Rainar Nitzsche

Ins All - Im Eins


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die die heute Lebenden und zukünftige Generationen lösen müssen.

      Ich aber bin doch tot, habe all das längst hinter mir gelassen, sollte man meinen. Doch so ist es ja nicht.

      Bin jetzt hier allein in der Stille.

      Das muss man erlebt haben: Valles Marineris, diesen Canyon aller Canyons. Hier hindurchschweben, -fliegen, -rasen und in die Tiefen tauchen, fällt mir ein. Welch ein Menschentraum!

      Ich tue es, erlebe es, ohne am Leben zu sein.

      Berauscht tauche ich schließlich wieder an der Oberfläche auf und fliege in der dünnen Marsatmosphäre nach Norden, der weißen Polkappe zu.

      „Schon bald wird hier Phoenix landen und das Wasser auf Leben analysieren“, flüstert die Stimme in mir.

      Schon von der Erde aus zu erkennen, hier aber so dicht unter mir einfach gigantisch und fantastisch, erstreckt sich die nur im Sommer ein wenig abschmelzende kilometerdicke Eisdecke über Tausend Kilometer rings um mich herum. Hier ist Eis, gefrorene Flüssigkeit, gefrorenes Kohlendioxid, aber auch Wasser, das einst über die Oberfläche in Flussbetten floss? War es so und wenn es so war, wann war das? Gibt es noch immer flüssiges Wasser in den Tiefen? Hatte der Mars einst eine Atmosphäre? Gab es hier Leben? Und wie sah es aus?

      Ja, ja, ja.

      Ach, einen weiteren kleinen Scherz nach meinen Steinzeichen auf der Mondin möchte ich mir doch noch erlauben. Dorthin, wo die Stürme sind, zieht es mich. Und sind sie nicht da, so entfache ich sie. Mit dem Sturm über die Weite treiben, Staub sein und eine Wolke umformen, sie wieder verlassen und hinaustreiben in die Schwärze, das tue ich - jetzt.

      Und wieder wie schon einmal sind viele auf Erden außer sich. „Da ist ja der Beweis von intelligentem Leben auf dem Mars“, jubeln und schreien sie, „das nun erwacht mit den Menschen kommuniziert.“ Denn die Sonden haben es aufgezeichnet und an die Erde übermittelt, ein Wort nur, nicht mehr, doch nicht die Menschenzeichen, die eine Kreuzspinne in ihr Netz spann, um ein kleines Schwein vor dem Schlachten zu retten, sondern ein einfaches „Hallo“ aus Menschengeist. Und die Naturwissenschaft spricht von Zufall. Und das Wolkenwort verweht. Kein Beweis ist geblieben. Kein Marsmensch hat es gebildet, wie wir alle wissen, und auch kein Lebewesen anderer Art, sondern ein Toter, nun ja, die Seele eines Toten, Manfred der Magier hat es getan und sich köstlich amüsiert.

      Jetzt schaue ich doch kurz noch bei den beiden Marsmonden vorbei. Ach, sie sind ja nur kleine, eingefangene, unregelmäßig geformte Felsbrocken - Planetoide. Und sie tragen die Namen der Pferde, die den Kampfwagen des Kiegsgottes Mars zogen: Furcht und Schrecken - Phobos und Deimos. Doch wo ist der Wagen, den sie ziehen? Und den Mars ziehen sie sicher nicht, auch wenn alles mit allem verbunden ist und sich hier und da und allüberall die Raumzeit krümmt.

      Phobos ist der äußere. Der sieht wie eine Kartoffel aus und trägt einen riesengroßen Krater. Ich sehe und verstehe: Ein einschlagende Meteorit erzeugte ihn und wandelte Phobos in einen Geröllhaufen um. Also könnten in ihm viele Höhlen verborgen sein.

      Ich bin in seinem Innern, schließe alle äußeren Sinne und sehe hier Raumschiffe landen und starten, denn Phobos’ Schwerkraft ist gering. Füße wirbeln die schwarze meterdicke Staub­schicht, zerpulverter Stein, beim Gehen auf. Für einen lebenden Menschen ohne Schutzanzug ist es abgesehen vom Fehlen der Atmosphäre hier ein wenig extrem. Die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht reichen von unter Null bis über 110°C. Das wäre ja schon wieder was für die Tourismusindustrie, denke ich gerade und sehe, höre und fühle auch schon den ganzen Trubel: Einmal den Roten Planeten sehen und sterben.

      „Irgendwann wird Phobos vom Mars auseinandergerissen werden und einen Marsring bilden oder aber auf den Mars stürzen“, flüstert mir die Stimme zu.

      Oder aber unsere Nachfahren halten ihn in der Zwischenzeit, 50 Millionen Jahre sind ja eine lange Zeit, davon ab, fällt mir ein. Das müsste doch wohl zu schaffen sein.

