Jörg Nitzsche

Das Leben auf der anderen Seite


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daneben sind allerdings einige Wohnblocks. Im Anschluß darauf diese schon genannte Ausbildungsstätte der Post. Alles hier ist ein total heruntergekommenes Wohnviertel. Altbau mit Toreinfahrt, d.h., die Toreinfahrt ist ein Durchbruch. Darüber sind ebenfalls Wohnungen. Auch an der Straße sind Eingänge, Namensschilder sind kaum zu entziffern, den Namen Nass kann ich jedenfalls nicht erlesen. Hoffentlich habe ich den Namen wenigstens korrekt verstanden. Vorsichtig taste ich mich durch die winzige Toreinfahrt in das Wohn-Paradies, als könnte mir etwas auf den Schädel krachen. Sieht ja wüst hier aus, ein Modellbahnfreund

      würde Freudentänze aufführen bei diesem Anblick, Arbeiterquartiere der 50er Jahre lassen grüßen. Mein Gott, das ist ja kaum zu fassen, wie die Zeit hier stehen geblieben ist. Ich bin im ersten Hof, der zu drei Seiten mit fünfstöckigem Altbau zugebaut ist. Zur Wäscherei steht eine mannshohe Mauer. Beeindruckt von meiner neuen Umgebung, vergesse ich für einen Momente mein eigentliches Vorhaben. Abgedreht, ich bin hier in einem DDR Freilichtmuseum. In den sechziger Jahren haben wir im Alten Teichweg gewohnt. Erinnert mich auch hier ein bißchen an die Arbeiterwohnungen in Barmbek. Alles ist hier mit einer Patina überzogen, die Briefkästen, die Klingelknöpfe, Schrott aus Metall liegt überall verteilt herum. Wohnt hier vielleicht tatsächlich keiner mehr? Und sie soll ja angeblich gerade hier her gezogen sein. In diese abbruchreifen Häuser? Aber würde sonst hier frisch gewaschene Wäsche im Staub hängen? Wohl nicht. Die Stufen zu den verschiedenen Hauseingängen sind in sich zusammengefallen, entweder nach vorne, nach hinten, oder sie sind seitlich abgesenkt. 1969 bin ich mal mit meiner Oma nach Leipzig gefahren. In dem Haus, in dem wir wohnten, gab es im ganzen Haus nur ein Klo. Ob das hier genauso ist? Hier ist doch seit Jahrzehnten nichts verändert worden, über die Jahre hinweg alles verwittert. Alte Hausschilder versuchen sich durchs Tageslicht zu brechen. An den Fensterrahmen das blanke Holz, hier und da noch etwas Farbkruste. Keine geputzte Scheibe, die ich auf Anhieb entdecke, dafür hängt aber überall Wäsche aus den Fenstern. Hier wohnen wirklich Menschen. Alles wirkt hier wie nach einem Bombenangriff, total unwirklich, hat aber auch seinen Reiz.

      Ich versuche mir vorzustellen wie es wohl ist hier zu leben. Fünf Stockwerke geht’s hoch. Ebenfalls eingekesselt stehe ich nun im zweiten Hof und schaue ungläubig dem bißchen Tageslicht entgegen welches sich die Mühe macht der ganzen Szenerie einen heimeligen Touch einzuhauchen. Hier bin ich ein Fremder, ein Eindringling, alle bestaunen mich ungläubig. Geradezu ist ein Garagentor geöffnet. Die Garage ist in die Hauswand eingebaut, es geht da leicht abwärts hinein. Dort bastelt einer an seiner MZ, den werde ich mal fragen. Man, ich hätte auch ne Kuh auf der Weide fragen können, denn außer einem völlig beschränkten Blick erfahre ich nichts von ihm. Er winkt ab als würde er vor etwas resignieren. Die Leute wirken hier so, als habe man hier einen Bereich für Bekloppte eingerichtet. Schauen hier alle so behämmert?

      Vielleicht sind das die ganz normalen Menschen, die hier in Ostberlin ihr bescheidenes Dasein unbemerkt von der Öffentlichkeit meistern. In der DDR war der Tauschhandel fast lukrativer, denn für Geld gabs kaum etwas zu kaufen. Vielleicht hat der Typ gerade irgendetwas gegen Motorenteile getauscht und war nun völlig selig. Da muß doch so ein blöder Wessi auftauchen und ihn aus diesem Flash reißen. Ich erforsche meinen Weg weiter zu einem Hausflur wo kein Lichtquelle anzuknipsen ist. Trotzdem versuche ich die Namen auf den Briefkästen zu entziffern.

