Jörg Nitzsche

Das Leben auf der anderen Seite


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zeigt mir während der Fahrt Stadtteile, die, ich werde diese Bilder nicht vergessen, mich an Ansichtskarten vor dem 2.Weltkrieg erinnern. Aus Schornsteinen qualmt es, überall liegt wahllos Müll rum. Backsteinbauten, über und über mit schwarzem Ruß bekleidet, verrosteter Abfall, alte LKW-Hänger gammeln vor sich hin. Die schwachen, rotscheinenden Straßenlaternen vermischen sich mit dem Nebel und geben der gespenstigen Szenerie eine dunkle Rostfarbe. Eine Arbeitersiedlung erscheint und verschwindet wieder, gelegentlich vereinzelte Schatten, die sich durch die Nebelwogen drängen die sich hinter ihnen wieder schließen und den Schatten dann ganz verschwinden läßt. Endlos scheinen die Giebel, und tausende Schornsteine zeichnen ein undurchdringliches Labyrinth. Das erinnert mich stark an die Bilder Hans Baluschek’s. Ich liebe seine atmosphärisch dichten Bilder, in denen ähnlich wie hier in Wismar die Menschen nur Schatten in einem industriellen Alptraum sind. Wie die hoch aufragenden Schornsteinen der Industrie ihren Smog in den dunkelgrauen Himmel pusten wo der sich mit dem Rauch der vielen Kohleöfen aus diesem Meer von Schornsteinen der Wohnhäuser verbündet, immer größer werdend, langsam erkaltet um dann wieder zu Boden zu sinken, und mittendrin durchstößt noch eine Dampflok diese Nebelszene und hinterläßt ihre ballonförmigen Dampfwölkchen. Wow, was für ein Satz. Die vielen Westautos stören in diesem Bild ein bißchen. Ich stelle mir einen Thriller vor, der im vernebelten London spielt und ich sitze gemütlich in meinem Sofa. Statt dessen werde ich von Schüttelfrost geplagt und kann mir direkt vorstellen in diesem Film mitzuspielen. Immer wieder habe ich die irrige Vorstellung, die Wende hat es nie gegeben und ich lebe hier. Die Westautos, ich weiß nicht warum, lassen mich aufatmen, fühle mich dadurch nicht ganz so verloren. Was benebelte mich nun mehr, der eigenartige Kaligeruch, oder der Kohlensmog, der in riesigen Wattebäuschen aus den Schornsteinen kriecht? Wir fahren auf einer Brücke über eine Eisenbahnanlage. Wieder muß ich unwillkürlich an diese überaus stimmungsvollen Baluschek-Bilder denken. Es sind Bilder, die das Arbeitermilieu Berlins zu Anfang dieses Jahrhunderts, immer mit Bezug auf die Eisenbahn, zeigen. Auch die vielen privaten Kohleöfen haben in seinen Bildern zu dieser Atmosphäre beigetragen, und machen hier zudem auf diesen speziellen Geruch aufmerksam, den ich noch von den Dampflokmotiven kenne. Ich mag diesen Kohlegeruch eigenartigerweise richtig gerne. Einzig diesen beschissenen Trabi-2-takter-Geruch kann ich überhaupt nicht ertragen. Bernd's Riechkolben scheint davon nicht mehr viel mitzubekommen. Für ihn sind das hier und heute die normalsten Begebenheiten. Nachdem wir meinen Fiesta abgestellt haben bewegen wir uns hautsächlich auf Pflastersteinen. In Wismar ist vieles so, wie ich es mir vorgestellt habe. Dieser alte Hansestadt-Flair ist noch in vielen Straßen der Altstadt zu spüren. Ab 1648 gehörte die Stadt zu Schweden, bis 1803. Ist jetzt aber nichts so Besonderes, Hamburg-Altona gehörte immerhin bis 1937 noch zu Dänemark. Also auch die Reeperbahn. Am Hafen trinken wir einen Grog. Schmeckt