Jay Baldwyn

Der letzte Vorhang


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ihnen ein Rausch von farbigen, kostbaren Kimonos, verursachten wahre Beifallsstürme. Man konnte nur ahnen, dass sie ein Vermögen gekostet hatten, aber das kam durch die Einnahmen vervielfacht zurück.

       Dafür brodelte es hinter den fantasievollen Kulissen. Neid, Missgunst und Eifersüchteleien unter den Girls machten sich breit. Chuck Winston war an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig, denn er schenkte mehr als einem Girl seine Gunst.

       »Warum bekommt Ethel immer die meisten Soloparts?«, beschwerte sich Rhonda. »Sie kann nicht besser tanzen als ich.«

       »Aber sie hat die besseren Titten, chérie«, sagte „Monsieur“ Jaque.

       »Ich dachte, es geht hier nach Leistung, und nicht danach, wer mit einem der Chefs fickt.«

       »Das geht es, Darling, das geht es. Sie setzt meine Choreografien wesentlich schneller um als du. Und ihr Körper ist makellos. Sehr zur Freude des männlichen Publikums.«

       »Ach, und ist das hier etwa nichts?« Rhonda riss mit einem einzigen Ruck ihren Morgenmantel auf. Darunter war sie splitterfasernackt. Einige der Girls kreischten, und der „Monsieur“ hielt sich die Hand vor die Augen.

       »Bedecke dich, ich bitte dich«, kreischte er.

       »Ja, aber nur, um mir mein Trikot anzuziehen. Und dann tanze ich die nächste Nummer, dass ihr alle staunen werdet.«

       Gesagt, getan, Rhonda tanzte sich die Seele aus dem Leib. Dabei glänzten ihre Augen wie im Fieber. Sodass es einige Girl mit der Angst zu tun bekamen, weil sie dachten, Rhonda sei vom Teufel besessen. All ihre Bemühungen fruchteten aber nicht, weil Regisseur Don Davis sich keine Vorschriften machen ließ. Einzig zu der Aussage: »Wenn Ethel mal einen schlechten Tag hat, kann Rhonda ja für sie einspringen«, ließ er sich hinreißen. Ein fataler Fehler, wie sich zeigen sollte.

       Rhonda, die vor Wut kochte, änderte ihre Taktik. Sie begann Ethel zu umgarnen, um sie als Freundin zu gewinnen. Sie verwöhnte sie mit kleinen Aufmerksamkeiten und half ihr, wo sie konnte. Ein Plan, der aufging. Ethel schöpfte nicht einmal Verdacht.

       »Ich glaube, ich habe mich in dir getäuscht«, sagte Ethel eines Tages zu Rhonda. »Ich dachte, du bist neidisch auf mich und verbreitest Unwahrheiten.«

       »Unwahrheiten? Ich bin nicht die Einzige, die weiß, dass du Chuck fickst. Aber das ist für mich kein Grund zur Eifersucht, Honey. Der Knabe ist einfach nicht mein Typ, weißt du. Ich hoffe nicht, du erwartest, dass er dich eines Tages heiratet. Für den bist du eine von vielen.«

       Ethel war vor Scham errötet. »Ich erwarte gar nichts. Ich bin da irgendwie reingerutscht. Im Bett ist er wirklich gut, und irgendwie habe ich wohl gedacht, ohne die Besetzungscouch kommt man hier nicht weit. Warum unsere „Madame“ einen Narren an mir gefressen hat, weiß ich nicht. Ich finde du tanzt mindestens ebenso gut wie ich.«

       »Danke, danke. Mitunter fehlt dir etwas das Feuer. Das ist alles.«

       »Ich weiß nicht, wo du manchmal deine Energie herholst. Eben noch waren wir alle total erschöpft, und dann sprühst du auf einmal … So wie neulich, als du Marais einfach vorgetanzt hast.«

       »Viel hat’s ja nicht gebracht. Ich spiele weiterhin die zweite Geige. Immerhin stechen wir beide aus der Masse hervor. Und wenn du mein Geheimnis kennen lernen willst, das ist nur ein weißes Pulver. Nicht ganz billig, aber äußerst wirksam. Mein Bruder bringt mir hin und wieder etwas aus Südamerika mit. Es wird aus Kokablättern der Inkas gewonnen.«

       Rhonda sprach von Kokain, das schon seit Ende des 19. Jahrhunderts vor allem als örtliches Betäubungsmittel angewandt wurde. In gewissen Kreisen stieg es unaufhaltsam zur Modedroge auf und trat seinen Siegeszug um die Welt an. Vor allem aber in Paris, Berlin und den USA. Man sah es als Möglichkeit an, der modernen Sinnleere durch künstliche Euphorie entgegenzuwirken. Die Suchterzeugung und das Bombengeschäft, das dahinter stand, übersah man dabei leicht.

