Franziska C. Dahmen

Taubenjahre


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da durch. Sie musste etwas finden. Da! Da, direkt neben dem Wohnwagen hing ein feuchtes Bettlaken. Gott sei Dank! Die Feuchtigkeit fiel noch jetzt in dicken Tropfen auf den Rasen.

      Ohne weiter zu überlegen, riss sie das Bettlaken von der Leine und schlang es sich um den eigenen Körper.

      Wieder rein in den Wohnwagen.

      Beißender Rauch.

      Hitze.

      Hanna bekam fast keine Luft mehr.

      Trotzdem, das Kind brauchte Hilfe! Da, da war es, sie konnte es halbwegs erkennen: Es lag mittlerweile zusammengesunken auf dem Boden und schwieg.

      Das laute Prasseln der gefräßigen Flammen hörte sie nicht, stattdessen dröhnte die Stille des Kindes in ihren Ohren. Wenn es doch nur wieder schrie! Erbarmen! Lieber Gott, lass es Schreien! Bitte, lass es Schreien!

      Noch während sie ein letztes Mal ihr Stoßgebet zum Himmel schickte, sprang sie durch die Flammen, packte es, hüllte es ein und kämpfte sich mit ihm zusammen durch die Flammen in die Freiheit, wo sie hustend auf den Boden sank.

      Entscheidung

      Hanna hätte nicht sagen können, wie lange sie ohnmächtig gewesen war. Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einer Liege. Jemand hatte eine warme Decke über sie gelegt.

      Nur langsam, dafür aber um so eindringlicher kehrte die Erinnerung zurück. Das Feuer! Der Junge! Hanna schoss mit vor Schreck geweiteten Augen in die Höhe.

      »Es ist alles gut! Bleiben sie liegen!«, versuchte eine weibliche Stimme sie zu beruhigen.

      »Der kleine Junge?«

      »Ihm geht es gut. Er ist bei seiner Mutter.«

      Beruhigt ließ Hanna sich wieder auf das Lager sinken. Ihr Hals schmerzte und die Augen tränten. Der beißende Geruch von Rauch hing schwer über allem und kratzte unangenehm in ihrer Kehle. Schlimmer als das waren jedoch ihre Gedanken, die förmlich Sturm liefen: Niemand anderes als ihr Bruder war für all das hier verantwortlich.

      Gequält schloss Hanna die Augen. Wie konnte er nur? Sie traute ihm einiges zu, aber dies überstieg selbst ihr Fassungsvermögen. Eine Träne bahnte sich ihren Weg und hinterließ einen hellen Streifen in ihrem Ruß geschwärzten Gesicht.

      »Geht es ihnen besser?«, hörte sie Rafaels warme Stimme fragen.

      Hanna nickte, ohne die Augen zu öffnen. Vor lauter Scham wäre sie am Liebsten im Boden versunken.

      »Wir sind ihnen so dankbar«, hörte sie in weitersprechen, während in ihr alles nur Stopp!, schrie. Nicht weiter! Nicht weiter reden! Bitte! Es war mein Bruder. Er hat das alles zusammen mit seinen Freunden getan. Ach, hätte ich ihm heute morgen nur das Geld gegeben, als er mich auf der Treppe darum bat, dann wäre das alles nicht passiert. Dann wäre Karl nie und nimmer mit ihnen aneinandergeraten. Auch wenn das bedeuten würde, dass ich sie nie im Leben kennengelernt hätte … Ich wünschte, ich könnte die Uhr zurückdrehen. Glauben sie mir bitte. Ich wollte das nicht ... Aber Hanna schwieg, während Rafael weiter fort fuhr: »… Mein Vater ist auf dem Weg zur Polizei. Im Grunde genommen ist es vertane Zeit. Letztlich werden sie sie nicht finden. Sie finden sie nie! So ist es immer!« Die letzten Worte waren bitter und hart aus seinem Mund gekommen.

      »Es tut mir Leid, dass sie so etwas erleben mussten.« Seine Hand umfasste Hannas warm und weich. »Und wir werden ihnen nie genug dafür danken können, dass sie meinem kleinen Neffen das Leben gerettet …«

      »Nein!«, brach es heiser aus ihr heraus. »Nein! Sie dürfen so etwas nicht sagen! Ich …«

      »Bitte, Hanna!«, unterbrach er sie. »Ich darf sie doch mit ihrem Vornamen anreden, oder?«

      Verwirrt nickte sie und wollte erneut ansetzten, aber Rafael ließ sie nicht zu Wort kommen.

