Jo Caminos

Tempus Z


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Leider trafen ihre Gedanken wohl so ziemlich ins Schwarze. Diese Familie - Familie? - war eine Katastrophe. Und sie hatte genug von Katastrophen, nach all den Jahren, nach all dem Leid.

      Roland hatte das Radio eingeschaltet, doch hier draußen war das mit dem Empfang so eine Sache, das wusste Charlotte. Immerhin hatten sie vorgesorgt und genügend Musikmaterial in Form von MP3-Dateien auf ihren Player überspielt. Abends am Lagerfeuer hatte es sehr oft Disco geheißen. Die Hits der Achtziger, als sie jung waren. Damals, vor langer, langer Zeit, in einem anderen Leben, weit, weit entfernt ...

      „... Nationalgarde ... kein Grund zur Beunruhigung ... Ruhe bewahren ... Nachrichten abwarten ...“, kam es plötzlich aus den Lautsprechern. „Achten Sie ... diese Durchsage ... Bleiben ... Häusern. Dann wieder Rauschen, atmosphärische Störungen - oder was man als solche bezeichnete. Roland versuchte, einen anderen Sender hereinzubekommen, doch Charlotte klatschte ihm leicht auf die Finger.

      „Konzentriere dich auf die Straße, ich mache das“, sagte sie schnell und machte sich am Sendersuchlauf zu schaffen.

      „Ist was passiert?“, fragte Sonja, deren Englisch noch immer eher rudimentär ausgeprägt war - was einige amerikanische Jungs ältere Bauart nicht davon abgehalten hatte, mit dem deutschen Prachtweib auf Tuchfühlung zu gehen. Sonja hatte das natürlich ziemlich schräg und großartig gefunden. Sie liebte es, umschwärmt zu werden. Was sie nicht bedachte, war, dass sich die meisten nur über sie lustig machten und mehr an ihrem Geld interessiert waren als an ihr selbst.

      „Ich meine“, plapperte sie weiter, „mein Englisch ist halt nicht so gut, das wisst ihr ja.“

      Peter grinste. „Das ist die Untertreibung des Jahrtausends. Dein Akzent ist tödlich, absolut killerfähig, und ...“

      „Seid mal still!“, zischte Charlotte, der das Geplänkel auf die Nerven ging.

      Sonja verzog das Gesicht und grinste im Breitwandformat, doch wenigstens hielt sie einmal den Mund, was bei ihr nicht oft vorkam. Peter sah verstohlen unter sich. Charlotte wusste, dass er früher in sie verliebt gewesen war, doch das war vor ihrer Krebserkrankung, die sie fast das Leben gekostet hätte. Nun, sie hatte überlebt, doch der Preis der vielen Operationen und Chemos war, dass von ihrer früheren Schönheit nichts oder wenig geblieben war. Wenigstens waren die Haare zurückgekommen, auch wenn sie diese als mittlerweile Mittfünfzigerin streng genommen viel zu lang trug. Gruselig, die sieht ja aus wie ein Zombie. Der möchte ich nicht im Dunklen begegnen, waren einige der wenig charmanten Aussagen, die man hinter vorgehaltener Hand über sie losgelassen hatte, viel zu oft. Leider entsprach das der Wahrheit. Knapp über einsfünfzig groß, gertenschlank, mit Tendenz zur Magersucht, mit riesigen Glupschaugen und den für ihr Alter viel zu lang getragenen Haaren, war sich Charlotte nur zu bewusst, dass sie nicht als Durchschnittstype durchging. Ungewollt zog sie die Blicke ihrer Mitmenschen auf sich. Daran würde sie sich wohl niemals gewöhnen können, auch wenn sie meistens so tat, als wäre es ihr egal, wenn böswillig über ihr Aussehen gelästert wurde.

      „Ist jetzt Krieg oder was?“, fragte Roland. Er fuhr langsamer und verfolgte mit den Augen eine Hubschrauberstaffel - mindestens zehn Maschinen - die in schnellem Flug westwärts zogen. Er warf Charlotte einen kurzen Blick zu.

      „So ungewöhnlich ist das nicht, vielleicht gehört die Hubschrauberstaffel zur Air Force Base. Was weiß ich ...“, erwiderte Charlotte lahm. Sie dachte an Whitehawk Air Force Base, wo Sam stationiert war und sich in irgendeinem Großmanöver befand. Irgendetwas Geheimes, das wohl wieder mit Terroristen oder ähnlichen Irren zu tun hatte, die aus Jux und Tollerei mal wieder die Welt in die Luft jagen wollten. Die Welt war voll von solchen Chaoten. Charlotte interessierte es nicht. Sam und sie redeten schon seit einer Ewigkeit nicht mehr miteinander. Er kam heim, aß sein Essen, trank sein Bier - und das war es dann, bis er wieder einen seiner Anfälle bekam und sie in die Mangel nahm.

