Smila Spielmann

Die lichten Reiche


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die Dawn jedoch nicht entziffern konnte und als sie mit den Fingern die Kante entlanggefahren war, hatte sie es entdeckt: der Stein war eine Tür! Wenn man sich dagegenstemmte, konnte man ihn so verschieben, dass ein Loch im Boden sichtbar wurde! Sie hatte einen Kieselstein hineingeworfen, um abschätzen zu können wie tief es nach unten ging. Obwohl sie nicht glaubte, dass das Loch besonders tief war, hatte sie seufzend den Stein wieder über die Öffnung gezogen und sich auf den Rückweg in die Taverne gemacht. Es hätte nicht viel Sinn gehabt ohne Laterne und Seil in die Tiefe hinabzusteigen. Jetzt hatte sie endlich die Zeit gefunden um zurückzukehren.

      Dawn entzündete die Laterne und legte das Seil bereit, dann schob sie den Stein beiseite. Ächzend fragte sie sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, niemandem zu sagen was sie vorhatte. Sie hatte überlegt, ob sie ihr Geheimnis Corus anvertrauen sollte, sich jedoch dagegen entschieden. Diesen Fund wollte sie mit niemandem teilen. Außerdem, es konnte ja sein, dass sie nichts fand als eine Grube und in dem Fall wollte sie sich nicht von Corus auslachen lassen, dass sie so viel Aufsehen um ein einfaches Loch gemacht hatte. Endlich gab der Stein nach und glitt zur Seite. Dawn suchte eine Zeit lang herum bis sie eine Möglichkeit gefunden hatte das Seil festzumachen, dann ließ sie das eine Ende in die Tiefe fallen. Sollte sie wirklich so verrückt sein und da nach unten klettern? Vorsichtig hielt sie die Laterne so weit wie möglich hinunter und versuchte den Boden auszuleuchten, doch sie konnte nichts erkennen. Der Drang umzukehren und mit Corus wiederzukommen, oder besser noch ganz fortzubleiben, wurde immer stärker. „Du bist ein Feigling Dawn!“, schalt sie sich. Der Klang ihrer Stimme gab ihr Mut und bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, packte sie mit der einen Hand das Seil und mit der anderen die Laterne und machte sich an den Abstieg. Das Loch war tiefer als sie angenommen hatte und als ihre Füße endlich den Boden berührten, atmete sie erleichtert auf. Zitternd ließ sie das Seil los und schwenkte die Laterne so, dass sie einen Blick auf die Wände werfen konnte. Staunend stellte sie fest, dass diese mit Schriftzeichen und Reliefs verziert waren. Im selben Moment sah sie etwas, was sie kurz auflachen ließ – eine der Wände hatte einen Durchgang. Darauf hatte sie gehofft! Kurz entschlossen trat sie in die Öffnung und erkundete den dahinterliegenden Gang. Modrige, feuchte Luft schlug ihr entgegen. Dawn schluckte krampfhaft. Beim Licht! Das war ekelhaft. Doch sie dachte gar nicht daran jetzt aufzugeben! Dawn schloss kurz die Augen und zwang sich langsam einzuatmen und wieder auszuatmen. Einatmen, ausatmen. Endlich ging sie weiter. Nach ein paar Schritten teilte sich der Gang. Kurz überlegte sie welchen Weg sie nehmen sollte, dann entschied sie sich für den linken. Wenn man den rechten Weg nicht kannte, war eine Entscheidung so gut wie die andere. Als sie wieder zu einer Gabelung kam, ging sie wieder nach links und entschied sich, immer den linken Gang zu nehmen. Auf diese Weise würde sie sich nicht verirren. Je länger sie ging, desto kälter wurde ihr und bald hatte sie zu zählen aufgehört an wie vielen Abzweigungen sie vorüber gekommen war. Sie begriff, dass nicht nur der gesamte Hügel von diesen unterirdischen Gängen durchzogen sein musste, sondern auch das umliegende Land. Immer weiter in die Tiefe führten die Gänge und Dawn wurde immer banger zumute. Was, wenn sie eine Abzweigung übersah und dann den richtigen Weg zurück nicht mehr fand? Was, wenn ihre Lampe ausging und sie in völliger Finsternis zurückblieb? Sie hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, als würde die Erde sie erdrücken und ihre Atemzüge wurden flach und schnell. Sie musste all ihre Willenskraft einsetzen um nicht panisch davonzulaufen. Was tat sie hier eigentlich? Sie musste zurück, zurück ins Licht, sie musste…

      Doch ihre Füße trugen sie weiter hinab und Dawn stellte fest, dass sie gar keine Wahl hatte als immer tiefer und tiefer hinabzusteigen. Ein Teil von ihr hatte Angst; der andere Teil von ihr wollte jedoch verzweifelt herausfinden, warum man diese Gänge angelegt hatte. Also ging sie, langsamer als zuvor, weiter. Je tiefer sie stieg, desto schwerer fiel ihr das Atmen, als würde die Luft immer dicker. Auch die Flamme der Laterne wurde immer unruhiger und Dawns Schatten wurde zitternd an die Wände geworfen, so dass sie herumfuhr, weil sie glaubte aus den Augenwinkeln eine Bewegung gesehen zu haben, nur um dann festzustellen, dass sie sich vor ihrem eigenen Schatten gefürchtet hatte. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen ging sie weiter, bis der Gang schließlich breiter wurde und in einem großen Raum endete. Der Schein der Laterne reichte nicht aus um ihn ganz zu erleuchten. Vorsichtig ging sie weiter in den Raum hinein. Er war leer bis auf einen Altar am hinteren Ende, die Wände waren aus Erde, so dass der Raum wie eine Höhle aussah. Als der Schein der Lampe auf den Altar fiel, reflektierte irgendetwas, das sich dort befand, das Licht, so dass Dawn einen Moment lang geblendet wurde. Sie hob ihre freie Hand schützend vor die Augen und trat näher heran.