irgendwie auch beschissen, und ich bekomme nur noch mehr Schüttelfrost davon. Von Seefahrerromantik hat sich Wismars alter Hafen nur wenig bewahrt. Das Wassertor am Hafen von1450 ist als einziges von fünf einstigen Stadttoren erhalten. Wir reden plötzlich über Frauen. Muß man wohl unter Männern, ist so ein Naturgesetz. In diesem Punkt scheint der antifaschistische Schutzwall versagt zu haben. Er zeigt mir ein Foto von seiner Freundin. Sieht ganz süß aus. "Es gibt schon schöne Frauen hier, aber die Frauen bei euch kann man mit unseren gar nicht vergleichen" sagt er direkt bescheiden. Was'n das für'n Unsinn, kann ich mich gerade noch zurückhalten. "Eure Mädchen haben viel besseres Make up", bemerkt er, als müsse er sich für alle DDR-Frauen entschuldigen. Ich habe an diesem Tag, der jetzt um achtzehn Uhr zur Nacht wird, kaum Frauen gesehen. Dafür quält mich aber der Hunger um so intensiver. Ich habe mit Bernd 1:1 getauscht. Wie viel war das jetzt? Man hatte ja allgemein Mitleid mit den Ossis, und gutmütig wie wir Wessis nun mal sind, wollen wir die armen Ossis ja nicht noch spekulativ über den Tisch ziehen. Und immerhin kann ich so auch mal Essen gehen. Oder nehmen die auch D-Mark? Wir schlängeln uns durch den alten Stadtkern. Erst der Altstadtkern lockert diese Trostlosigkeit etwas auf. Meine Eindrücke sind etwas zwiegespalten. Eigentlich ein ziemlich trostloses Pflaster von Einkaufsstraßen, andererseits sind diese Auslagen in den Schaufenstern auch faszinierend gruselig. Ich komme mir vor wie in einem Freilichtmuseum, wohl seit dem Krieg sind die Auslagen unverändert. Die Produkte können keinen Westeuropäer ernsthaft hervorlocken. Die Krönung sind die Uhren- und Schmuckgeschäfte. Ich kann es mir nicht verkneifen, in die Schaufenster zu blicken, jeder Dokumentarfilm verblaßt dagegen. Jeder sollte es gesehen haben, wie soll man das sonst je jemandem vermitteln. Trotz meiner interessierten Blicke in diese Altstadtromantik, an diesem erbärmlichen Mief hat sich nichts geändert. Er durchzieht jede Gasse, jede noch so kleine Nische, tief Durchatmen ist eine Qual. Unsere Schritte verhallen schnell in dieser nebligen Suppe. Alles wird vom Smog aufgesogen. Wir kommen zur St. Nikolai, einem gigantischen Backsteingotik-Monument. Von den drei gotischen Kirchen der Innenstadt ist nur St. Nikolai der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg entgangen. Um 1370 begonnen und zu Beginn des 16. Jahrhunderts vollendet. 36m erhebt sich das wuchtige Mittelschiff von St. Nikolai über die Häuser. Ich schaue mir die Sturmschäden der Kirche an die Bernd mir zeigt. Habe ich in der Zeitung davon gelesen. Ist ganz schön was herunter gekommen und hat einige Wohnhäuser mit abgedeckt. Soll aber nur Verletzte gegeben haben. Der Kirchturm ist aus schlichten Backsteinen aufgebaut. Feingliedrige Rosetten, zierliche Spitzbogenportale aus schweren Ziegelsteinen sehr filigran geformt. Das Bier, daß hier während der Blüte der Hanse gebraut wurde, war sehr gefragt und brachte der Stadt erheblichen Wohlstand ein. "Brauhaus der Hanse" wurde Wismar daher früher auch genannt. Bis zu 180 Bierbrauer produzierten im Mittelalter das begehrte Produkt. Die Bürger der Hansestadt schufen damit Reichtum, den viele prachtvolle Bürgerhäuser noch heute