Smila Spielmann

Die lichten Reiche


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Seine Stimme klang so verzweifelt, dass Crystal wünschte, Lucthen würde den Jungen in Ruhe lassen, doch sie wusste nicht, wie sie das erreichen konnte. „Es wurde mir nicht gestattet sie zu beenden. Ich hatte schon die zweite Stufe der Grauen erreicht. Du musst dir also keine Sorgen machen. Mein Körper ist Wasser im Wasser; ich richte keinen Schaden an.“ Crystal war überrascht, doch Lucthen wirkte beunruhigt.

      „Was hast du getan?“, fragte er schließlich. Corus stockte und warf Dawn einen traurigen Blick zu. Das Schweigen zog sich hin, bis er sich schließlich einen Ruck gab und zu erzählen anfing.

      „Ich… ich war nicht besonders beliebt in der Akademie. Ich war zu schüchtern um mit den Anderen zu sprechen und ich war einsam. Bis Micel an die Akademie kam. Wir wurden Freunde. Ich habe nie verstanden, warum er ausgerechnet meine Freundschaft gesucht hat, denn ihn konnten alle gut leiden. Er war groß für sein Alter, selbstsicher und sehr begabt. Gemeinsam mit Micel war die Akademie ein wunderbarer Ort. Wir haben so viel Blödsinn angestellt… Dann eines Tages gab es einen schrecklichen Unfall. Wir waren an einem See und kletterten auf Bäume, um uns dann ins Wasser fallen zu lassen. Wir haben viel gelacht, doch dann… Micel sprang ins Wasser und ich dachte, er will mich erschrecken, weil er nicht mehr aufgetaucht ist. Er war immer länger unter Wasser und ich wurde unruhig. Ich sprang in den See und dort fand ich ihn. Er hatte eine Wunde am Kopf. Da war so viel Blut und er atmete nicht mehr.“ Corus’ tränenerstickte Stimme wurde immer leiser und Crystals Herz zog sich zusammen. Sie wusste, wie es sich anfühlte einen geliebten Menschen zu verlieren. „Ich habe ihn ans Ufer geschleppt und bin neben ihm gesessen, bis es dunkel wurde. In meinem Kopf war alles ganz durcheinander. Ich wusste nur eins: ich kann ohne ihn nicht weitermachen. Schließlich zog ich mich an und ging zur Akademie zurück. Ich sagte niemandem was passiert war, sondern ging zur Bibliothek und machte mich auf die Suche nach einem ganz bestimmten Buch. Micel und ich hatten es irgendwann zufällig entdeckt, als ein Magus vergessen hatte, es zurückzustellen. Ein Buch über die Magie der Dunklen.“ Lucthen sog scharf den Atem ein und fixierte Corus mit noch grimmigerem Blick. Corus reckte trotzig die Schultern. „Ich konnte ihn nicht verlieren, ich konnte es nicht! Also habe ich seinen Körper nachts heimlich in die Akademie gebracht um… um ihn wieder zu beleben. Es war riskant. Ich wusste nicht, ob die Gesten funktionieren würden und ich wusste, dass diese Art von Magie weit über meine Kräfte ging und dennoch wollte ich es versuchen. Sobald ich angefangen hatte, wurde es plötzlich dunkel. Die Kerzen brannten noch, doch sie verdichteten nur die Schatten und es wurde kalt und immer kälter. Es wurde immer schwieriger die Gesten auszuführen, doch ich war so fest entschlossen, dass ich weitermachte, bis irgendwann die Tür aufflog und jemand meine Hände gewaltsam festhielt. Ich hatte mit meinem Zauber sämtliche Magi der Akademie geweckt und alle standen um mich herum und sahen mich betroffen an. In dem Moment begriff ich nur, dass ich versagt hatte, dass es mir nicht gelungen war Micel zurückzuholen. Am nächsten Tag wurde entschieden, dass ich die Akademie zu verlassen hatte. Ich war immer noch wie betäubt; ich wusste nicht wohin. Nach Hause konnte ich nicht. Ich konnte meinen Eltern nicht sagen, wie sehr ich sie enttäuscht hatte. Letztendlich landete ich bei den Gauklern.“ Corus barg sein Gesicht in den Händen und krümmte sich wie unter Schmerzen. Dawn legte ihm die Arme um die Schultern und redete beruhigend auf ihn ein. Crystal stand unter Schock. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet. Tenebris war tot, die Dunklen vom Antlitz der Erde verschwunden, die Welt war licht. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass sich ein Mensch von der Dunkelheit verführen lassen konnte, dass die Dunkelheit selbst jetzt noch, nach so langer Zeit, ihre Schatten warf. Doch dann dachte sie an die Mörder ihrer Familie und begriff, dass sie schon einmal der Dunkelheit begegnet war.

