Smila Spielmann

Die lichten Reiche


Скачать книгу

sie je zu finden, begraben. „Erinnerst du dich, dass ich früher manchmal von einem Mädchen geträumt habe?“, begann er. Seine Augen ruhten aufmerksam auf dem Gesicht seines Vaters und so entging ihm nicht, dass dieser sich anspannte, obwohl er sich bemühte möglichst unbeteiligt zu wirken.

      „Das ist schon Jahre her.“

      Langsam schüttelte Lucthen den Kopf. „Nein, ich habe nur aufgehört von ihr zu erzählen, weil niemand mir geglaubt hat.“

      Eine tiefe Stille senkte sich über das Zimmer. Interessiert beobachtete Lucthen die Reaktion seines Vaters. Konnte er tatsächlich Schuldgefühle in dessen Miene lesen?

      „Warum erzählst du mir das, Lucthen?“, fragte der alte Mann schließlich.

      „Weil ich sie heute gesehen habe. Sie ist in Gefahr. Vater, wenn du irgendetwas weißt, dann musst du mir das sagen. Wenn ihr etwas zustößt…“, brach es aus Lucthen heraus.

      „Aber wie kommst du darauf, dass ich irgendetwas…“

      „Weil ich nachgedacht habe. Ich kenne dich, Vater – deine Reaktionen, immer wenn ich von ihr erzählt habe, waren … eigenartig.“

      Der alte Mann starrte in die Flammen, als hätte er die Anwesenheit seines Sohnes vergessen und lange Zeit war nur das Knacken der Holzscheite und sein schweres Atmen zu hören. „Ich wollte es dir sagen, beim Licht, das wollte ich“, murmelte er irgendwann leise, wie zu sich selbst, „..aber ich habe einen Eid geschworen.“

      Lucthen konnte sehen wie sein Vater mit sich rang. Es kostete ihm seine ganze Beherrschung ruhig zu bleiben und ihn nicht zu bedrängen. Schließlich schüttelte der alte Mann langsam den Kopf. „Lass uns ein anderes Mal darüber reden, mein Sohn.“

      „Heute noch. Ich muss es wissen.“ Lucthens Stimme war fest und entschlossen.

      Der alte Talosreiter schaute seinen Sohn traurig an. Er schien zu begreifen, dass die Zeit der Ausflüchte nun vorüber war. „Du warst noch sehr jung, vielleicht drei oder vier Jahre alt und deine Mutter war noch nicht lange tot, als ich einen Auftrag bekam. Ich sollte in die östlichen Wälder reiten und dort etwas abgeben. Damals war ich ziemlich lange fort, erinnerst du dich?“

      Lucthen nickte bang. Er sagte nichts um seinen Vater nicht aus den Erinnerungen zu reißen, die ihn offensichtlich eingeholt hatten. Er schien im Feuer Dinge zu sehen, die Lucthen verborgen blieben.

      „Doch als ich sah, was ich in die östlichen Wälder bringen sollte, da war mein erster Gedanke, dass ich mich weigern würde“, fuhr er schließlich fort. „Tagelang konnte ich mich zu keiner Entscheidung durchringen. Ich brachte sie her. Das kleine, süße Mädchen. Sie war noch ein Säugling und sie war blind.“

      Lucthen ballte die Hände zu Fäusten um nicht unwillkürlich nach dem Netz zu greifen. Bei Lucis, das konnte nicht wahr sein!

      „Du hast sie vom ersten Moment an geliebt – und sie hat dich geliebt. Wenn sie nicht in deinen Armen liegen durfte, hat sie nur geschrieen und gebrüllt, doch sobald du sie gehalten hast, sind ihre Tränen versiegt und sie hat dich mit ihren hellen Augen angesehen, als würde sie dich ganz genau erkennen.“ Dem alten Mann fiel es sichtlich schwer weiterzusprechen, doch er zwang sich dazu. „Lucthen, wenn du nicht alles gewesen wärst, das mir geblieben war, ich hätte dich in die Auen mitgenommen und dich bei ihr gelassen. Denn beim Licht, ich wusste, dass ihr ohne einander nicht glücklich werden würdet. Doch ich konnte es nicht. Ich konnte mich dem Befehl meines Königs nicht widersetzen und ich konnte dich nicht gehen lassen. Ich hatte doch gar keine Wahl.“