      Deimos hingegen wird in einer noch ferneren Zukunft dem Mars entfliehen, es sei denn, unsere Nachfahren haben mit ihm ganz etwas anderes vor.

      In nur 6000 Kilometer Entfernung sehe ich gelblich den gewaltigen Mars aufgehen. Dann erweitere ich meinen optischen Sinn über den Spektralbereich eines Menschenauges nach unten ins Infrarote und nach oben ins Ultraviolette, wechsle hin und her in den Spektren, schließe meine Augen und sehe ihn in mir, und meine Seele lacht.

       Nairras zweites Erwachen

      Irgendwann hörst du Stimmen, erst leise, wie von fern, dann immer lauter. Sie flüstern dir Worte zu, die du nicht verstehst, Worte in so vielen Sprachen, Worte aus so vielen Mündern und von Flügeln und Beinen schrillend erzeugt, ganz so, wie es auf Erden Heuschrecken und Grillen tun. Noch immer verstehst du nicht das Geringste in diesem babylonischen Sprachenwirrwarr.

      Hörst du dich ein oder ändern sich die Laute? So oder so muss es sein, denn allmählich weicht der chaotische Lärm einem einzigen harmonischen Klang, den alle Wesen nicht mehr dort draußen, sondern tief in dir singen. Und du beginnst zu verstehen, was sie dir sagen wollen: „Einige werden sich finden im Kreis. Alle werden wir wieder eins, werden „Wir“, wie einst einmal irgendwo irgendwann vor unserer Geburt zum Leben.“

      Nach dem Hören mit neuen Ohren gebärt deine Seele einen weiteren Sinn: Augen entstehen, die du öffnest, die du schließt, die du öffnest. Jetzt siehst du den leuchtenden Kreis in der Schwärze des Alls vor dir.

      Du erinnerst dich an deinen alten Körper auf Erden. Du erinnerst dich an deinen Namen, den dir irgendwer gab: Nairra. So hieß ich einst, so heiße ich in Ewigkeit, denkst du. Du erinnerst dich aber auch an einen anderen Namen: Moyo. Ja, auch diese war ich, ich bin auch sie, weiß und schwarz, schwarz und weiß vereint. Nicht so hell und nicht so dunkel war die Haut unserer fernen Vorfahren. Bräunlich ist mein Körper nun.

      Du erinnerst dich an den Kreis im Sand dereinst in einer von vielen Wüstenwelten. Immer klarer tritt er aus dem Flimmern heraus. Er nähert sich dir, du näherst dich ihm, wir kommen uns nah.

      Zugleich siehst du einen namenlosen Mann. Du weißt, dass Er es ist, Er Dort Oben. Dort irgendwo sieht dieser junge Mann auf einer Wand Dinge und Menschen sich bewegen.

      „Einen Film sah ich einst, der Highlander heißt“, flüstert Er dir zu.

      Jetzt schaut Er auf und weint. Denn in diesem „Film“ geht es um Altern und Tod, um eine Trennung: Einer bleibt zurück, der andere geht. Er blieb, sie ging. Wie dort, so auch hier, denkst du. Manfred lebte weiter, wie lange wohl noch, ob er noch immer lebt und an mich denkt? Ich ging.

      Du weinst.

       Jupiter

      Ich tauche aus meinen Träumen auf und schaue staunend mit Menschenaugen aus körperloser Seele diesen Riesen aus Gas mit seinen hellen und dunklen Bändern und dem Großen Roten Fleck. Da gibt es kein Halten mehr. Dort will ich hin!

      Also stürze ich mich durch die Ringe, deren Staub in 100 000 Jahren vom Jupiter aufgesaugt sein wird, rase auf den Gasplaneten zu, tauche in den Großen Roten Fleck ein.

      Haha, was heißt hier Fleck, welch rasender Tanz in wirbelnder Luft!

      Tiefer und tiefer dringe ich ein.

      Längst bin ich eins mit den Molekülen.

      Bin ich noch Gas, schon flüssig oder fest?

      „Jetzt bist du Metall, jetzt wirst du Stein, jetzt bist du flüssig, jetzt wieder Gas, und nun setze ich deine Seele wieder frei“, flüstert die Stimme in mir.

      Ich verlasse den Gasriesen. Was für eine Reise, den größten Planeten des Sonnensystems einmal körperlos/leibhaftig durchquert zu haben!

      Worte erklingen, während meine Seele in der Schwärze treibend träumt. Menschenworte sind es: „Adrastea, Aitne, Amalthea, Ananke, Autonoe, Callirrhoe, Carme, Chaldene, Elara, Erinome, Euanthe, Euporie, Europa, Eurydo­me, Ganymed, Harpalyke, Hermippe, Himalia, Io, Iocaste, Isonoe, Kale, Kallisto, Kalyke, Leda, Lysithea, Megaclite, Metis, Orthosie, Pasiphae,