Jo Caminos

Tempus Z


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nach Deutschland. Erst heute Morgen hatte Charlotte ihre Freunde kurz darüber informiert, dass sie die USA verlassen und ebenfalls mit zurückfliegen würde. Jedem der Freunde war klar, dass sie sich danach wahrscheinlich aus den Augen verlieren würden. Es stand wohl in den Sternen, ob und wann sie jemals wieder etwas gemeinsam unternehmen würden, dafür verband sie einfach zu wenig - nach all den Jahren.

      Eigentlich hätten sie schon längst den Rand des Nationalparks erreicht haben müssen, doch sie hatten sich schrecklich verfahren, und irrten nun über schmale Straßen, die oft nur Wegen glichen. Der Nationalpark schien verlassen zu sein. Trotzdem war es seltsam, dass keine anderen Wohnmobile mehr zu sehen waren, ihnen auch keine begegneten. Es ist früh am Morgen, die Menschen schlafen noch, das ist alles, dachte Charlotte. Irgendwie hatte sie ein ungutes Gefühl, doch sie rechnete es Sam zu, ihrem Mann, den sie, so hoffte sie zumindest, niemals wiedersehen würde.

      „Ist hier draußen nicht ungewöhnlich mit den Handys“, sagte Charlotte leise und sah Sonja kurz in die Augen. Du nervst, Sunny! Und das nicht wenig! Sonja schien zu bemerken, dass ihre Freundin nicht unbedingt beste Laune hatte, und nahm wieder an der Essnische Platz. Fast wäre sie hingefallen, als Roland zu schnell in eine Kurve fuhr. Die Waldstrecke war schmal, die Äste hingen tief bis über die Straße.

      Sonja warf Roland einen giftigen Blick zu, sagte aber nichts. Es hatte genügend Streit in den vergangenen Wochen gegeben.

      Charlotte war tief in Gedanken. Sie wendete den Blick ab und sah nach draußen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es hell wurde. Weg!, schrie es in ihr. Nur noch weg von hier! Sie meinte damit nicht nur ihr Zuhause hier in den Staaten, sondern alles und jeden, was mit ihrem Abenteuer USA zusammenhing. Jenes Abenteuer, in das sie sich vor Jahrzehnten mit Begeisterung - oder war es Verzweiflung gewesen? - hineingestürzt hatte. Alle Brücken würde sie hinter sich abbrechen. Es sollte für immer sein.

      Mitte fünfzig, desillusioniert und frustriert. Drei Kinder hatte sie zur Welt gebracht und miterleben müssen, wie ihre Ehe - was war das? - nach und nach in die Brüche gegangen war. Nach dem ersten Kind war da noch die Hoffnung gewesen, das Sam - ihr Mann - sich ändern würde. Dass er ein Familienvater werden würde und nicht mehr nur Baseball und die Sauforgien mit seinen Kollegen von der Air Force Base im Kopf hätte. Dann kam das zweite Kind, und mit ihm keimte auch in ihr neue Hoffnung, dass sich in ihrem Leben doch etwas ändern könnte - zum Positiven, dass es da ein richtiges, ein anderes Leben geben könnte. Doch alles wurde nur noch schlimmer. Und mit dem dritten Kind war ihr dann schmerzlich bewusst geworden, dass es ein Fehler gewesen war, noch ein Kind in die Welt zu setzen. Sam - ihr Mann - würde sich niemals ändern. Und sie war nicht bereit, seine Demütigungen noch länger zu ertragen: Schläge, Vergewaltigungen, wenn er im Suff nach einer Zechtour mit seinen Kumpels nach Hause kam - oder wenn er mit ihrer Haushaltsführung nicht zufrieden war und sie deutsche Schlampe nannte und nach ihr trat.

      Nein, sie würde es nicht mehr länger hinnehmen und nach Deutschland zurückkehren. Hier in den Staaten gab es für sie keine Hoffnung auf einen Neuanfang. Es war ein Fehler gewesen, alle Brücken zu ihrer Familie abzubrechen, nicht oder selten auf die Briefe ihrer Mutter oder Schwester zu reagieren, die selbst nach Jahren noch immer kamen.

      Fast erschien es ihr wie ein Wink des Schicksals, als sich ihre alte Studienkollegin Sonja Salzmann nach langer Zeit, in der sie nur wenig oder gar keinen Kontakt gehabt hatten, mit der Nachricht bei ihr meldete, dass ein Teil der alten Clique eine Trekking-Tour in den Mark-Twain-Nationalpark unternehmen wollte. Das wird cool, hatte Sonja geschrieben, so wie in den besten Tagen unseres Lebens, Charlotte, glaube mir! Denke an die Zeit an der Uni. Das wird ein Revival alter Zeiten - nach all den Jahren.

      Charlotte hatte begeistert zusagen wollen, dann aber an Sam denken müssen, ihren Mann. Insbesondere an seine Reaktion, wenn sie ihm mitteilen würde, dass Sonja, Roland und Peter in die Staaten kämen und sie mit ihnen auf Trekking-Tour gehen wollte. Sam würde das nicht gefallen, ganz und gar nicht. Er hatte nichts für die intellektuellen Spinner übrig, wie er sie nannte. Schon damals nicht, und so wie er mit den Jahren immer weiter abgestumpft war, würde er sie - Charlotte - wahrscheinlich zuerst einmal verprügeln, wenn sie ihm mit dem Vorschlag kam, dass sie und ihre alten Freunde und Freundinnen aus Uni-Tagen auf Trekking-Tour gehen wollten.

