Jay Baldwyn

Der letzte Vorhang


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synchron. Du und das Publikum werden also auf seine Kosten kommen.«

       »Das könnte es sein. Nur, wo sollen wir diese ganzen bildhübschen Weiber herbekommen?«

       »Lass mich mal machen. Ich habe da so meine Verbindungen …«

      Im Frühjahr 1917 war es dann so weit. Die Eröffnung des Theaters stand bevor. Chuck hatte für den Namen „Paradise“ gestimmt, aber sich schließlich dem etwas seriöseren Namen „Majestic Theatre“ gefügt. In den Monaten zuvor waren Scharen von hübschen, jungen Mädchen, egal, ob Sängerin oder Tänzerin, egal, ob durch eine Künstleragentur vermittelt oder durch Eigeninitiative vorstellig geworden, begutachtet worden. Sie hatten vortanzen oder vorsingen gemusst und sich dabei den kritischen Blicken des Regisseurs Don Davis und des Choreographen Jaques Marais stellen müssen. Auch einzelne Herren, die durch ihr fotogenes Aussehen oder ihre gute Singstimme auffielen, wurden unter Vertrag genommen.

       Während auf der Bühne schon geprobt wurde, leistete ein Heer von Handwerkern unermüdliche Arbeit, damit der Premierentermin eingehalten werden konnte. Sie bohrten, schraubten, nagelten und brachten dabei wahre Kunstwerke hervor. Die Winston-Brüder sahen, dass alles nach ihren Vorstellungen geriet und waren vollauf zufrieden.

       Die Generalprobe geriet aber dann zum Desaster. Ein Girl verhedderte sich mit dem Perlengestell ihres Kopfputzes in der Dekoration und verlor dabei gleichzeitig ihre Perücke. Zwei andere Girls kamen auf der Drehbühne ins Straucheln und landeten recht unsanft auf ihren hübschen Hintern, woraufhin die ganze Truppe aus dem Takt kam. Als die drei Pechvögel später heulend in der Garderobe saßen, nutzte Chuck Winston die Gelegenheit, für eine erste Tuchfühlung. Er kredenzte ihnen drei Gläser Champagner und trocknete mit seinem Taschentuch ihre Tränen.

       »Kein Problem, Sweethearts, wenn die Generalprobe im Chaos endet, wird die Premiere erstklassig. Der Spruch stammt nicht von mir, sondern von eurem Regisseur, der übrigens sehr zufrieden mit euch ist.«

       »Dann sollte er uns das mal persönlich sagen«, meinte eine kecke Rotblonde namens Moira, »bisher hat er immer nur rumgemeckert. Nichts konnte man ihm recht machen. Na, und der „Monsieur“, unser begnadeter Choreograph … Niemand hat ja etwas dagegen, dass er keine Mädchen mag und sich privat lieber anderweitig orientiert, aber bei der Arbeit sollte er es nicht so deutlich zeigen.«

       »Aber, aber, wir sind alle etwas nervös, und die Nerven liegen blank. Nach der Premiere ist dann alles vergessen. Ihr werdet sehen. Na, wie heißt du denn, du kleines Goldköpfchen?«, sagte er, indem er das Kinn des Mädchens mit dem Finger hob, das am verzweifelsten geweint hatte, weil sie glaubte, schon vor der Premiere rauszufliegen.

       »Meryl, Sir.«

       »Du bist die mit dem Kopfputz, nicht? Das kann jedem mal passieren und kostet nicht gleich das Engagement. Wenn es aber öfter vorkommen wird, behält Onkel Chuck sich vor, dich übers Knie zu legen und dir deinen süßen Hintern zu versohlen. Also Kopf hoch und toi, toi, toi.«

       »Vor dem werden wir uns in Acht nehmen müssen«, sagte Moira, als Chuck draußen war.

       »Du hast aber auch ganz schön ausgeteilt«, antwortete Meryl. »Ich würde mich nie trauen, so mit dem Impressario zu reden.

       »Ich weiß, bei wem ich wie weit gehen kann. Den vernasche ich als Vorspeise.«

      Dann kam der große Abend. Alles, was in Chicago Rang und Namen hatte, erschien zur feierlichen Einweihung. Darunter Berühmtheiten wie W. C. Fields, die Marx Brothers und die große Mimin Sarah Bernhardt, die gerade auf einer USA-Tournee war.

       Majestätisch betraten die Gäste mit ihrer kostbaren Abendgarderobe das prachtvolle Vestibül oder Foyer, das mit Marmorboden, üppigen Samtvorhängen, Blumenkörben und großen Kristalllüstern ausgestattet war. Zwischen Säulen hingen Ölgemälde der National Academy. Die annähernd achtzig Quadratmeter große Grande Lobby war spiegelvertäfelt und hatte einen roséfarbenen Marmorboden. Eine breite Treppe mit geschnitzten Balustraden und leuchtend blauem Teppich führte ins Zwischengeschoss, dem sogenannten Mezzanin, wo die Gäste zu ihren Balkonplätzen geleitet wurden oder dem unten stattfindenden Treiben zuschauen konnten. Zur Unterhaltung spielte ein Pianist auf einem großen weißen Flügel derzeit populäre Melodien.

