Jörg Nitzsche

Das Leben auf der anderen Seite


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Gastmahl des Meeres. Nach einigem Überlegen schildert sie mir sehr ausführlich den Weg obwohl es eigentlich nur geradeaus geht. Auf dem kleinen Stadtplan zeichnet sie mir ein Kreuz ein. Ich bedanke mich freundlich, sie ist wirklich sehr aufmerksam gewesen. Ich drehe mich wieder in alle Himmelsrichtungen. Es sieht anders aus als in Wismar, viel moderner. Viele Bestimmungen sind noch geblieben, Ostmark zum Beispiel darf nicht eingeführt werden. Zuerst müßte man sie ja mal ausgeführt haben um sie wieder einführen zu können muß ich gerade schmunzeln. Auch die Britische Botschaft ist vertreten. Wo die Konsulatsmitarbeiter wohl gewohnt haben, und wie haben die über das Leben in der DDR gedacht? Die Lindenallee gefällt mir gut. Sie ist schön breit. Ich mag dieses Großflächige und die Weite sehr gerne, und es ist auch alles sehr sauber. Hier stören direkt mal die Trabis im Stadtbild. Zu Ostberlin passen die Autos einfach nicht so richtig in Stadtbild, denn Ostberlin ist eine Weltstadt, zumindest im Kern. Dummerweise ist es heute sehr schwül und die Luft nicht anders als in Wismar, eher noch schlimmer. Es fällt mir schwer zu atmen. Drüben auf der anderen Straßenseite biegt ein Trabifahrer in die Charlottenstraße ab und zieht eine riesige blaue Wolke hinter sich her. Ich kann es gerade noch rechtzeitig fotografieren. Fahren doch schon viele Westautos hier rum. Komische Feststellung, ist ja irgendwie auch verständlich. Was ist an den Ostberlinern anders, versuche ich zu beobachten. Aber hier sind zu viele Touristen. Im Stadtkern finde ich auch nichts Uriges. Später werde ich ja noch mal auf Abwegen lustwandeln. Schönes Wort, gefällt mir. Paßt direkt zu dem was ich gerade mache, bzw. empfinde. Lust zum wandern. Eine Kunstgalerie mit interessanten Projekten. Preise gehen hier in die Tausende. Ok. Ost-Mark, aber trotzdem unerschwinglich für mich. Bei meinem Glück wird Petra nicht aufzufinden sein, nicht mehr dort arbeiten, oder sie wohnt weit, weit draußen. Ich frage noch einen Vopo. Auch er erklärt mir sehr freundlich den Weg. Ist der auch früher so freundlich gewesen? Es ist nicht weit vom Alex. Der Palast der Republik mit seiner goldfarbenen Fensterfront kommt in Sicht. Ein Schandfleck, ich weiß nicht, ob ich den Kasten nun gut finden soll oder nicht. Er paßt nicht unbedingt in seine historische Nachbarschaft. Gegenüber führt ein großer Platz zur Museumsinsel. Wer von weit her kommt, der fragt zuerst nach der Sehenswürdigkeit Nr.1 in Berlin: Dem Pergamon-Altar. Und der liegt ausgerechnet in Ost-Berlin. Zur Zeit dürfte aber noch die Mauer dieses Prädikat für sich in Anspruch nehmen dürfen, die Sehenswürdigkeit Nr. 1 zu sein. Einen Museumsbesuch habe ich heute nicht vorgesehen. Ich schaue mir statt dessen die Museumsinsel von außen an und bin auch so schon beeindruckt. Es wirkt alles sehr weltoffen, und dazu kommt diese unwiderstehliche Atmosphäre des alten Berlins. Majestätisch steht der barocke Dom gegenüber. Ich bin erschlagen von diesen wunderschönen ziselierten Figuren. Dieser ganze großprotzige Eindruck ist nicht DDR-typisch. Die Mahnwache - erinnert mich ein bißchen an London. Wirkt hier etwas uncool, erinnert nämlich irgendwie