       »Lässt du mich mal probieren?«, fragte Ethel, naiv, wie sie war.

       »Ja, warte mal.« Rhonda ging zu ihrer Handtasche und kramte darin herum. »Oh, das tut mir leid. Ich habe nichts mehr dabei. Aber gar nicht so weit von hier, gibt es noch etwas. Wenn du willst, nehme ich dich heute nach der Vorstellung mit. Aber nimm deinen Mantel und deine Tasche mit, damit niemand merkt, dass du noch im Haus bist.«

       Ethel schöpfte keinen Verdacht, als sie von Rhonda in den Heizungskeller geführt wurde, obwohl ihr schon etwas mulmig zumute war. Dort unten war es stickig und staubig, und die riesige Befeuerungsanlage und die dicken Rohrleitungen warfen in der notdürftigen Beleuchtung lange Schatten. Im Mantel und mit ihrer Tasche über dem Arm kam sich Ethel deplaziert vor, aber sie wagte nicht, beides abzulegen, um sich nicht schmutzig zu machen.

       Rhonda steuerte auf eine etwas unebene Ziegelwand zu und löste ohne Probleme einen losen Mauerstein.

       »So, greif da mal mit der Hand rein«, flüsterte sie lächelnd. »Keine Angst, es ist keine Mausefalle drin.«

       Ethel ging etwas in die Knie und streckte gerade ihre Hand aus, als sie einen Schlag am Kopf spürte, der sie besinnungslos zu Boden sinken ließ. Dass es der Ziegelstein war, mit dem sie Rhonda niedergeschlagen hatte, bekam sie nicht mehr mit.

       Rhonda funktionierte wie ein Uhrwerk. Ohne lange nachzudenken, zerrte sie den Körper der Kollegin vor die Heizungsanlage, öffnete die Feuerluke und wuchtete ihre schwere Last in die höllenartige Glut des Ofens. Zum Schluss warf sie die Handtasche hinterher und schloss die schwere Eisentür. Dabei zeigte sich ein böses Grinsen in ihrem Gesicht. Dass sie sich die Hände verbrannt hatte, stellte sie erst fest, als sie ihren grausamen Plan zu Ende geführt hatte.

      Am nächsten Vormittag herrschte große Aufregung im Theater, weil Ethel nicht zur Probe erschien und Rhonda mit bandagierten Händen ankam. Regisseur und Choreograph berieten sich hektisch. Schließlich kam Don Davis zu Rhonda herüber.

       »Weißt du, wo deine Freundin steckt?«

       »Nein, keine Ahnung, ist sie noch nicht im Haus?«

       »Dann würde ich wohl kaum fragen. So ist das mit euch Girls. Kaum lässt man euch erste Sonderrechte, schon bekommt ihr Starallüren. Aber ohne mich. Wer hier nicht pünktlich erscheint, fliegt. Eigentlich wollte ich, dass du Ethels Tänze übernimmst, aber wie es aussieht, bist du ein Fall für den Doktor. Womit gleich beide Solotänzerinnen ausfallen.«

       »Ich tanze ja nicht auf den Händen«, sagte Rhonda keck. »Zur Vorstellung nehme ich natürlich die Bandagen ab. Aus der Ferne werden die Verletzungen kaum auffallen. Außerdem sind die Hände das Letzte, wohin die Kerle bei uns sehen.«

       »Davon will ich mir selber ein Bild machen. Los runter mit den Verbänden.«

       Rhonda wickelte die Binden ab und drehte die Hände so, dass man kaum etwas erkennen konnte, aber Don Davis sah genau hin.

       »Igitt, das ist ja eklig. Man könnte meinen, du hast Lepra«, sagte er angewidert. »Wie holt man sich so etwas?«

       »Tja, unsereins hat keine Zentralheizung wie manch feine Herrschaft. Und ein Kanonenofen hat eben so seine Tücken …«

       »Du wirst keine Nummer ohne Handschuhe tanzen. Das sage ich dir.«

       »Tue ich doch sowieso nicht, bis auf eine. Also wozu die Aufregung.«

       Don Davis und der Choreograph berieten sich wieder. »Meinst du, wir kriegen das hin?«, fragte Don. »Und wen nehmen wir für die anderen Soli?«

       »Ich würde vorschlagen Moira. Die hat zwar eine ähnlich große Klappe, aber tänzerisch ist sie top.«

       »Gut, versuchen wir’s. Würde mich nicht wundern, wenn die beiden sich die Augen auskratzen. Freundinnen werden sie jedenfalls nicht werden.« Dann wandte sich Don an die Truppe. »Alle mal herhören. Die Girls haben jetzt einen Moment frei und können sich etwas aufwärmen. Zuerst wird Rhonda einige Parts von Ethel einstudieren, danach Moira den Rest, und die anderen kommen anschließend dran. Wir müssen sehen, wie wir die Lücke von Moira