Jörg Nitzsche

Das Leben auf der anderen Seite


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passieren gelegentlich Befestigungsanlagen, die direkt an der Straße entlang führen. Wir sind noch im Sperrgebiet. AIIgegenwärtig sind hier die schlechten Straßenverhältnisse und die Farbe grau. Hier täuscht das Regenwasser über die Tiefe so mancher Schlaglöcher hinweg. Dazu dieses atmosphärisch ideal passende kalte Schmuddelwetter. Um sich die DDR vorzustellen einfach die perfekte Stimmung. Alles wirkt nur noch karger, meine Vorstellung vom Leben der Menschen hier wird in allem bestätigt. Meine beiden Anhalter sind ausgesprochen nett, so kenne ich sie mittlerweile, die Ossis. Ihr Unterhaltungston mir gegenüber ist leicht untertänig, ich muß ihnen deshalb auch alles aus der Nase ziehen, wie man so schön sagt. Zwei Jugendliche, die sich auf das Abenteuer Hamburg eingelassen haben. Ich frage sie über Steinmetze und Schmieden aus, weil ich mir gerade so ein HiFi-Rack gezeichnet habe. Aber das Thema ist bei der Materialfrage beendet. "Hier gibt's ja nichts", sagt mir Bernd. Stimmt, den Satz kenne ich von irgendwoher. Wir durchfahren kleine, unscheinbare Dörfer. Früher konnte man hier die Autos zählen, die in einem Monat durchfuhren, heute bewegen die Dorfbewohner ihre Köpfe wie auf einem Tennisplatz. Die Mülldeponie Schönberg soll hier rechts abgehen, der Geruch beweist es. Mein Gott, denke ich, hier ist das also wovon so oft berichtet wurde. Hier wurde wie überall über den Köpfen der Bevölkerung hinweg Entscheidungen getroffen. Keiner käme hier auf den Gedanken über Umweltverschmutzung zu klagen oder zu protestieren. Mit vollem Wissen darüber stimmen mir die beiden zu. Viele wußten über vieles bescheid, duldeten es schweigend, hatten aber Augen, Ohren und Mund verschlossen gehalten, haben sich so mit vielem abgefunden. Ich muß gerade daran denken, daß auch unsere Gesellschaft an vielen solcher Art Problemen einfach vorbeirauscht. Wir Westdeutschen sind so gesättigt und hier ist man um jede Erneuerung, um jedes Ereignis dankbar. Ich weiß, typische Phrasen die mir passender oder unpassender Weise gerade einfallen. Und trotzdem hämmern die sich permanent in mein Hirn bei diesem trostlosen Anblick links und rechts. Während dieses Grau an uns vorbei rauscht wird mir plötzlich bewußt was ich doch alles habe um eigentlich glücklich sein zu können. Wieviel muß ich noch haben? Muß da an „Haben oder Sein“ von Erich Fromm denken. Gutes Buch. Und meine Freunde im Fond glauben noch an diese Verheißung zu der sie vielleicht als neues deutsches Wirtschaftswunder beitragen. Die Fahrt ist unsäglich, will kein Ende nehmen. Recht dunkel ist es geworden, ich ahne schon, daß ich wohl nicht mehr allzu viel von Wismar haben werde. Zu beiden Seiten eine Baumreihe wie in einer Allee, ich beachte sie kaum. Ich sehe nur alte Häuser, verwahrlost, dreckige Betriebshallen mit verrosteten Schrottteilen, unordentlich über das Betriebsgelände verteilt, eingefallene Dächer, kleine graue Dörfer, wo mal ein menschlicher Schatten vorbeihuscht, den ich mit meinem Scheinwerfer einfange, um ihn gleich wieder zu verlieren. Es riecht falsch, überall hier. Es hieß immer, man könne sofort riechen, daß man in der