auch an die NS-Zeit. Meinen Argusaugen soll nichts entgehen, nehme ich mir vor. Jede neue Entdeckung, jede neue Begebenheit wird von mir in Augenschein genommen. Ich kann einfach nicht genug einfangen. Schon lange nicht mehr sind meine Sinne so überreizt gewesen. Überall habe ich meine Augen, denn alles ist neu für mich. Ostberliner würden jetzt bestimmt denken, aus welchem Loch ist der denn gegrabbelt? Echt verrückt, so unbekümmert kann man heute hier entlang spazieren. Wer hätte das noch vor einem halben Jahr gedacht. Dieser Satz wirkt auch schon etwas ausgelutscht. Aber trotzdem kommt mir der immer wieder mal. Da ist das berühmte Palasthotel, und hier soll doch das Gastmahl auch irgendwo sein. Ist wieder typisch, selbst das Hotel sieht nicht wie ein Hotel aus, steht nur Hotel drauf. Und dieses Meeresdingsda übersehe ich dementsprechend genauso. Ich frage also noch einmal, und dabei stehe ich direkt davor. Sieht nach nichts aus von außen. So'n komisches Wandmuster aus handflächengroßen und verschiedenfarbigen Glasmosaiken, die den Berufszweig Fischerei mit Seegetieren und Schiffen darzustellen versuchen. Kurios auch die Marienkirche nebenan. Eine alte Kirche zwischen all diesen Neubauten. Ich habe das Restaurant recht früh erreicht, es ist gerade kurz vor zehn. Doch erst ab elf Uhr ist hier Einlaß. Hmmm, na gut, ich bummel also noch ein bißchen rum und stelle mir vor, wie ich plötzlich vor Cathrin stehe. Doll war's ja nicht mit uns in Bulgarien. Komische Nudel dachte ich damals. Ich hatte nicht den besten Eindruck von ihr. Kettenraucherin sowieso. Was heißt hier sowieso, Redewendung eben. Ich stehe nicht so auf Zwangraucherinnen. Undankbar war sie auch, na ja, waren sie alle irgendwie, genau wie die Leipzigerinnen. Alles so selbstverständlich in Anspruch genommen, aber von ihnen kam nichts. Bahnhof Alexanderplatz, und meine Erinnerungen schweifen zu dem Film „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin, mit einem fantastischen Günter Lamprecht in der Hauptrolle. Von Lamprecht habe ich mal ein tolles Foto gemacht, welches er mir später auch signiert hat. Komisch, da haben die einen Film über Berlin gedreht, welches sich zu diesem Zeitpunkt im Ostsektor befand. Klar, das Buch ist über sechzig Jahre alt. Der Alex macht heute nicht wirklich viel her. Die vielen jungen Leute sind hier echt im 70er-Jahre-Stil hängen geblieben. Doch der Platz wirkt trotzdem wie ausradiert, eine einzige Betonoase. Ich versuche krampfhaft das alte Berlin hier unterzubringen. Der alte Bahnhof steht noch wie eine Urgewalt. Als erste deutsche Stadt erhielt Berlin 1902 eine U-Bahn. Zwanzig Pfennige für eine Fahrkarte, genausoviel wie die Benutzung der Toiletten. Verrückte Welt. Der Fernsehturm ist zwar schön hoch, aber die Menschenschlange davor? Schlangen gehe ich immer gerne aus dem Weg. Muß diesen gleistlosen Schwachsinn einfach los werden weil er mir einfach so einfällt: Echte Schlangen finde ich faszinierend, könnte mich stundenlang mit diesen possierlichen Tierchen beschäftigen. Ich versuche mir permanent vorzustellen, wie es wohl gewesen ist, hier zu leben. Hier in Ost-Berlin wird schon einiges mehr geboten. Hat sich hier seit dem Mauerfall überhaupt etwas verändert? Liefen hier vielleicht schon vor dem Mauerfall so viele