      Vergebens. In allen Innenhofeingängen dasselbe Trauerspiel, das Treppenhauslicht funktioniert nicht. Ich komme mir vor als mache ich etwas Verbotenes. Ich schaue jetzt einfach mal in jedes Treppenhaus hinein. Die Klingeln funktionieren scheinbar auch nicht, oder es ist keiner da. Ich kapituliere endgültig. Ich gehe zurück zur Straße schaue mich aber noch einmal um. Wäre ich in die andere Richtung, durch ein weiteres Durchfahrtstor durch gegangen, wäre ich zum Stadion der Weltjugend gekommen. Was für ein Name, "Stadion der Weltjugend“. Viel Stadion, aber wenig Welt. Ich hole tief Luft. Und wenn die Straße nun doch richtig ist, und sie wohnt hier irgendwo? Ich frage eine Verkäuferin, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Gemüsestand aufbaut. Was soll ich überhaupt fragen. "Nur da drüben sind normale Wohnhäuser", erzählt sie mir, da bin ich ja eben gewesen. Was mir in der kurzen Zeit in der DDR aufgefallen ist, die Einwohner kennen die ungewöhnlichsten Örtlichkeiten, man kann sie nach Straßennamen am Rande der Stadt fragen. Aber innerhalb einer Straße, oder eines Wohnblocks, weiß mit einem Mal keiner mehr etwas. Alles nur Zufall? Eine zufriedenstellende Antwort erhalte ich jedenfalls nicht. Noch einmal mache ich einen Schlenker in Richtung Toreinfahrt. Den ganzen Tag wollte ich mit der Suche nach Petra nicht verbringen. Ich bleibe etwas nachdenklich stehen und überlege. Noch mal versuchen? Ich gehe also noch einmal in den zweiten Innenhof, schaue noch einmal in den hintersten Eingang des Hofes und in das Dunkel des Treppenhauses. Eine junge Bewohnerin schließt gerade ihren Briefkasten auf. Meine letzte Tat, sage ich zu mir und frage sie ebenfalls nach Petra Nass. "Ja, die wohnt hier", und schaut mich nicht wie ein Gespenst an, sondern ist mir gleich sehr sympathisch. Tatsächlich, jetzt erst lese ich Petra Lass. Mir bleibt fast das Herz stehen, sie wohnt tatsächlich hier. Es ist nicht zu fassen. Welche Eingebung hat mich ausgerechnet noch mal zu diesem Eingang geführt. Eine Woche wohnt Petra erst hier, klar, daß sie hier keiner kennt. Außerdem ist sie gerade erst vor ein paar Minuten aus der Wohnung raus. Ich zieh mir gleich einen Scheitel, das kann doch einfach nicht wahr sein. Glück im Unglück. Ich sage etwas von neunzehn Uhr heute Abend. Sie will es ausrichten. In die Sauna will sie jetzt. Höre ich richtig, „in die Sauna?“ frage ich völlig überrascht. "Gibt es so was auch bei Euch?". Für diese diskriminierende Frage müßte man mich eigentlich schlagen. Sie bemerkt mein verdattertes Gesicht und muß lachen. Wir trennen uns auf der Straße. Sie also zur Sauna. Eigentlich schade, hätte jetzt mit Gesellschaft gut leben können.

      Denen geht es hier wohl zu gut, sinniere ich mal wieder etwas überheblich. Ich wundere mich beinahe über mich selbst, daß ich eine Sauna in der DDR nicht für möglich gehalten habe. Wie da wohl die Stasi abgehört und beobachtet hat? Die scheinen hier echt einen 7. Sinn für Namensverwechslungen zu haben, fällt mir gerade Petras Mitbewohnerin wieder ein. Ich frage nach Schamhoffstraße und jeder weiß bescheid, ich frage nach Petra Nass und ihre Nachbarin weiß auch sofort wen ich meine. Ich hau nochmals den Rückwärtsgang rein, vorsichtshalber mache ich noch einen Zettel an Petras Tür. Von der Scharnhorststraße zu Petras Hauseingang sind es zwei Unterführungen, denn sie wohnt am anderen Ende. Dort wo dann die 3. Toreinfahrt zu dem besagten Weltfußballstadion führt, oder was auch immer das da war. Petra wohnt im 3.Stock. An den Treppenhauswänden blättert die Farbe ab, und legt sich auf die knatschenden Holzstufen der Treppe, vermodert riecht es hier. Hier gibt scheinbar keine Aufteilungslisten, wer wann das Treppenhaus zu putzen hat. Ich bin im 3.Stock, Petras Klingel ist auch im Eimer. Werde ich heute Abend klopfen müssen. Die Nachricht muß sein, immerhin riskiere ich heute Abend noch einen Trip in diesen Uraltbunker. Beswingt bewege ich mich wieder der City zu. Alles, was mir vorhin bei meiner Busfahrt vorbeihuschte liegt jetzt vor mir und ich kann mit meinen erstaunten Augen alles in Richtung Innenstadt begutachten. Ich ertappe mich immer bei den gleichen Worten, kann meine Freude über dieses lebendige Schauspiel vor mir auf den Straßen kaum bändigen. Wie konnte sich das alles nur so erhalten? Ich schaue auf Bordsteinkanten, auf alles, nur um alles im Gedächtnis für die Ewigkeit einzufrieren. Viele kleine urige Buchläden, Tabakläden mit den wichtigsten, aber einfachen Utensilien, die ein Raucher benötigt. Elektroartikel in einem Schaufenster, alles wie in einem Diorama-Set einer Modelleisenbahn aus vergangenen Zeiten. Ein Fotoladen, Spielzeuge in einer Auslage, die seit 30 Jahren nie geändert wurde. Alles niedliche Geschäftchen. Ich bewege mich nicht zurück in die Zukunft, sondern vorwärts in die Vergangenheit. Würde das doch nie zu Ende gehen. Allerdings, dieses Treibstoffgemisch der Zweitakter macht mir doch ziemlich zu schaffen. Schon abgedreht, da träumt man zu Hause von der guten alten Zeit und hier erblüht