgeblich dafür verantwortlich war die als Rote Hilde bekannt gewordene damalige Justizministerin Hilde Benjamin unter Walter Ulbricht. Irgendwie beklemmend hier zu stehen und zu wissen, daß hier einer nach dem anderen zum Tode verurteilt wurde. Da ist der Grenzübergang Invalidenstraße für Pkw's. Der war schon immer da. Der Hamburger Bahnhof auf der Westseite ist erhalten geblieben. Als erster Kopfbahnhof Berlins, gebaut Mitte des 19.Jahrhunderts, ist diese Kathedrale der Eisenbahngeschichte eine echte Augenweide. Oben auf dem Kupferturm standen die Russen drin, weil sie wohl das sowjetische Denkmal in ??? sehen wollten, wie hier gerne gescherzt wurde. Die Invalidenstraße gehe ich wieder in östliche Richtung, weit kann es nicht mehr sein. Durch den kleinen Park soll ich gehen und da ist dann auch schon meine Straße. Scharnhorststraße? Kann ich nicht mal richtig zuhören, oder kann ich nicht berlinern? Mehrmals fragte ich Passanten nach der Schamhofstraße und jeder wußte welche Straße ich meinte. Witziges Ostberlin. In Hamburgs Innenstadt wüßte ich nicht mal den Namen einer Querstraße. Scharnhorststraße Nr. 5 soll es sein, und wie könnte es anders sein, ich bin natürlich genau am anderen Ende der Straße. Hier reiht sich ein Trabi hinter dem anderen wie eine Perlenkette am Straßenrand ein. Und eine Poliklinik neben der anderen. Viele kleine Betonburgen, die aber schon älter sind. Links von mir ist ein Friedhof. Ich schaue durch das Tor, schaue genau auf die Mauer, gerade mal 100 m von mir entfernt. Bin verwundert, daß hier die Mauer direkt am Friedhof entlang läuft. Ein alter Friedhof. Keine neuen Gräber kann ich entdecken, dafür Grabsteine aus dem 19. Jahrhundert. Eingebrochene Grabplatten. Der ganze Friedhof ist verwildert. Das hier ist also der Invalidenfriedhof. Während des Mauerbaus wurde ein Teil des Begräbnisfeldes speziell für die Wachtürme und Schießanlagen zerstört. Wahrscheinlich war der Friedhof gar nicht zugänglich all die Jahre. Er ist teilweise sogar von der Mauer getrennt worden. Doch selbst auf dem Gebiet des Todesstreifens finden sich alte Grabsteinreste. Ich kann bis zur Mauer gehen. Hinter dem Grenzstreifen fließt schon die Spree. Die Mauer ist hier nicht so gewaltig, ich kann aber einen Wachturm erspähen, von dem man sicher alles gut im Augenschein hat. Als ich auf dem Turm mitten auf dem Todesstreifen stehe sehe ich das ganze Ausmaß des Wahnsinns. Als ich mich auf die Wohnhäuser hinter meinem Rücken konzentriere beschleicht mich so eine perfide Vorstellung, nämlich direkt hier an der Grenze zu wohnen und rüber schauen zu können. Doch ich kann mich einfach nicht hinein fühlen in diese Situation, verdammt. Wie hat jemand in einer solchen Lebenssituation darüber gedacht. Wird man frustriert und depressiv? Wird einem alles egal? Oder muß man einfach nur vom System überzeugt sein. Unbeschreiblich, wie gewaltig das von hier oben ausschaut. Die hatten den totalen Überblick von hier oben gehabt. Komplett die Spree im Visier. Das soll hier also als kapitalistischer Schutzwall gegolten haben. Da die Spree als S-Schleife verläuft, steht der Turm fast parallel zum Reichstagsgebäude. Was für Geschichten stoßen hier aufeinander. Gegensätze, bisher von der Mauer all die Jahre schön getrennt gewesen, stoßen nun zwangsläufig brutal aufeinander. Auf der einen Seite alles harmonisch, gepflegt und sauber, hier ein Chaos, dem Zusammenbruch preisgegeben. Na ja, ich muß schon etwas differzieren. Der Stadtkern Ostberlins ist schon vorbildlich, aber gleich nach den ersten Metern in Seitenstraßen hinein zerfällt dieser gute Eindruck in’s komplette Gegenteil.

