Franziska C. Dahmen

Taubenjahre


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ihn an.

      »Glauben sie einem alten Mann!«, versicherte er ihr. »Versuchen sie es … Nur zu!«

      Mit zitternden Fingern brachte Hanna die Gitarre in Position und strich sachte über die festgespannten Drahtseiten, die sich unendlich vertraut anfühlten. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und atmete tief durch. Was hatte der alte Mann noch einmal zu ihr gesagt? Folge einfach deinem Herzen. Als ob das so einfach wäre! Insbesondere wenn es wie wild raste. Es war kaum zu bändigen. Ebenso wie ihre Hände, die wie Espenlaub zitterten. Noch einmal atmete sie tief durch, dann zupfte sie sachte an der tiefen E-Seite. Der Klang war satt und warm und beruhigte sie merklich. Schon wesentlich selbstsicherer ließ sie in schnellem Lauf ein A – D – G – H – E folgen.

      Wer auch immer die Gitarre gestimmt hatte, er musste das perfekte musikalische Gehör haben. Es war die reinste Freude! Wie von selbst spielten ihre Finger ein kurzes Adagio, ehe sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, zu einem fröhlichen Allegro überwechselten, das in einer Fantasia von Alonso Mudarra mündete.

      Ihre Großmutter hatte die Noten von einem befreundeten Dirigenten geschenkt bekommen und sie hatte sich als Kind in die zwischen Melancholie und überschwänglicher Freude oszillierende Musik des Spaniers verliebt. Da ihre Mutter aber ihre Schwiegermutter hasste, hatte sie ihr die Noten nach deren Tod weggenommen und verbrannt. »Du spielst mir nicht mehr auf dem Teufelsinstrument!«, hatte sie am Tag der Beerdigung bestimmt und die Gitarre kurzerhand verkauft. Aber wenigstens war ihr die Harfe geblieben. Ihre Mutter hatte keinen Käufer für sie finden können. Zumindest keinen, der den Preis, den sie dafür verlangte, bezahlen wollte. Also war sie, für immer auf den Speicher verbannt und in Laken eingepackt, geblieben. Auch wenn sie sie nicht spielen durfte, sie war da. Gleichwohl war Hanna tagelang aufgrund des Verkaufs ihrer heißgeliebten Gitarre außer sich gewesen und hatte geweint. Für immer meinte sie die Musik verloren zu haben. – Aber sie hatte sie nicht verloren. Alles war da. Alles war in ihr. Wie selbstverständlich spielte sie die Noten Mudarras; gerade so, als lägen sie vor ihr.

      Erschöpft ließ Hanna den Kopf auf den Korpus der Gitarre sinken. Noch immer hielt sie die Augen geschlossen. Um sie herum herrschte Stille. Einzig und allein das Knistern des Lagerfeuers war zu hören.

      Tausend Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf: Sie hatte Mudarra gespielt, ihren Mudarra! Oh Gott, was dachte Rafael? War sie zu schlecht? Hatte sie etwas Falsches getan? – Panisch riss sie die Augen auf und schaute in zutiefst erstaunte Gesichter. – Sie hatte versagt!

      »Wo haben sie so spielen gelernt?«, fragte Rafael, nachdem er sich kurz geräuspert hatte. »Sie spielen phantastisch!«

      »Wirklich?« Unsicher schaute sie ihn an.

      »Aber ja doch!«

      »Hier, nehmen sie.« Mit glänzenden Augen reichte ihr Rafaels Großvater ein Glas, das bis zum Rand mit Rotwein gefüllt war. Irgendetwas war geschehen. Nur Hanna war sich nicht sicher, was genau.

      »Danke.«

      »Wo haben sie so spielen gelernt?«, erkundigte sich Popo ebenfalls bei ihr.

      »Meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, hat mir das Spielen beigebracht. Sie war eine fantastische Harfenistin und Lautenspielerin. Sie hätten sie erleben müssen …« Hanna schaute ihn mit strahlenden Augen an. Dann wurde sie wieder ernst. »Sie hat mir alles beigebracht. Als sie jedoch starb …«, Hanna biss sich auf die Unterlippe und verstummte. Am liebsten hätte sie wie ein kleines Kind losgeheult. Wie sollte sie einem Fremden vermitteln, was diese Frau ihr bedeutet hatte? – Traurig strich sie über das warme Holz der Gitarre und schluckte ihre ungeweinten Tränen herunter.

      »Oh, meine kleine Nachtigall, deshalb brauchen sie nicht traurig sein. Sie müssen einfach nur spielen! Entweder man hat Musik im Blut oder nicht. Und sie haben sie im Blut. Glauben sie einem alten Mann. Sie brauchen keinen Lehrer! Vergessen sie es. Keiner hier hat einen gehabt. Und doch spielt jeder von ihnen wie der Teufel – oder wie ein Engel; je nach dem ...«, verschmitzt grinste er sie an. »Wenn sie mir nicht glauben wollen, dann hören sie! … Apiro!« Der Alte rief einen schmächtigen Jungen von gerade einmal 12 Jahren zu sich und hielt ihm die Gitarre entgegen. »Spiel!«, befahl er.

