dieser Aufgaben durchgeführt, doch heute sollte ich die Prozession der Abendriten anführen.
»Der Tempel ist heute Abend hell erleuchtet!«, flüsterte ich Iya zu. Das Licht von Fackeln in der Großen Halle tauchte das Allerheiligste in tiefe Dunkelheit. Der Vorhang war beiseite geschoben, und der Gott stand im Licht. Vor ihm sah ich einen Mann auf dem Boden knien. Der Hohepriester? In der Dunkelheit vor der Statue des Ptah konnte ich weder die Statur noch das Gesicht erkennen.
Mit welcher Konzentration die Priester die Sistren schlugen und die rituellen Schritte durchführten! Die Tempeldiener standen in einer geraden Reihe, wie mit dem Lineal gezogen. Sie bewegten sich wie eine Person. Noch nie hatte ich eine solche Aufregung hier im Tempel erlebt.
Im Halbdunkel erkannte ich Männer und Frauen, die keine Priesterkleidung trugen. Als ich an ihnen vorbeiging, sah ich Nefermaat und Amenemhet sowie die Königin Hotephores und die Prinzen Rahotep, Khufu und Aserkaf. Die königliche Familie nahm an den Feierlichkeiten der Abendriten anlässlich des Neujahrsfestes teil!
Ich ging auf die Statue des Ptah zu und begann mit meinen rituellen Handlungen. Ich nahm die Schüsseln und Schalen mit der Götternahrung und setzte sie vor Ptah ab. Die Krüge mit Bier und Wein stellte ich etwas abseits neben die Kohlebecken mit den Weihrauchkegeln. Es war ganz still in dem kleinen Raum, als die Priester sich zurückgezogen hatten und abwarteten, dass ich die Figur waschen, salben und kleiden würde.
In diesem Augenblick erhob sich der Mann hinter mir. Im Schein der Öllampen konnte ich sehen, dass er keine priesterliche Kleidung trug.
Der König hatte seinen Blick auf das goldene Antlitz des Gottes gerichtet und beachtete mich nicht. Dann nahm er mir die Schüssel mit geweihtem Wasser aus der Hand, ohne mich zu berühren. Beinahe hätte ich das Gefäß fallen gelassen. Er ergriff den Rand, bevor das Wasser überschwappen oder die Schüssel zu Boden fallen konnte. Ohne ein Wort und einen Blick wandte er sich von mir ab und konzentrierte sich auf Ptah.
Er wusch den Gott mit einem weißen Leintuch, das er nach Benutzung zusammenfaltete und in die Schüssel mit dem Waschwasser legte. Das Tuch würde in Stücke geschnitten und am nächsten Morgen im Tempelhof verkauft werden. Das Waschwasser würde in kleine Phiolen abgefüllt und ebenfalls als Heilmittel gegen Krankheiten verkauft werden. Ich nahm die Schüssel aus seinen Händen entgegen.
Dann reichte ich ihm die Kleidung für den Gott, einen neuen Schurz, Sandalen und einen Halskragen sowie eine neue Kappe aus blauem Stoff. Als der Lebendige Gott die Zeremonie beendet hatte, nahm er einen Weihrauchkegel aus dem Kohlebecken und räucherte den Raum des Allerheiligsten, um den Gott für die Nacht vorzubereiten. Dann war die Zeremonie beendet, und ich zog mich vor dem König aus dem Raum zurück, um den Gott ruhen zu lassen. Als ich an ihm vorbeiging, berührten sich unsere Körper leicht und er flüsterte:
»Ich danke dir, dass du mich nicht wieder angestarrt hast.«
Ich wagte nicht, den Blick in das Antlitz des Herrschers zu richten und verneigte mich schweigend.
»Was hat er dir gesagt?«, wollte Iya wissen, als wir später nebeneinander auf unseren Schlafmatten in unserer Zelle lagen.
»Ach nichts«, sagte ich. »Weißt du, warum der König in Mempi ist?«
»Nein, das weiß ich nicht. Aber ich habe doch gesehen, dass er dir etwas zugeflüstert hat«, beharrte Iya. »Und Sethi hat dich nicht geschlagen.«
»Lass mich in Ruhe, Iya. Ich bin müde«, murmelte ich. Schlafen wollte ich nicht. Ich wollte das Gefühl seines Körpers an meinem immer wieder spüren.
Am zweiten Tag des Neujahrsfestes hatte das Volk Zutritt zum großen Sonnenhof. Die Tempeltore öffneten sich und ließen Hunderte von Betenden ein, die bei den Priestern eine Spende abgaben. Ich stand mit Sethi im Sonnenhof und hielt für ihn die Schale, in der sich die Kupferbarren und Goldringe häuften.