      »Ich glaube, das Ganze war zu viel für sie. Trotzdem würde ich sie jetzt gerne nach Hause begleiten. Natürlich nur, sofern sie sich in der Lage fühlen, schon aufzustehen ... Es ist besser so, glauben sie mir. Wenn erst die Polizei hier sein wird …«

      Hanna nickte, zuckte aber im gleichen Augenblick zusammen, als lautes Wehklagen an ihr Ohr drang: »Kalia ist Tod.«

      Mit Schrecken fiel ihr die Frau ein, die als lebende Fackel an ihr vorbeigelaufen war. »Die Frau …, das Feuer …, sie …?«

      Bleich im Gesicht half Rafael ihr auf und sagte stattdessen: »Kommen sie! Es wird Zeit.«

      Zu Hause

      Die ersten Singvögel regten sich in den Ästen, als Hanna leise die Haustür hinter sich schloss. Bis zuletzt hatte sie versucht, Rafael zu gestehen, wer letztlich für all das Unheil verantwortlich war, aber jedes Mal, wenn sie kurz davor stand, Karls Namen auszusprechen, waren ihr die Worte im Hals stecken geblieben. Stumm und irgendwie hilflos hatten sie beide sich vor ihrer Haustür die Hand gereicht und waren getrennter Wege gegangen. Sie ins Haus, er zurück ins Lager.

      Hanna gähnte. Sie war todmüde. Zuallererst würde sie sich für ein paar Stunden hinlegen und schlafen. Danach würde sie erneut zum Lager gehen und Rafael die Wahrheit gestehen. Egal wie schwer es ihr fallen würde, es musste sein. Sie war es ihm und seiner Familie schuldig.

      »Na, Schwesterherz auch schon da?«

      Hanna zuckte, wie von einer Tarantel gestochen, zusammen. Im Türrahmen zum Wohnzimmer stand Karl und blickte sie spöttisch an, während er sich mit seinem Taschenmesser die Fingernägel säuberte.

      »Ich wüsste nicht, dass dich das etwas angeht.« Mit klopfendem Herzen und zitternden Händen legte sie den Hausschlüssel auf die Ablage.

      »Wenn du dich da mal nicht irrst, SCHWESTERHERZ!«

      Hanna überhörte geflissentlich seine Worte und bewegte sich in Richtung Treppe. Sie wollte nur eins: So schnell wie möglich die Tür ihres Zimmers hinter sich zuschließen.

      »Ich rede mit dir!«

      »Ich aber nicht mit dir … Außerdem bin ich müde. Ich gehe jetzt schlafen!«

      »Du gehst nirgendwohin, wenn ICH es dir nicht erlaube!«

      »Du hast mir nichts zu befehlen!« Noch bevor sie den Satz zu Ende ausgesprochen hatte, war Karl bei ihr und schleuderte sie herum. »So meinst du!«, blaffte er sie höhnisch an, ehe er den eigentlich Pfeil abschoss: »Du kleine Zigeunerhure!«

      Hanna zuckte getroffen zusammen.

      »Hans hat recht gehabt!« Karls Augen verengten sich, dann holte er aus und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige, die sie kleine Sterne sehen ließ. »Du kleine Schlampe! Ich hätte es mir schon gestern Morgen auf dem Kirchplatz denken können. So geil, wie du den angeschmachtet hast ...«

      »Nicht Karl!« Reflexartig hielt sie sich schützend die Hände vors Gesicht.

      Aber statt zuzuschlagen, breitete sich in seinem Gesicht ein diabolisches Grinsen aus, das sie erzittern ließ. Langsam, ganz langsam beugte er sich vor, sodass sie seinen alkoholgeschwängerten Atem auf der Haut spüren konnte. »Was du von dem bekommen hast, Schwesterherz«, zischte er ihr leise ins Ohr, »das kannst du auch von mir haben!« Und schon packte er sie und zerrte sie ins Wohnzimmer, wo er ihr einen Stoß versetzte, der sie erst gegen einen Beistelltisch, dann gegen die Lehne des Sofas prallen ließ, sodass sie vor Schmerz neben der zu Bruch gegangenen Leselampe zu Boden sank.

      »Bitte Karl …«, flehte Hanna ihn an, »Bitte, tu es nicht!« Auf allen Vieren kriechend versuchte sie, ihm zu entkommen. Aber Karl war schneller als sie. Seine Hand bekam ihr Bein zu fassen, sodass sie erneut der Länge nach auf den Boden stürzte und dort liegen bleib. »Es war nichts! Glaub mir!«, wimmerte Hanna, während er sie gewaltsam umdrehte und ihr in den Ausschnitt griff, um ihn mit einem einzigen Ruck zu zerreißen. »Karl …, bitte …, es … war nichts.«, schrie sie laut schluchzend. Zugleich versuchte