DDR sei. Eine ungemütliche Stimmung ergreift mich, macht aber auch neugierig auf mehr. Endlich in Wismar angekommen begrüßen uns die typischen Mietskasernen. Die Kinder auf den verkrüppelten Gehwegen schauen uns mit Gesichtern an als kommen sie gerade aus einem Kohleschacht. Ernst und abgeklärt verfolgen ihre Blicke uns, bis auch wir sie im kalten, grauen Nebel verlieren. Gleich das zweite Haus ist eine Schmiede," informiert mich Bernd, "da kannst Du mal fragen." Einen HiFi-Ständer für meine HiFi-Anlage geschmiedet bekommen, und so denke ich, fragen kostet nichts. Doch außer erstaunten Blicken und Sätze wie "Wahnsinn, früher wäre das alles nicht möglich gewesen", muß ich mich vertrösten lassen, denn der Papa ist nicht zu Hause. Ist nicht weiter wild, also weiter. An der ersten Kreuzung müssen wir links abbiegen, zu Bernd's Eltern. Wismar grüßt uns gleich zu Beginn mit seinen Einheitswohnbunkern. Eine interessante Entdeckung mache ich, nach rechts kann ich immer abbiegen, selbst bei Rot. Dieser grüne Pfeil, wie in Amerika. Eine sehr sinnvolle Einrichtung. Außerdem steht direkt auf der Kreuzung ein gläserner Turm, also mittig auf der Kreuzung. Na ja, vielleicht heißt das Ding ja auch Ampelturm, keine Ahnung. Und in dem steht doch tatsächlich ein VoPo auf gut 3m Höhe und regelt den Verkehr in dem er die Ampel entsprechend schaltet. Immerhin, er steht im Trockenen. Finde ich wohl nur deshalb so kurios, weil ich so etwas noch nie gesehen habe. Wie ich das finde? Interessant, oder doch komisch? Egal, das gibt Pluspunkte für die DDR, denn hier wird nach Bedarf geregelt. Wir fahren nun links ab zu den Wohnbunkern. Dort wohnen die beiden. Oh man, sieht die Gegend hier trostlos aus. Ob das bei schönem Wetter besser zu ertragen ist? Irgendwo lese ich auf einem Plakat was von Demokratischer Frauenbund. War wohl so was wie die FDJ, nur für Frauen. In der Rudolf-Breitscheid-Straße wohnt Rainer. Das 10-stöckige Wohnhaus, daß wie das „Empire State Building“ aussieht, erkennt man schon auf der Landstraße. Es mag ja idiotisch klingen, aber ich glaube fast, daß ich den Trabbigestank vermissen werde wenn es keine Trabbis mehr geben wird. Aber das wird sicherlich nicht so schnell passieren. Er gehört zur DDR wie ... na ja, egal.

      Seit Bestehen der DDR sind in Wismar mehr Wohnungen gebaut worden als in 7 Jahrhunderten zuvor. 42% aller Wohnbauten in der Stadt sind Neubauten und in denen lebt 45% der Bevölkerung. Erfahre ich alles von Bernd. Dieses Wohnviertel erblüht in grau, grauer gehts nimmer. Ich kneife die Augen zu, reibe mir die Augen, ich kann's nicht fassen, als wäre ich durch eine Filmleinwand gerauscht und stecke plötzlich in einem SW-Film. Grauer geht's beim besten Willen nicht mehr. Nicht einmal die blauen Trabbiwolken bilden hier noch einen Kontrast. Die Stimmung, wie in einem Agententhriller. Ich muß jetzt echt mal wissen, ob es bei Bernd in der Wohnung auch so grau aussieht. Also frage ich ihn, ob ich mit zu ihm kommen kann. Kein Problem für ihn. Auch sein Freund kommt noch mit hoch. Er wohnt noch bei seinen Eltern. Im Hochhaus stinkt es total muffig. Nach der ersten Tür ist noch mal eine Glastür, d.h. ein Vorraum. 30 Briefkästen hat es alleine in diesem Wohnbunker.