Die Gläubigen näherten sich ehrfürchtig dem im Sonnenhof aufgestellten Schrein mit der Barke des Ptah, die am Vortag durch die Straßen von Mempi getragen worden war. Viele hatten an diesem Tag kleine Ptah-Statuen bei sich, die sie durch die Gottesdiener weihen ließen. Gegen ein geringes Entgelt nahmen die Priester die Statuen entgegen und brachten sie ins Allerheiligste, wo sie diese weihten und dann zu ihren wartenden Besitzern zurückbrachten.
Immer wieder verschwand Sethi mit einer oder zwei kleinen Figuren aus Holz oder Ton im Allerheiligsten und kam zurück. Die Statuen waren dann in weiße Leinentücher gewickelt.
»Sethi, was hat der König gestern Abend im Allerheiligsten getan?«
»Er hat Atum-Re zum Obersten Gott des Reiches erkoren, und das hat er gestern Abend Ptah im Gebet mitgeteilt. Ptah scheint die Oberherrschaft des neuen Gottes anerkannt zu haben, denn er akzeptierte die rituellen Handlungen durch den König, den Hohepriester des Atum.«
»Seneferu ist Hohepriester des neuen Gottes?«, fragte ich überrascht.
»Er hat sich selbst dazu ernannt.«
»Wann wird der Tempel des Atum fertig gestellt sein?«
Sethi zuckte mit den Schultern. »Die Fundamente sind gelegt, glaube ich. Ich war lange nicht draußen.« Mit draußen meinte er die Welt außerhalb des Tempels.
»Gehst du nie nach draußen, Sethi?«
»Nein, was soll ich da?«
Auf diese Frage hatte ich keine Antwort. Aber ich wusste, was ich dort wollte: Ich wollte das Leben suchen, die Liebe, das Glück, die Freude und die Zufriedenheit, die ich im Tempel nicht finden konnte. Ich wusste, ich würde in meinem Leben niemals an die Oberfläche gelangen, um das Licht zu sehen, wenn ich nicht fest an mich glaubte und bereit war, gegen die Strömung des Lebensflusses, die mich fortzureißen drohte, anzukämpfen. Immer wieder. Ohne müde zu werden.
Ich fühlte mich im Tempel eingesperrt und fragte mich, ob mir die Weihe zur Priesterin überhaupt Erfüllung geben konnte. Die Initiation zur Gottesdienerin würde bedeuten, dass ich den Tempel nur noch selten verlassen könnte. Also beschloss ich, Schreiber zu werden, und malte mir meine Zukunft in allen Farben aus, die Träume haben können.
Kemet war ein streng zentral geführter Staat, der über eine äußerst effektive Verwaltung in den Tempeln, den Palästen der Gaufürsten und den Ministerien der Hauptstadt verfügte. Die Grundkenntnisse der Schreiberausbildung hatte ich mir in der Tempelschule bereits angeeignet, die Priesterwürde Ersten Grades würde ich in einem Jahr erlangen. Nach der Priesterweihe wollte ich den Tempel verlassen, um mir eine Position zu suchen. Vielleicht würde ich Schreiber bei einer reichen Dame werden mit umfangreicher Korrespondenz im ganzen Land? Oder vielleicht würde mich ein Kaufmann einstellen, der in den Fremdländern Handel trieb.
Als Sethi mich fragte, aus welchem Grund meine Leistungen in der Tempelschule von einem Tag auf den anderen sprunghaft anstiegen, antwortete ich ihm: »Ich will Schreiber werden.«
»Der Beruf des Schreibers wird vom Vater auf den Sohn vererbt«, schüttelte er den Kopf. »Du kannst nicht Schreiber werden.«
»Aber warum denn nicht?«
»Weil du eine Frau bist. Frauen werden nicht Schreiber.«
»Aber es ist doch nicht verboten! Es hat schon Frauen gegeben, die Schreiber waren.«
»Ja, das ist wahr. Ganz besonders privilegierte und begabte Frauen hatten in der Vergangenheit das seltene Glück, die Prüfungen zu bestehen und Schreiber zu werden. Aber es waren nur zwei in den vergangenen hundert Jahren.«
»Dann werde ich die Dritte sein!«, nahm ich mir vor.
Sethi sah mich nachdenklich an. »Wenn es jemand schaffen kann, dann du, Nefrit!«
Noch am gleichen Tag informierte ich die Tempelverwaltung darüber, dass ich meinen Ausbildungsgang ändern wollte. Angesichts der ungläubigen Gesichter zweier Tempelschreiber trug ich mich aus der Liste der Kandidatinnen aus, die Priesterin Fünften Grades werden wollten, und schrieb meinen Namen in eine kürzere Liste von Schülern, die die Ausbildung zum Schreiber absolvierten. Als ich die Namen durchsah, stellte ich fest,