demonstrieren. Die wunderschönen alten Häuser in der Krämerstraße sind wirklich sehenswert. Auch die Marienkirche zeigt Bernd mir. Da, wo früher das Kirchenschiff stand, ist heute ein Parkplatz. Was ist denn ein Archidiakonat? Ah ja, eine kirchliche Verwaltungseinheit. Ist durch Bomber 1945 zerstört worden und 1960 wieder aufgebaut. Ein gotisches Kleinod, bereits 1450 als Wohnhaus aus schwarzen und roten Backsteinen erbaut. Woher ich das weiß? Da hängt so eine massive Steinplakette mit diesem Inhalt. Solche alten Gemäuer kann ich mir stundenlang angucken. Die „Backsteingotik" - hier ist sie zu Hause. Doch leider ist hier und heute viel davon vom Verfall bedroht oder schon ganz verschwunden. Wismar wurden im Krieg schwer zerstört. Zwischen der Marienkirche und St. Georgen, wo jetzt im Januar der Nordgiebel eingestürzt ist befindet sich die Untersuchungshaftanstalt. In den Gassen hängen noch viele alte Ladenschilder aus Holz, und auch so schöne alte Laternen. „Kringel, Semmel, Koken und Brood – Hier gifft dat gode Backwoor“ lese ich auf einem dieser wunderschönen gestalteten Ladenschilder. Hätte sich ruhig reimen können. Oder habe ich mir den Text falsch notiert? Überall hängt der Putz an den Hauswänden herunter. Trotzdem sind die Gassen niedlich, einige allerdings, oder besser leider, schon geteert. Aber es hat wirklich seinen Reiz diese altehrwürdige Hansestadt zu bestaunen. Angeblich soll seit dem Jahre 1967 ein Bereich Denkmalpflege existieren als nachgeordnete Einrichtung der Abteilung Kultur des Rates der Stadt, aber davon sieht man nicht viel. Also ich sehe davon nicht viel, und das ist vielleicht auch den aktuellen Witterungsverhältnissen geschuldet. Das Kreisgericht der Stadt residiert in einem schönen Hänsel und Gretels-Haus, schaut aus wie ein Lebkuchenhäuschen mit seiner verzierten Backsteinornamentik. Die Fenster 2m hoch und auch die Fensterrahmen aus verzierten Backsteinen. Das Stasigebäude steht direkt neben der Volkspolizei. Auffallend ist nur eine Mauer am hinteren Gebäudeteil. Sowie ein massives Metalltor und ein Rolltor ähnlich dem eines Büroschrankes. Ansonsten so unauffällig, daß ich glatt dran vorbei gegangen wäre. Nur die Volkspolizei hat einen großen Empfangsmast, das mit Kabeln zum Stasigebäude verbunden ist. Ebenfalls ein Backsteinbau. Ich bin begeistert was Bernd mir alles zeigt. Das hätte ich alleine niemals alles erleben können. Er gehört zu dem Ausnahmepersonenkreis, die auch ihre eigene Umgebung wirklich gut kennen. Endlich erreichen wir auch den Marktplatz. Der ist wirklich beeindruckend groß. Eine der vier Seiten nimmt das nicht gerade unscheinbare Rathaus ein. Zwischen 1817 und 1819 erbaut. Noch ein paar Jahrhunderte älter ist der „Alte Schwede“, eine Gaststätte. Das gotische Backsteingebäude mit dem stufenförmigen Pfeilergiebel wurde 1380 errichtet. Ich bestaune die wunderschöne spätgotische Fassade, die an die glorreiche Hansezeit erinnert. Aber vom Namen her eben auch an Schweden. Nur wenige Schritte vom „Alten Schweden" steht eine Augenweide, die im Stil der niederländischen Renaissance erbaute Wasserkunst. In den Jahren 1579 bis 1602 erbaut, versorgte dieses mittelalterliche Schöpf- und Pumpwerk noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die meisten Häuser hier in Wismar