      Ganz oben haben wir eine fantastische Aussicht auf die Werft und auf die gesamte Stadt. Wismar hat viel grün, viele freie Plätze mit Schrottablagerungen. Und hier wohnt er auch. Wir begrüßen seine Eltern. Fußball läuft in der Glotze. Große Freude, daß die beiden heil aus Westdeutschland entlassen wurden und Erstaunen bei mir, wie toll die Wohnung eingerichtet ist. Wirklich geschmackvoll. Steht in keiner Weise hinter den Einrichtungen westdeutscher Wohnungen zurück. Ich schaue mich in alle Himmelsrichtungen um und in noch ein paar Ecken zusätzlich. Dreck ist hier nicht auszumachen. Ich bin ein willkommener Gast und auch das Gespräch mit den Eltern gerät nicht ins Stocken. Ob ich Kaffee haben möchte, ich bejahte. Er schmeckt miserabel, aber das liegt weniger an Mutter's Zubereitungskunst als vielmehr am Grundwasser, wie ich dann auch von der Mutter erfahre. Hat irgendwas mit dem Kali-Exportumschlag im Wismarer Hafen zu tun, eine Spezialität des Wismarer Hafens. Keine Ahnung was sie damit meinte. Der Kaffee selbst schmeckte nämlich, das konnte ich eigenartigerweise herausschmecken. Peinlich, ich konnte es mal wieder nicht für mich behalten. Aber die Eltern reagieren ganz natürlich, und so wird keine Affäre daraus. Ich fühle mich hier recht wohl, so lange ich nicht aus dem Fenster schaue. Ich muß direkt schmunzeln als ich plötzlich diese 3-Affen-Figur in ihrem Wohnzimmerschrank entdecke. Drei Affen, die nichts hören, nichts sehen und nichts sagen. Echt kurios und amüsant zugleich. Sinnbildlich heißt es wohl, wenn du in Frieden leben willst, dann machst du es genau so. Und vielleicht ist es sogar sinnbildlich für den DDR-Bürger geworden, diese Scheuklappenmentalität – bloß nichts hören und sehen und wissen. Eingesperrt wie Affen sind sie ja ebenfalls gewesen. Ich überlege noch ober ich mehr über meine kleine Gedankenreise lachen muß als über die Figur selbst, als ich auch schon die vielen kleinen Meißner Figuren und Schalen im Schrank. Für diese Porzellankunststücke konnte ich mich schon immer sehr begeistern. Bernd will mir noch etwas von Wismar zeigen. Schon verdammt dunkel draußen, aber die Stimmung wird dadurch auch immer gruseliger und reizvoller. Als wir wieder auf der Straße sind entläßt ein Bus gerade ein paar Schatten, dunkle Umrisse wie sandgestrahlt, die Tiefe einzelner Objekte ist nicht mehr auszumachen, die Dimensionen gehen verloren, die Schatten verschwinden mit einem Mal, ihre Bewegungen wie bei einem länger belichteten Bild. Dieser ganze Nebel ist nicht naturgegeben sondern ist eine Mischung aus Abgasen und den Kohleheizungen. Alle heizen hier wohl noch mit Kohle und die Rauchfahnen sind auch nicht zu übersehen. Seinen Freund wollen wir um die Ecke bringen, natürlich nicht sinngemäß. Also steigen wir wieder in meinen roten Flitzer. Ist aber eine lange Ecke, die wir da fahren müssen. Dabei brettere so blöde in ein Straßenloch, daß das Kupplungsgestänge von irgendeinem Teil bedrängt wird, nun klappert es recht merkwürdig und ich kann nicht mehr richtig schalten. Ich bekomm schon Panik. Ich wollte eigentlich heute noch zu Hause ankommen. So ein Scheiß. Aber noch geht es. Ich versuche meine Panik zu verdrängen, was mir bei diesen neuartigen Eindrücken in Wismar auch nicht schwerfällt.