Touris herum? Alles geht weiter seinen Trott. So allmählich könnte ich mal 'ne Biege zurück zum „Mahl des Meeres“ machen. Ach nee, „Gastmahl des Meeres“ natürlich. Manchmal sinne ich aus langer Weile über neue Wortschöpfungen. Auf einer Ente las ich mal "I fly Bleifrei". So ein Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch hört sich dann auf einmal wie chinesisch an: "Ei flei bleiflei". Endlich ist dieses Mistding auf. Wieder so eine blöde Schlange davor. In einem langen Flur stehen sie alle. Ich wollte vielleicht sogar etwas essen, aber nee danke. Das ist nun schön blöd. Ich muß irgendwie in's Restaurant ohne da jetzt anzustehen. Das ist schon echt uri hier, die haben hier wie im Theater so ne Garderobenabteilung mit Empfangsdame. Diese Kleiderdame werde ich mal fragen. Ich zeige ihr das Foto, vorsichtshalber in der Mitte geknickt, und sie tönt gleich, "... das ist die Petra ...", Petra wer?, habe ich nicht verstanden. Ich bin begeistert, kann ja nur noch besser werden. Den Oberkellner soll ich fragen. Die Schlange schaut schon, aber ich bleibe cool, das muß ich nun durchziehen. Der Oberkellner: "Petra ist im Urlaub." Scheiße, denke ich. Adresse? „Ist gerade umgezogen“. So ein Mist, nun ist mir alles egal, ich muß es wissen. Eigentlich geht es ruhig zu im Laden trotzdem wirken alle gestreßt. Viele Worte braucht man über diesen Schuppen nicht zu verlieren. Es wirkt optisch nicht wirklich einladend, mehr wie so eine schlichte Firmenkantine. Und von diesen Fischläden soll es in jeder größeren Stadt eines geben, na ja. Das Plazieren in Lokalen besteht darin, daß nach 20minütigem Warten eine Person erscheint, die einen wie einen Bittsteller oder einen hergelaufenen Penner gründlich von oben bis unten mustert. Dieses gastronomische Affentheater muß man auch über sich ergehen lassen wenn man der einzige Gast im Restaurant ist. Aber womöglich ist das Essen hier was Besonderes. Werde ich leider nicht in Erfahrung bringen. Jedenfalls habe ich keine große Lust auf Schlangestehen während draußen so viel zu erleben ist. Eine Freundin von ihr, eine herbeigerufene Kellnerin, weiß weiter. Sie will jemanden fragen. Etwas dusselig stehe ich da nun im Türrahmen mit diesem blöden Foto von der nackten Petra in der Hand. Im Ganzen konnte ich keinem das Foto zeigen. Die Freundin kommt zurückgeschossen, wirft mir den Straßennamen zu. Schamhofstraße Nr. 5 also. Ich stecke ihr schnell das Foto zu, versehen mit einigen paar Worten und meiner Adresse hinten drauf. Vielleicht verpasse ich Petra ja. "Steck bloß schnell weg", sage ich noch mit einem Schmunzeln und bedanke mich. Puh, endlich raus hier. Wie aber zur Schamhofstraße kommen? Schnell noch mal rein und die Kleiderdame fragen. Buslinie 57 geht zur Schamhofstraße habe ich verstanden. Super, also komme ich auch noch mal dazu mit einem echten Ostberliner-Bus zu fahren. Auch nur zwanzig Pfennige. Hatte ich nicht, macht nichts. Auch Schwarzfahren muß ich mal erleben. Meine Buslinie ist also die 57. Bis Endstation soll ich fahren, hoffentlich habe ich die richtige Richtung erwischt. Petra Nass habe ich verstanden. Ein Depp, den ich frage, läßt mich zwei Stationen zu früh aussteigen. Jetzt hänge ich in der Chausseestraße. Egal, ich sehe das alte Berlin, und das entschädigt schon ein bißchen.