      Ihr stockte der Atem, als sie schließlich sah, was auf dem Altar lag – ein Schwert! Das Heft war wunderbar verziert und die Klinge blitzte im Lampenlicht, als wäre sie erst gestern poliert worden.

      „Lauf… lauf so schnell du kannst und komm nie, niemals wieder hierher!“ Erschrocken fuhr Dawn herum. Wer hatte das gesagt? Zitternd sah sie sich im Raum um. Es war niemand hier. Warum also hatte sie das Gefühl als würde sie in tödlicher Gefahr schweben? Sie wollte umkehren, diesen Raum, die Gänge, den Hügel verlassen... trotzdem machte sie einen Schritt nach vorne. Dawn konnte nicht anders, sie musste, MUSSTE dieses Schwert berühren, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass es ihr Ende wäre. Einmal nur... Schon streckte sie die Hand aus und legte sie zitternd um das Heft. Dawn hatte nicht vorgehabt die Waffe zu nehmen, doch plötzlich lag sie in ihrer Hand. Wie in Trance vollführte sie ein paar Schläge. Perfekt! Obwohl die Waffe groß und wuchtig war, konnte Dawn sie so mühelos führen wie eines der Messer, die sie zum Jonglieren benutzte. Sie lachte. Wer hätte gedacht, dass sich tief unter der Erde solch’ ein Schatz verbarg!

      Als die Bilder kamen, ging sie unwillkürlich in die Knie. Sie sah ein Gesicht, das so schön wie kalt, so makellos wie grausam war. Augen wie flüssiges Gold starrten sie an, schienen ihr bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken. Beim Licht, wer war er? Sein Haar glänzte in der Farbe von frisch gebrautem Bier, sein perfekt geschwungener Mund war zu einem grausamen Lächeln verzogen. Er hielt ein Schwert in der Hand. Ihr Schwert! Es dauerte eine Weile bis Dawn begriff, dass er sie gar nicht sah, dass er durch sie hindurch blickte, auf einen Mann, der ihm gegenüber stand. Schneller als dieser reagieren konnte, wirbelte der Fremde plötzlich herum und stieß sein – ihr Schwert! – Schwert tief in die Brust seines Gegners. Blut spritzte; Dawn schrie auf. Sie versuchte das Schwert, das sie in der Hand hielt, fallen zu lassen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Unbewegt zog der Fremde sein Schwert aus der Brust des Toten, wischte es ab und steckte es zurück in die Scheide, die an seinem Gürtel hing. Seine Miene verriet nicht eine Spur von Bedauern.

      Das Schwert entglitt Dawns tauben Fingern und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden.

      Sie waren seit fünf Tagen unterwegs und Crystal, der die lange Zeit, die sie im Sattel verbringen musste, zu schaffen machte, fühlte sich von den Eröffnungen der Drei noch immer ganz benommen. Sie sehnte sich nach Joy und hatte gleichzeitig Angst sie wiederzusehen – nun da sie wusste, dass sie für den Tod ihrer Eltern verantwortlich war. Seit sie denken konnte hatte Crystal immer davon geträumt Kornthal zu verlassen und zu erforschen was jenseits der Grenzen auf sie wartete, doch nun da das Unglück in Gestalt dreier vermummter Frauen über sie hereingebrochen war, hatte sie kaum einen Blick für die Landschaft und die Dörfer, durch die sie ritten. Sie überließ dem Magus die Auswahl der Tavernen und auch das Reisetempo bestimmte er. Sie saß einfach auf ihrem Pferd und starrte den Rücken ihres Begleiters an. Normalerweise hätte sie ihm Fragen gestellt; Fragen über die Magie, denn Magus Horten hatte sich immer hartnäckig geweigert darüber zu reden. „Die Magi des grauen Zweiges sind ja mehr Gelehrte als wirkliche Magi. Ich kann nur ein paar Gesten und um die größeren Zusammenhänge zu erklären bin ich wirklich nicht der Richtige“, pflegte er zu sagen.

      Ihre Schuldgefühle drückten ihr so schwer aufs Herz, dass jeder Atemzug schmerzte und dass sie sich ständig konzentrieren musste um nicht zu weinen. Sie hatte keine Kraft für Fragen. Manchmal merkte sie, dass Lucthens stechend blaue Augen interessiert auf ihr ruhten, als wäre sie ein Rätsel, das es zu lösen galt, doch er respektierte ihr Schweigen und dafür war Crystal ihm dankbar. Abends vor dem Einschlafen, wenn sie in einem fremden Bett lag und eine fremde Decke anstarrte, fragte sie sich, ob sie sich von jetzt an immer so fühlen würde. Als wäre sie für sich selbst eine Fremde. Als wäre der Teil von ihr, der lachen konnte und der fröhlich war, in ihrem Körper gefangen. Ihr linker