      Der Magus saß scheinbar ungerührt auf seinem Platz, doch in seinem Inneren tobte ein Sturm. Die Tragweite dessen, was der Junge versucht hatte, konnte nicht einmal er vollständig begreifen. Beim Licht! Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass es Elfenzauber gab, die so gut erhalten waren, als dass man sie rekonstruieren konnte. Wie unverantwortlich von den grauen Magi Bücher mit solchem Inhalt einfach herumliegen zu lassen! Es gab in der Geschichte nur eine handvoll Berichte über Menschen, die sich in der Magie der Dunklen versucht hatten und sie alle endeten mit gewaltsamem Tod. Ein normaler Mann würde vermutlich nie auf die Idee kommen, die Dunkelheit um Hilfe zu bitten – zu einem toten Gott zu beten. Doch die Magi wussten, dass obwohl Tenebris und seine Kreaturen tot waren, seine Magie nicht gestorben war. Sie war Teil der Erde und der Luft und wenn man nur wollte, konnte man an diesem dunklen Netz genauso rühren wie an Lucis’ lichtem. Durch die jahrtausendelange Herrschaft des Lichts war das dunkle Netz verblasst, doch verschwinden würde es vermutlich nie. Lucthen blickte auf den Jungen, der mittlerweile laut schluchzte. Er hatte kein Mitleid mit ihm. Wer dumm genug war so etwas zu versuchen, hatte das Recht verwirkt an einer Akademie zu studieren. Dawn hielt ihren Freund in den Armen und was sie sagte, goss Öl in Lucthens inneres Feuer.

      „Du hast nichts Unrechtes getan, Corus“, versicherte sie ihm. „Es ist nur natürlich, dass du deinen Freund nicht verlieren wolltest. Ehrlich, wenn ich in deiner Lage gewesen wäre, ich hätte das Gleiche versucht.“ Dummes, törichtes Kind. Sie wusste ja nicht, was sie da sagte. Zu Lucthens Erstaunen hob Corus den Kopf, um seiner Freundin zu widersprechen.

      „Nein, Dawn. Ich hätte das nicht tun dürfen. Es war schrecklich falsch; ich weiß das jetzt.“ Um Entschuldigung heischend blickte er zu Lucthen auf. Der Magus seufzte innerlich. Es hatte vermutlich keinen Sinn, wenn er ihn jetzt anschreien würde. Er bezweifelte auch, dass eine Tracht Prügel dem Jungen helfen würde seinen Fehler einzusehen, obwohl es ihm selbst dadurch ohne Zweifel besser gehen würde. Lucthen nickte.

      „Ja, was du getan hast war falsch. Ich gehe davon aus, dass du daraus etwas gelernt hast.“ Corus nickte erschöpft. Verdammt, jetzt tat ihm der Junge doch leid. „Vielleicht war die Strafe zu hart“, hörte er sich zu seiner eigenen Verwunderung sagen, während er aufstand und Crystal seine Hand reichte. „Wir sollten aufbrechen.“ Crystal legte ihre Finger in seine Hand und ließ sich von ihm aufhelfen. Er merkte, dass sie leicht zitterte und so schenkte er ihr ein aufmunterndes Lächeln. Sie wollten gerade die Pferde, die in der Nähe gegrast hatten, einfangen, als aus den Hecken plötzlich zwei Gestalten hervorbrachen. Lucthen erstarrte. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Die Kreaturen gingen auf zwei Beinen, ihre wuchtigen Körper waren von schwarzen Lederrüstungen verdeckt, doch ihre Gesichter hatten nichts Menschliches. Ihre Haut war wie die einer Kröte, dunkel und vernarbt. Die unteren Eckzähne sahen aus wie die Hauer eines Wildschweins und ihre Augen waren völlig schwarz. Die Tatsache, dass sie mit gezogenen Äxten auf sie zustürmten, beunruhigte Lucthen lange nicht so sehr wie ihr seltsames Aussehen. Neben ihm schrie Crystal erschrocken auf und er begriff, dass das kein Traum war. Er reagierte instinktiv. Seine Hände formten die Geste der Bewegung und dann ihre Umkehrung. Zufrieden registrierte er, dass eines der Krötenwesen mitten im Lauf erstarrte. „Schnell, zu den Pferden!“, rief er. Als Crystal nicht reagierte, wollte er sie am Arm packen und mit sich ziehen, doch dann sah er wie Dawn aus ihrer Satteltasche ein Schwert zog und er blieb stehen. Sein Verstand sagte ihm, dass es nur eine Waffe war. Eine Waffe in den Händen eines Freundes und somit weniger gefährlich als die Krötenwesen; und doch hatte er einen Moment lang das Gefühl, dass er sich lieber in die Äxte der Feinde stürzen würde, als Dawn zu nahe zu kommen. Panische Angst stieg in ihm auf und raubte ihm den Atem – ihm wurde schwarz vor Augen… Dann war der Moment vorüber. Entschlossen zog er Crystal mit sich und beobachtete aus den Augenwinkeln wie Dawn auf eine der Kreaturen zulief.

      „Du musst ihr helfen!“, stieß Crystal hervor. Corus lief Dawn hinterher und Lucthen zögerte kurz. Schließlich gab er sich einen Ruck und folgte den Beiden. Crystal hatte Recht. Dawn hatte gegen die Krötenwesen keine Chance. Das Schwert sah so groß und wuchtig aus, dass Lucthen ernsthaft bezweifelte, dass ihr damit auch nur ein einziger Schlag gelingen würde. Er war noch nicht weit gekommen, als Dawn den ersten Angreifer erreicht hatte. Corus schrie eine Warnung und Lucthen fluchte leise. Das Gör würde sich umbringen! Doch dann sah er mit Erstaunen, dass Dawn den ersten Hieb der Axt geschickt parierte und im Gegenzug ihr Schwert mit voller Wucht in den Hals des Angreifers trieb. Mit einem einzigen Streich trennte sie den Kopf vom Rumpf. Ohne innezuhalten sprang sie zu der zweiten Kreatur, die immer noch in Lucthens Zauber gefangen war, und tötete auch diese. Der Magus wusste nicht, ob er befreit aufatmen oder sich vor Dawn in Acht nehmen sollte. Aus den Augenwinkeln nahm er