      Charlotte versuchte es erneut mit dem Sendersuchlauf, gab dann aber auf, als nichts, außer Rauschen aus dem Lautsprecher kam. Sie griff nach ihrem Handy, doch nach wie vor zeigte der Balken auf dem Display nur an, dass keine Verbindung möglich war. Tot ...

      Charlotte griff nach ihren Zigaretten und warf Sonja einen warnenden Blick zu, die höchstwahrscheinlich kurz davor stand, mal wieder eine verbale Spitze gegen die Raucherei abzuschießen. Charlotte inhalierte tief. Sie kehrte sich einen Dreck um die Warnungen der Ärzte. Sie hatte den Krebs überlebt, sie hatte ihren Mann überlebt - bis jetzt. Und sie wollte weiterleben, überleben, irgendwie ...

      „Mit dem Handy-Empfang, das ist komisch“, sagte sie, nachdem sie den Zigarettenrest im Ascher zerdrückt hatte. „Mittlerweile müssten wir eigentlich ein Netz gekommen.

      Keiner ihrer Freunde erwiderte etwas. Schließlich wies Roland durch die Frontscheibe zu einem Straßenschild, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Billings View, stand darauf. „Da vorne halten wir an und machen eine kurze Pause.

      Kurz drauf ließ er den Camper auf dem Rastplatz ausrollen. Es gab dort einige Bänke und Tische. Vor allem die Aussicht von hier oben war fantastisch.

      „Keine Rauchschwaden, kein Feuer, keine Bomben“, kicherte Sonja albern, als die vier den Camper verlassen hatten und den Blick über das weite Land schweifen ließen. Ein frischer Wind blies ihnen entgegen. In der Ferne war Billings zu sehen - oder besser zu erahnen. Dunstschwaden hingen über der weiten Ebene.

      Aus östlicher Richtung war plötzlich ein Brummen zu hören, das schnell lauter wurde. Sie drehten sich um und erblickten eine weitere Hubschrauberstaffel, die wie die erste zuvor mit hoher Geschwindigkeit nach Westen flog.

      „Scheint ein größeres Manöver zu sein“, murmelte Roland und zerdrückte seine Zigarette mit dem Absatz. Die Zigarette ekelte ihn an. Er hatte vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört, doch bei dem Chaos in seinem Leben, hatte er vor einigen Monaten wieder damit angefangen. „Kommt, machen wir, dass wir weiterkommen.“

       2. Kapitel

       Welcome to Billings

      Roland Pfeiffer hatte das, was er seinen persönlichen Blues nannte. Fast dreißig Jahre war es her, dass sich der harte Kern der Clique von damals wieder zusammengefunden hatte. Dreißig Jahre, in denen jeder von ihnen seinen eigenen Weg gegangen war, seine eigene Karriere - oder auch nichts - verfolgt hatte. Alles war anders gekommen, als er es sich vorgestellt hatte. Vielleicht lag darin das Problem: zu große Erwartungen, die einen zu großen Zeitraum überbrücken sollten. Der Peter von heute war nicht mehr der Kumpel von damals. Peter Marstaller hatte einfach keinen Pepp mehr. Er war nur noch ein braver, langweiliger Mann Mitte fünfzig, dem es finanziell sehr gut ging, der allerdings keine Träume mehr hatte - oder nicht bereit war, über sie zu reden oder sie gar zu leben.

      Und Sonja ... Viermal geschieden, glücklicher denn je - nach eigenen Worten. Auch bei ihr spielte der Faktor Zeit die entscheidende Rolle. Vor fast dreißig Jahren, als sie sich im Studium befanden, war Sonja originell gewesen. War sie das? Eine Type, mit der man durch dick und dünn gehen und sprichwörtlich Pferde stehlen konnte. Sonja hatte sich von jeher nie um Konventionen gekümmert. Lebe dein Leben, und vergiss, was die anderen sagen - oder denken ... Damals. Mittlerweile empfand er Sonja nur noch als peinlich. Ein Plappermaul, das unentwegt irgendeinen Müll von sich gab. Das Leben war groß und großartig, und wir alle sind ja so cool. Und finanzielle Sorgen - die haben die anderen. Also machen wir einen drauf. Nun, mit Anfang zwanzig mag so etwas noch cool erscheinen, doch ihre Zwanziger waren lange vorbei, und irgendwie war es nur noch öde, den Verbalergüssen der eher unhübschen Mittfünfzigerin zuhören zu müssen.

      Roland seufzte. Er starrte nach vorne durch die Windschutzscheibe des Campers. Sie hatten die nur teilweise befestigte Seitenstraße, die aus den Wäldern zurück in die Zivilisation führte, seit einer halben Stunde hinter sich gelassen und befanden sich auf einer Landstraße nach Billings. Nicht ein anderes Auto war ihnen begegnet, auch keine Wohnmobile, aber Charlotte hatte nur darauf hingewiesen, dass diese Landstraße wohl eher selten frequentiert wurde. Hier, das waren die