      Auf dem Todesstreifen steht eine Aufschrift:

      „Es ist so bequem, unmündig zu sein.

       Habe ich ein Buch, daß für mich Verstand hat,

       einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat,

       einen Arzt, der für mich Diät beurteilt,

       usw.

       so brauche ich mich ja nicht selber zu bemühen.

      Das ist ein Extrakt von Immanuel Kant - Text über Aufklärung (1724-1804): "...Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab. Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit ..."

      Man muß schon über den tieferen Sinn nachdenken, um sich vorstellen zu können was in dem Schreiber vorgegangen ist als er diesen Text an die Mauer schrieb. Ich gehe wieder zurück zu meiner Scharnhorststraße, und stehe direkt vor Haus-Nr. 6-7. Hier befindet sich die Deutsche Post mit ihrer Betriebsschule der Bezirksdirektion Berlin, die namentlich „N. D. Psurzew“ gewidmet ist. Warum auch immer sie den Namen dieses greisen Minister der damaligen UdSSR an diese Postdirektion vergaben, wenigstens ist Nikolaj Psurzew passender Weise Postminister (Minister des Post- und Fernmeldewesens) der Sowjetunion gewesen. Gut 30 Jahre lang, bis zu seinem 75.Lebensjahr hatte er den Posten inne, 5 Jahre später, 1980, ist er mit 80 Jahren gestorben. Warum schreibe ich das eigentlich. Vielleicht interessiert das einen ja wirklich – irgendwann mal. Ich komme nun an den Hauszeilen vorbei, die hier am Invalidenfriedhof anschließen. Und lese wieder so ein Schmarrn von Honecker:

       Alles für das Wohl des Menschen, das Glück des Volkes

       für die Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen

      Da sind die Häuser, die direkt zur Mauer stehen und sie sind tatsächlich bewohnt. Die müssen doch tatsächlich in den Westen schauen können. Was muß das für ein Gefühl gewesen sein, und wieder kommt dieses schaurige Gefühl in mir hoch, welches mich schon eben auf dem Turm überkam. Das ist schon beklemmend nur darüber nachzudenken. Aus dem Heckfenster eines Trabis winkt mir ein Kind zu, auf der anderen Straßenseite laufen zwei Frauen mit einer Vorschulkindergruppe. Die Kinder, denke ich, werden aufwachsen wie wir. Von der DDR werden sie später nichts mehr erzählen können. Ein schöner Anblick, ich erinnere mich noch, wie ich damals in Hamburg-Osdorf in die Grundschule ging. Wir machten auch eine Menge Ausflüge, zum Beispiel in die Harburger Berge oder in die Haseldorfer Marsch. Das waren noch so unbekümmerte Zeiten. Wie schwierig wird doch alles im Alter. Während ich so in Gedanken bin, nehme ich aber trotzdem dieses grau in grau um mich herum wahr. Kinder, die hier auf gewachsen sind kennen nichts anderes. Die mattfarbenen Trabis und die bunten Kinderjacken bringen einen unbedeutenden Kontrast in dieses Alltagsbild. Ah, ich erreiche die Nr. 5. Häh, eine Wäscherei, eigenartig. Da sind ein paar Baracken. Da soll sie wohnen? Ich stehe vor ihrer Toreinfahrt. Mir grummelt der Magen, nicht vor Hunger sondern vor Aufregung. Ich werde die Männer da mal fragen, die gerade von ihrer Pause aufbrechen wollen. Wieso schauen die mich mit so einem verbissenen Gesicht an? Lachen ist nicht. Auf meine Frage kommt prompt berlinerisch "hier wohnt keener". Kopfschütteln als zusätzliche Aussage schlurfen sie retour zu ihrer Arbeit. Kann nicht wahr sein, denke