Jo Caminos

Tempus Z


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sie nichts anderes erwartet.

      „Ist der besoffen?“, fragte Peter. „Der Kerl schwankt, als hätte er einige Bierchen zu viel im Blut.“

      „Wie höflich du bist“, kicherte Sonja albern. „Ich würde eher sagen: sternhagelvoll, aber ...“

      „Ins Wohnmobil!“, kommandierte Roland, der Charlotte einen schnellen Blick zuwarf. Sie stiegen wieder ein. Sonja schüttelte missmutig den Kopf, als sie wieder an der Essnische Platz genommen hatte. Die haben überhaupt keinen Humor mehr!, dachte sie verstimmt. Sie war froh, dass die Trekking-Tour zu Ende war. Die Stimmung früherer Zeiten hatte sich einfach nicht mehr einstellen wollen.

      „Fahr ganz langsam an den Wagen vorbei weiter Richtung Ortsausgang. Billings besteht per se nur aus der Main Street, die Seitenstraßen kannst du vergessen, die enden alle in Sackgassen“, sagte Charlotte, als Roland den Motor gestartet hatte und das Wohnmobil langsam anrollen ließ. Der Unbekannte auf dem Bürgersteig war noch immer nur eine dunkle Silhouette, die aus gut fünfzig Metern Entfernung langsam näher kam.

      „Der sieht verletzt aus“, murmelte Peter. Er stand mittlerweile zwischen Fahrer- und Beifahrersitz und starrte durch die Frontscheibe zu der torkelnden Gestalt. „Das Einzige, was an mir noch gut funktioniert, sind meine Augen“, bemerkte er kurz halblaut, ging aber nicht weiter auf die Aussage ein. Peter hatte in den letzten Jahren etliche Probleme mit dem Rücken gehabt, doch die empfohlene Bandscheibenoperation hatte er niemals durchführen lassen. Ihm waren die Erfolgsaussichten einfach zu gering erschienen, also probierte er es stattdessen mit Kraftsport und Gymnastik.

      „Jetzt sehe ich es auch“, bestätigte Roland.

      Der schwankende Mann - oder war es eine Frau? - schien blutüberströmt zu sein. Er hinkte und zog ein Bein hinter sich her. Der rechte Arm hing irgendwie verdreht an der Schulter, als wäre er mehrfach gebrochen und zusätzlich aus dem Gelenk gedreht worden.

      „Wir müssen ihm helfen“, stellte Sonja mit heiserer Stimme fest. Sie hatte ihre Brille aufgesetzt, die sie auch nicht intelligenter aussehen ließ, und war nach vorne gekommen, wo sie dicht neben Peter stehen geblieben war. Peter hasste es, wenn ihm Sonja derart auf die Pelle rückte, aber er sagte nichts. Es würde doch nur wieder Streit geben. Darauf konnte er verzichten. Roland fuhr langsam weiter und manövrierte den Camper um zwei Autos herum, die schief auf der Straße abgestellt waren. Der Fremde war schwankend stehen geblieben. Offensichtlich hatte er das Wohnmobil entdeckt. Fast sah es aus, als würde er auf etwas herumkauen. Sein Kiefer bewegte sich unentwegt. Dann setzte er sich wieder in Bewegung. Er war noch 35 oder 40 Meter entfernt.

      „Mein Gott, schaut euch sein Gesicht an,“ stieß Peter plötzlich hervor. „Ein Auge fehlt, und die Schädeldecke ist aufgerissen, und ...“

      „Halt an!“, sagte Charlotte schnell zu Roland, der diese Aufforderung nicht brauchte.

      „Wir müssen ihm helfen, ich gehe zu ihm hin und ...“, setzte Sonja an, doch Roland fuhr ihr in die Parade.

      „Niemand geht nirgendwohin! Türen verriegeln. Da stimmt was nicht! So, wie der Mann oder das ... Ding da aussieht, kann kein Mensch sich mehr bewegen. Der müsste tot sein!“

      „Ihr seid ja nicht ganz bei Trost“, giftete Sonja. „So ein Blödsinn! Der Mann wurde wahrscheinlich zusammengeschlagen und niemand hilft ihm! Ich ...“

      „Sonja ...“, setzte Charlotte an, doch da hatte ihre Freundin aus Studienzeiten schon die Seitentür des Campers geöffnet und war aus dem zum Stillstand gekommenen Wohnmobil hinausgesprungen. Sonja, die noch nie die Schnellste auf den Beinen war, watschelte in dem ihr eigenen Gang auf den Fremden zu und rief etwas, das man halbwegs als Do you need help! identifizieren konnte. Der Mann - wenn es ein Mann war - schwankte langsam auf sie zu. Es sah aus, als könne er sich kaum noch auf den Beinen halten. Sein Kiefer bewegte sich unentwegt, so, als würde er auf einem zähen Stück Fleisch herumkauen.