       Das Mezzanin-Geschoss mit vergoldeten Foyers und gedämpftem Licht war ebenfalls mit Gemälden dekoriert. In lauschigen Nischen lud ein gepolsterter Diwan zum Ausruhen ein, oder Springbrunnen plätscherten vor marmornen Nymphen und Mosaikwänden. Neben luxuriösen Lounges gab es Kosmetikräume für die Damen und Ruheräume für die Herren. Als Blickfänger dienten Nachbildungen von Skulpturen aus den Vatikanischen Museen.

       Durch breite Flügeltüren betrat man den Theatersaal mit fünf Gangreihen, Logen und Balkonen an den Seiten, drei Meter breiten Kronleuchtern aus Kristall und einer Bühne mit Orchestergraben. Er hatte eine Kapazität von über dreitausend Sitzplätzen. Das Beeindruckendste war aber die gewölbeartige Decke mit Malereien im französischen Renaissancestil gestaltet.

       Als die Saalbeleuchtung heruntergefahren wurde, das Orchester die Ouvertüre spielte und der tiefrote Samtvorhang sich hob, setzte stürmischer Beifall ein. Das Motto der ersten Show lautete „Springtime in Paris“, und das aufwendige Bühnenbild zollte diesem Thema auf Anhieb Tribut. Der Applaus steigerte sich noch, aber als die Girls in ihren entzückenden Kostümen heraustanzten, gab es kein Halten mehr. Bravorufe und Standing Ovations waren die Folge.

       Dann folgten in loser Folge Tanznummern mit sorgfältiger Choreografie, Gesangseinlagen und Duette. Das opulente Finale, an dem alle Mitwirkenden teilnahmen, bildete den würdigen Abschluss. Und was sich schon in der Pause abgezeichnet hatte, zeigte sich jetzt in vollem Umfang. Das Publikum war begeistert, und die Winston-Brüder ahnten, dass sie die vier Millionen Dollar nicht in den Sand gesetzt hatten, denn das Haus war bereits für Wochen ausverkauft und sollte das Tagesgespräch von Chicago werden. Als ob es nicht noch andere Theater mit interessanten Programmen in Chicago gab, aber damals wie heute galt: das Neue, Ungewöhnliche gepaart mit stilvollem, exquisiten Rahmen zog die Massen an. Jeder wollte dabei sein, um mitreden zu können.

      Das Presseecho war geteilt. Während die Chicago Tribune eher sachlich berichtete, das Chicago Daily Journal sogar ein Loblied verfasste, erlaubte sich der Chicago Examiner einen glatten Verriss.

       Chuck Winston schäumte vor Wut. »Hast du das gelesen?«, fragte er seinen Bruder. »Ich zitiere: „Schuster bleib bei deinen Leisten. Nicht jeder ist ein Florenz Ziegfeld. Die Impressario-Brüder Winston haben sich mit Regisseur Don Davis, der zuvor an kleineren Bühnen seichte Unterhaltungsstücke inszenierte, keinen Gefallen getan. Auch die Einfälle des Choreographen Jaques Marais halten sich in Grenzen und orientieren sich überwiegend am großen Vorbild.“ So ein Bockmist, ich werde dem Schreiberling die Fresse polieren.«

       »Nein, das wirst du nicht«, sagte Dick. »Charlie Foster ist nur sauer, dass wir ihm nicht den roten Teppich ausgerollt haben. Wir werden ihn auch künftig ignorieren. Lies lieber das Chicago Daily Journal. Pass auf: „Wow, was für ein Start. Chicago braucht keine Ziegfeld Follies, wenn es die Winston-Brüder hat. Das war frisch und beschwingt wie der Frühling in Paris. Die Girls sind rundweg ein Augenschmaus und das Gesangsduo Betty Smith und Harold Gable überzeugten nicht nur mit ihrem Charme, sondern auch mit Stimme. Das könnte das neue Traumpaar der Chicagoer Bühnen werden. Und erst das Ambiente …Man fühlt sich in ein Schloss der französischen Renaissance oder eine Kathedrale versetzt. Das ist stilvoll und sehenswert. Wir sind gespannt, wie es weitergeht.“ Na also, was will man mehr

       »Dafür schreibt Foster: „So viel Kitsch auf einem Haufen hat man lange nicht mehr gesehen. Die Kombination aus Museum und Vergnügungsbetrieb ist unerträglich. Wenn das mal keine gigantische Fehlinvestition wird. Kaum vorstellbar, dass die nächsten Programme mehr bieten werden.“ Ich bringe ihn doch um, den Drecksack.«

       »Beruhige dich, wenn wir in zwei bis drei Jahren fest etabliert sind, geht den Miesmachern die Luft aus. Wir werden es allen zeigen.«

      Dick Winston schien Recht zu behalten. Das nächste Programm