      Also hatte sie Sam nichts gesagt. Stattdessen hatte sie einfach ihre Koffer gepackt, das Ticket vorbestellt, ihre Familie, mit der sie streng genommen seit Jahren keinen richtigen Kontakt mehr hatte, per E-Mail kontaktiert und alles für den Absprung vorbereitet. Adios USA, Adios Sam, Adios liebe Kinder ... Macht´s gut, eure Charlotte will endlich leben ... Und das Schicksal schien auf ihrer Seite zu sein, denn Sam war in ein Großmanöver der Air Force einberufen worden, als Sonja, Roland und Peter dann schließlich kamen.

      Keiner der Freunde hatte nach der Ankunft in den Staaten groß nach Sam gefragt, der zu der Zeit bereits im Manöver war. Sam mochte sie nicht, das wussten sie genau. Und auch ihre Sympathie hielt sich, vorsichtig ausgedrückt, so ziemlich in Grenzen. Im Klartext: Sie hielten ihn für einen gewalttätigen Proleten, der zu schnell und zu gerne zuschlug. Peter, Roland und Sonja hatten Sam von Anfang an abgelehnt und wohl nur Charlotte zuliebe gute Miene zum bösen Spiel gemacht, damals, als Sam noch auf der Rhein-Main Air Base stationiert war. Das wusste Charlotte, auch wenn sie es sich erst sehr spät hatte eingestehen wollen. Damals war sie wohl blind gewesen - blind vor Liebe - was war das?

      „Wo sind wir?“, murmelte Peter Marstaller heiser. Als Roland sich mehrmals verfahren hatte und es fast zu einem Streit zwischen den beiden gekommen wäre, hatte Peter sich auf einen der hinteren Sitze des Wohnmobils verzogen und war dann irgendwann eingenickt. Er war gerade erst wieder wach geworden und klang etwas verschnupft. Er rekelte sich gemütlich in seinem Sitz und sah durch die verschmutzten Scheiben nach draußen, dann gähnte er herzhaft und lehnte sich wieder in den Sitz zurück. Ihm war etwas kalt, aber das war meistens so, wenn er gerade erwacht war.

      „Etwa zwei Stunden vor Billings“, erwiderte Roland, der kurz in den Rückspiegel sah. „Tut mir leid wegen vorhin, Peter.“

      Peter Marstaller gähnte erneut und winkte ab. „Schon gut, ... Ist ja nicht so leicht, sich hier in der Dunkelheit zurechtzufinden.“

      Charlotte musste grinsen, als sie an Roland und Peter dachte. Glücklich geschiedene Mittfünfziger, die es sich finanziell leisten konnten, ein Sabbatjahr einzulegen, wie man das heutzutage wohl so nannte. Raus aus der Routine und ab ins Abenteuer. Wenn nicht jetzt, wann dann ...

      Und dann war da noch Sonja ... Viermal glücklich geschieden - und mit jeder Scheidung ein bisschen reicher geworden, vielleicht - oder vor allem - noch etwas glücklicher. Sonja, die nie die perfekte Schönheit gewesen war, von jeher zu viel Speck auf den Hüften hatte, aber durch Witz - oder war es ihre große Klappe? - mehr Verehrer hatte, als manche Blondine mit Mega-Sex-Appeal.

      Tja, dachte Charlotte. Und dann wäre da noch ich. Das Riesentalent, die Einserschülerin und Einserstudentin, die ihr Leben so grandios in den Sand gesetzt hatte. Aus Liebe zu einem dämlichen Yankee, der im Bett wohl verdammt gut war, aber ansonsten nur ziemliches Mus in der Birne hatte. Nun, manche Sünden verzeiht das Leben - oder der liebe Gott - und für manche musst du bezahlen. Sie war es leid, bezahlen zu müssen, das hatte sie lange genug getan. Sie war Mitte fünfzig. Da war das Leben noch lange nicht vorbei. Sie hatte lange genug gewartet, gelitten und ertragen und noch mehr gelitten ... Es galt, einen Schlussstrich zu ziehen. Jetzt, nicht irgendwann.

      Ach ja, da war ja noch das Sahnehäubchen. Das Tüpfelchen auf dem i: ihre Kinder. Der erste Sohn, so vielversprechend, so talentiert, so genial - mein Gott, was sind Mütter blöd ... - hielt sich als Schläger oder Ähnliches über Wasser. Der Zweitgeborene war etwas besser. Wenigstens tat er niemandem weh, was allerdings keine große Leistung war, wenn man den ganzen Tag über bekifft im Sessel hing und sich Pornos reinzog und von der Stütze lebte. Tja, und Kind Nummer Drei - da hatte es der liebe Gott wohl so ziemlich versaut - war ein emotional gestörter Autist, der zu epileptischen Anfällen neigte und jedem vor die Füße kotzte. Nun denn, die Schwestern der Barmherzigkeit hatten wohl ihre wahre Freude an diesem Menschenkind, immerhin gab es da so einiges zu pflegen und wenig gut zu