      „Nicht verdammt!“, fluchte Roland, als Charlotte Sonja hinterher wollte. „Ich fahre noch ein Stück näher ran.“ Er beschleunigte etwas, um Sonja einzuholen, die den Fremden mittlerweile erreicht hatte und wild gestikulierend auf ihn einzureden schien. Plötzlich sah es aus, als würde der Fremde Sonja in die Arme fallen oder sie umarmen. Dann ereigneten sich verschiedene Dinge gleichzeitig. An einem der Häuser entlang der Main Street öffnete sich im zweiten Stock ein Fenster. Irgendjemand mit einem Gewehr zielte auf Sonja und den Fremden. Aber es fiel kein Schuss.

      „No, no, away, don´t touch, run ...“, rief jemand vom Fenster her. Die Stimme hallte durch die Straße.

      Charlotte hielt es nicht mehr auf dem Sitz. Sie warf Roland einen schnellen Blick zu, der das Wohnmobil keine zehn Meter vor Sonja und dem Fremden zum Halten gebracht hatte, und eilte aus dem Camper. Peter und Roland folgten ihr Augenblicke später. Sie blieben vor dem Camper stehen und warfen sich einen schnellen Blick zu, doch noch bevor sie zu Sonja hingehen konnten, schrie ihre Freundin plötzlich entsetzt auf. Charlotte glaubte, gesehen zu haben, dass der Fremde Sonja in den Nacken gebissen hatte, und wollte zu ihr hinlaufen, doch Roland hielt sie am Arm fest. Sonja und der Mann rangelten miteinander. Immer wieder versuchte Sonja, ihn von sich zu stoßen. Dann fiel der Fremde hin und blieb grunzend am Boden liegen. Sonja wandte sich schnell um und taumelte mit schmerzverzehrtem Gesicht zu den Freunden zurück. Charlotte nahm Sonja in die Arme.

      Der Fremde versuchte, sich gerade wieder aufzurappeln, als ein Schuss die morgendliche Stille in Billings zerriss.

      Wo eben noch der Kopf des Fremden gewesen war, breitete sich eine blutige Masse über den Bürgersteig aus.

      Peter und Roland sahen sich gehetzt um und zogen Charlotte und Sonja zum Camper zurück, um dort halbwegs Deckung zu finden.

      Das Stöhnen ist weg!, fuhr es Charlotte durch den Kopf. Das war es, was sie die ganze Zeit über irritiert hatte. Sie hatte den Laut nicht zuordnen können. Es war nicht das Stöhnen eines Verwundeten gewesen, es klang - wilder, animalischer. Sie meinte die Laute, die der Unbekannte von sich gegeben hatte.

      „Das Schwein hat mich gebissen, gebissen, ist das zu glauben, ich glaub´s einfach nicht, ich ...“, jammerte Sonja, die sich mit dem Rücken gegen den Camper fallen ließ und den Kopf senkte. Ihr war schwindlig, und sie glaubte, umkippen zu müssen. „Das hat man jetzt davon, wenn man zu hilfsbereit ist. Lasst nur, mir geht es schon wieder besser. Muss nur kurz durchschnaufen“, stöhnte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht, lächelte aber dabei.

      „Zurück ins Wohnmobil! Los, bevor die uns auch noch abknallen!“, sagte Roland schnell. Er wollte gerade einsteigen, als Charlotte und Peter Sonja festhalten mussten, der es offensichtlich doch schlechter ging, als sie hatte zugeben wollen.

      Roland sah schnell die Straße entlang, hoch zu den Fenstern, von wo aus der Schuss gekommen war. Das Fenster war wieder geschlossen worden.

      „Lass mal sehen“, sagte Charlotte, die sich die Verletzung ansehen wollte, zu Sonja.

      „Schlimm?“, fragte Sonja schluchzend.

      „Na ja, schön sieht es nicht aus“, murmelte Charlotte kopfschüttelnd.

      Plötzlich standen zwei Männer vor der Clique. Bewaffnete Männer. Keiner hatte sie kommen hören. Sie hielten den Lauf der Gewehre nach unten.

      „Wurde sie gebissen“, brachte einer der Männer heiser zwischen den Lippen hervor. Offensichtlich hatten Roland und Peter Verständnisprobleme. Sonja sah Charlotte fragend an, die die beiden Fremden stumm musterte.

      „Ja“, sagte Charlotte.

      „Wo?“, fragte der größere der Männer.

      „Oberer Schulterbereich, das muss genäht werden. Habt ihr hier einen Arzt?“, fragte Charlotte zurück. Sie ignorierte die Waffen. Sehen nicht wie Freaks aus!, schoss es ihr durch den Kopf. „Sonst müssen wir nach Baxter. Mit Bissen von Menschen ist nicht zu spaßen, da ...“

      „Weg von ihr!“, forderte der kleinere der beiden Männer sie auf. Der größere richtete die Waffe auf Sonja und sagte: „Move.