      Nur langsam kam sie wieder zu Bewusstsein. Der Junge hatte längst aufgehört zu spielen und rannte unbekümmert zu seinen Freunden, die mit ihm zusammen in der Dunkelheit verschwanden.

      Ungläubig schaute sie ihm hinterher. Das sollte ohne Lehrer möglich sein? Nie und nimmer!

      Der Alte, der Hanna die ganze Zeit über beobachtet hatte, nickte ihr bejahend zu. »Glauben sie es!«

      »Aber…«, versuchte sie einzuwenden.

      »In der Musik gibt es kein Aber!«

      Hanna blicke zu Boden. »Ja«, sagte sie nach einer Weile und blickte ihm direkt in die Augen. »ich glaube, ich verstehe wirklich, was sie meinen. Ich glaube, sie haben recht.«

      Der alte Mann nickte ihr stumm zu, sog tief an seiner Pfeife und schenkte seine volle Aufmerksamkeit einer Frau, die gerade anfing, zu singen. Sie besaß eine warme Altstimme, die vom schluchzenden Klang einer einzelnen Violine begleitet wurde.

      »Wovon singt sie?«, flüsterte sie Rafael leise zu.

      »Von einem Mädchen … ihr Geliebter verschwindet plötzlich und sie sucht ihn … Sie wandert von einem Ort zum anderen. Doch von jedem, den sie fragt, erhält sie nur ein Nein als Antwort. Weder der Wind, die Erde noch das Wasser können ihr helfen. Erst das Feuer erinnert sich. Ihm fällt ein, dass es sich vor vier Jahren unsterblich in einen jungen Rom verliebt hatte. Doch schon bei der ersten Umarmung war er verbrannt. Das eifersüchtige Wasser, das gerade in der Nähe war, hatte zwar noch versucht, ihn zu retten, als es ankam, brannte der junge Mann aber schon lichterloh.«

      »Oh, wie traurig.«, sagte Hanna voller Mitgefühl.

      »Warte, die Geschichte ist noch nicht zu Ende.«, meinte Rafael leise und fuhr fort das Lied für Hanna simultan zu übersetzen. »Als der junge Mann zu Staub zerfallen war und auf der Erde lag, kam der Wind und trug ihn in alle Himmelsrichtungen fort, sodass nichts mehr von ihm übrigblieb.

      Das Feuer überlegt nun, ob der junge Mann von damals vielleicht Malinas Geliebter gewesen sei. Kam aber zu keinem Schluss. Also fragte es zur Sicherheit sowohl das Wasser, die Erde und den Wind, ob sie sich an den jungen Rom erinnern könnten.

      Sicher meinten, die drei, aber ob es sich dabei um Malinas Geliebten gehandelt habe, könnten sie nicht sagen. Das Beste sei, man frage Malina selber.

      Und so zogen das Feuer, das Wasser, die Erde und der Wind zu Malina und fragten sie, ob der junge Mann, der von ihr Gesuchte sei.

      Malina bejahte und weinte bitterlich. Du Feuer verzehrtest meinen Geliebten mit der Glut deiner Flammen. Du Wasser ertränktest ihn, in der Flut deiner Nässe. Du Erde nahmst seinen Staub und du Wind verstreutest seine Asche. So will ich denn das du Feuer mich ebenfalls verzehrst, du Wasser mich ertränkst auf das ich, wenn ich auf dir liege, Erde, zu Staub werde, damit der Wind mich in alle Himmelsrichtungen verweht. Dann werde ich wieder bei meinem Geliebten sein.

      So sei es!, sagten das Feuer, das Wasser, die Erde und der Wind und taten wie ihnen aufgetragen wurde.«

      Hanna schniefte leise. »Warum müssen Liebesgeschichten immer tragisch enden? Wenn schon nicht im wahren Leben, so könnten sie doch wenigstens im Märchen gut ausgehen.«, meinte sie nach einer Weile.

      »Damit man den Wert der Liebe erkennen kann ...«

      Hanna warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Das meinen sie doch nicht im Ernst?«

      »Natürlich!«

      »Aber keiner wünscht sich so etwas im wirklichen Leben!«

      »Wirklich?«, Rafael blickte ihr direkt in die Augen. Aber nach ein paar Sekunden wich sie dem seinigen aus und senkte unsicher den Kopf. »Was ist für sie Liebe?«, hakte er nach.

      »Liebe ist ein Gefühl.«, meinte sie zunächst etwas unsicher, ehe sie ihm fast trotzig antwortete: