Barbara Goldstein

Die Baumeisterin


Скачать книгу

      Der Priester, der uns Mathematik lehren sollte, hatte an der Tempelschule des Ptah studiert. Er versprach, sich dafür einzusetzen, dass wir an der Welt der Zahlen unser Vergnügen haben würden. In dieser ersten Unterrichtsstunde zwischen Mittagsruhe und den Abendriten versuchte der Gottesdiener, gelangweilten Schülern die Zahlzeichen beizubringen. Die meisten meiner Mitschüler konnten bisher weder lesen noch schreiben, und auch die Zahlen waren ihnen unbekannt.

      Da ich bereits mit dreizehn Jahren Berechnungen an der Pyramide vorgenommen hatte, langweilte ich mich und zeichnete mit meinem Pinsel eine Pyramide auf die Tonscherbe, während die anderen mühsam eine gerade Linie nach der anderen zogen, einen Bogen, eine Schleife.

      Ich war so vertieft in meine Pyramidenzeichnung, dass ich nicht bemerkte, wie der Lehrer hinter mir stehen blieb, um meine Skizze zu betrachten. Dann fuhr sein Stock auf meine Hände nieder. Mehr aus Überraschung als aus Schmerz ließ ich meinen Pinsel zu Boden fallen. Die Tintenschale kippte um, und die schwarze Tinte lief über das Schreibbrett auf meinen Knien.

      »Was tust du da?«

      »Ich zeichne.«

      »Wir haben keine Zeichenstunde, sondern Zahlenkunde. Schreib wie alle anderen auch die Zahlen eins, zehn und hundert auf deine Scherbe.«

      »Ich kann die Zahlen bereits lesen und schreiben. Bis eine Million.« Ich nahm mir eine neue Scherbe aus dem Korb vor mir, tauchte meinen Pinsel in Khais Tintenschale und begann zu malen. Ich konnte nicht sehen, was er hinter mir tat, und so verhielt ich mich still. Dreißig Augenpaare waren auf mich gerichtet.

      In diesem Augenblick schlug er mit seinem Stock zu. Er traf meinen Rücken. »Du bist hochmütig, Nefrit! Du willst im Mittelpunkt stehen. Du bist hier, um zu lernen, und nicht, um mit deinen Kenntnissen vor deinen Mitschülern anzugeben! Du verstößt gegen die achtzehnte Regel!« Seine Stimme klang laut wie der Donner der nächtlichen Gewitter über der Oase von Pihuni.

      Ich hob die Arme und fing die stärksten Schläge seines Stocks ab.

      Die Erziehungsmethode der Tempelschule, die schlechte Leistungen ignorierte, mittelmäßige Leistungen belohnte und gute Leistungen mit dem Rohrstock bestrafte, statt sie weiter zu fördern, machte mich aufsässig.

      Ich wurde oft geschlagen. Weil ich während des Mathematikunterrichts bautechnische Berechnungen vorgenommen hatte. Weil ich während des Schreibunterrichts ein Buch von Neferefre, das ich in der Bibliothek des Tempels entdeckt hatte, gelesen hatte. Weil ich während der endlosen Liturgien die Reliefs an den Tempelwänden skizziert hatte, die nicht den Regeln des Imhotep entsprachen. Der geniale Bauleiter des Djoser hatte genaue Proportionsvorschriften für das Zeichnen von Menschen und Göttern hinterlassen. Ein Quadratnetz, das auf die Wand aufgebracht wurde, diente zur Festlegung der absoluten Proportionen des menschlichen Körpers. Entsprechend dem alten Kanon maß der Mensch achtzehn Quadrate von den Fußsohlen bis zur Stirn, die Quadratgröße entsprach einer Faust oder eineindrittel Handbreiten. Davon liefen sechs Quadrate von den Füßen bis zu den Knien, weitere fünf Quadrate bis zum Gürtel, nochmals fünf Quadrate bis zu den gedrehten Schultern und drei weitere bis zum Scheitel des Dargestellten. Auch die Form der Darstellung war vorgeschrieben: Männer mit vorgestelltem Bein, Frauen im Stand, Männer mit brauner Hautfarbe, Frauen in Ocker. Der Netjer war immer größer als die anderen Dargestellten, es sei denn er stand vor den Göttern.

      Und ich wurde geschlagen, weil ich mich gegen die Schläge wehrte.

      Iya vibrierte vor Anspannung wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft. »Wie kannst du nur so ruhig sein, Nefrit!«

      Die fünf dunklen Tage am Jahresende waren ereignislos und ohne Versinken der Welt in der Isfet vergangen. Die Neujahrsprozession erschien mir nach einem Jahr Aufenthalt im Ptah-Tempel wie die Flucht aus einem Gefängnis.

      Ich war alles andere als ruhig! Wie eine Blinde, die zum ersten Mal sieht, badete ich in einem Meer aus Farben: das dunkelblau schimmernde Wasser des Hapi, das satte Grün der Gartenanlagen von Mempi, das Weiß der Lotusblüten. Wie eine Verdurstende trank ich den Duft von frisch gebackenem Brot, von Ziegenkäse, gerösteten Zwiebeln, von gegrilltem Gänsefleisch und süßem Backwerk. Wie eine Gelähmte, die sich erhebt, schritt ich neben Iya durch die Straßen von Mempi.

      Ich achtete auf alles, nur nicht auf meine rituelle Schrittfolge, und Sethis strafender Blick traf mich wie der Stock des Mathematiklehrers. Ich war geblendet von den Eindrücken einer Stadt, die sich zum Neujahrsfest geschmückt hatte.

      Die Prozession bewegte sich durch die Viertel der Reichen und Vornehmen, am Hafen vorbei, durch die Gebiete der Armen. Auf der langen Straße näherten wir uns dem alten Königspalast. Ich freute mich darauf, den Platz wiederzusehen, wo mein Vater und ich vor elf Jahren zwei wundervolle Tage verbracht hatten. In diesem Augenblick war ich traurig, dass mein Vater mich jetzt nicht sehen konnte, inmitten der Prozession als Tempeldienerin des Ptah.

      Als wir uns dem Platz vor dem Palast näherten, nahmen die Wohlgerüche von Weihrauch und Myrrhe zu. Es duftete nach gerösteten Lotussamen, nach in Öl gebackenen Honigkuchen und anderen Leckereien. Und dann hörte ich Geflüster zwischen den Gottesdienern, die vor mir gingen. Die Priester riefen sich etwas zu, was ich nicht verstehen konnte. Worte flogen wie Vögel über mich hinweg. Was sagten sie? In dem Augenblick, als ich verstand, was sie sagten, sah ich ihn.

      Seneferu trug die Sechemti-Doppelkrone, einen mit Lapislazuli und Türkis bestickten Halskragen, darüber ein Amulett in Form eines Goldhorus und einen weißen Leinenschurz, der seine Beine eng umschloss. Seine Füße waren mit goldenen Sandalen bekleidet. Er war nun einunddreißig Jahre alt, aber als Gott war er unsterblich: Wie ein Götterbild saß er unbeweglich auf seinem Thron, die Hände in der traditionellen Haltung mit Heqat und Nekhakha, Krummstab und Wedel. Seine dunklen Augen waren mit Goldstaub geschminkt – sie blickten in die Ferne jenseits des Horizontes. Wie schön er war!

      Neben dem König saß die Große Königliche Gemahlin, Hotephores, eine junge Frau von zierlicher Statur und großer Anmut. Sie trug ein Gewand, das ihre Brüste freiließ, und einen Schmuckkragen, ganz mit kostbarem Lapislazuli bestickt. Ihre Perücke war lang, und die kunstvoll geflochtenen Zöpfe lagen ihr schwer auf den schmalen Schultern. Ein Diadem und Armreifen aus Gold vervollständigten ihre elegante Garderobe.

      Ich war so erstaunt über die Anwesenheit des Lebendigen Gottes in der Alten Hauptstadt, dass ich vergaß, die traditionelle Schrittfolge einzuhalten. Die hinter mir schreitenden Gottesdiener stießen beinahe mit mir zusammen, weil ich zu langsam ging. Ein Priester Ersten Grades eilte herbei und schlug mich mit einem kurzen Stock, um mich zu ermuntern, die Schrittfolge einzuhalten. Die Schläge brannten wie Feuer auf meiner nackten Haut. Aber ich war mir der Aufmerksamkeit der königlichen Familie sicher. Prinz Rahotep war aufgesprungen, als wollte er mir zu Hilfe kommen. Prinz Khufu sah mir in die Augen, als bereiteten ihm die Schläge Vergnügen.

      Der König sah mich an. Die wenigen Augenblicke, in denen unsere Blicke ineinander versanken, erschienen mir wie die Ewigkeit. Dann wandte er seinen Blick wieder in die Unendlichkeit seiner Gedanken und schloss die Welt aus. Das Lächeln blieb auf seinen Lippen.

      Wie ich in den Tempel zurückgekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ein Priester empfing mich am Tempeltor und brachte mich in eine Zelle, in der ich stundenlang ausharren musste. Sethi erschien, um mich zu bestrafen. Er führte die Schläge nur mit halber Kraft aus: Er hatte den Blickwechsel zwischen dem König und mir bemerkt. Dann schickte Sethi mich in meine Zelle, die Kleidung für die Abendriten anzulegen.

      In unserer Kammer traf ich Iya, die sich bereits umgezogen hatte. »Das ist ein aufregender Tag heute!« Ruhelos flatterte sie durch unsere Zelle. »Erst die Prozession und jetzt noch das!«

      Ich dachte, sie meinte meine Bestrafung wegen der Majestätsbeleidigung.

      Gemeinsam führten wir die Waschungen im Heiligen See durch, dann formierten wir uns am Tempeltor. Trotz meiner Strafe hatte Sethi mir die Aufgabe, den Gott zu waschen und zu kleiden, nicht entzogen.

      Hinter mir standen die Tempeldienerinnen und Tempeldiener mit der Mahlzeit für den Gott: weißes Brot, Gänsebraten, Gemüse, Früchte, Bier und Wein. Dahinter warteten die Träger