      Lucthen war wie vor den Kopf gestoßen. All die Jahre hatte ihm sein Vater nichts gesagt, all die Jahre… „Warum?“, fragte er schließlich. Er konnte die Bitterkeit in seiner Stimme hören, doch er hatte nicht die Kraft sie zu unterdrücken. „Warum sollte Talos wollen, dass du einen Säugling in die Auen bringst?“

      Lucthens Vater schwieg lange Zeit. „Er hatte seine Gründe, doch ich kann sie dir nicht nennen.“ Die Stimme des alten Mannes hatte einen stählernen Klang angenommen und Lucthen begriff dumpf, dass er von seinem Vater auf diese Frage keine Antwort erhalten würde.

      „Ihren Namen, sag mir wenigstens ihren Namen.“

      Wieder schwieg sein Vater lange Zeit und Lucthen dachte schon, er würde auch auf diese Frage keine Antwort erhalten. Doch dann hörte er ihn, den einen Namen, den zu hören er sein ganzes Leben gehofft hatte.

      „Liisatiina.“

      Die neue Baronin von Kornthal betrat Hand in Hand mit ihrer Nichte die große Halle der Burg. In den langen Tagen ihrer Abwesenheit hatte sich nichts verändert und doch spürte Crystal, dass alles anders war. Die Dienerschaft hatte sich in der Halle versammelt um sie zu begrüßen und Crystal blickte in die vertrauten Gesichter. Marthe, die Köchin, die sie kannte seit sie das Licht der Welt erblickt hatte, der Magus Horten, der Joys Lehrer war und der damals schon sie und Rhys unterrichtet hatte, die beiden Stalljungen, die sich so ähnlich sahen, dass Crystal sie ständig zu verwechseln pflegte und schließlich Prudence, das Mädchen, das als Amme für Joy angestellt worden war – sie alle schauten ihre Herrin erwartungsvoll an und obwohl Crystal gewusst hatte, dass dieser Moment kommen würde, hatte sie das Gefühl jetzt kein Wort über die Lippen zu bringen. Thorben stand nur ein paar Schritte hinter ihr. Er war in den letzten Tagen eine große Stütze gewesen; er hatte sich um ein Zimmer in einer Taverne für Joy und sie bemüht und veranlasst, dass die Leichen von Joys Eltern der Tradition gemäß den Flammen übergeben wurden, damit sie eingehen konnten in das Licht Lucis’. Crystal hatte sich beharrlich geweigert zur Burg zurückzukehren und ihre Stellung als Baronin anzutreten. Nur Thorbens Überredungskunst war es zu verdanken, dass sie schließlich begriff, dass die Angreifer dieser furchtbaren Nacht geflohen waren und nicht wiederkommen würden. Der Gedanke, an den Ort zurückzukehren, an dem ihre Liebsten gestorben waren, war Crystal unerträglich erschienen.

      Es hatte Tage gedauert Joy zu erklären, was passiert war; dass ihre Mutter und ihr Vater nicht wiederkommen würden, dass sie jetzt bei Lucis waren – bei Sonne, Mond und Sternen und allem was licht und gut war. Joy weinte bis sie keine Tränen mehr hatte und verkündete, dass sie ihre Eltern viel dringender brauchte als Lucis. Crystal konnte ihr die Blasphemie nicht verdenken. Der Tod war für sie nicht zu verstehen, wie konnte sie da erwarten, dass ihn ein Kind verstand. Crystal spürte den sanften Druck von Joys Hand und erinnerte sich daran, dass alle versammelt standen und darauf warteten, dass sie sprach. „Ihr habt euch während meiner Abwesenheit gut um die Burg gekümmert und dafür danke ich euch. Wir alle haben einen schweren Verlust erlitten, doch wir müssen weitermachen so gut wir eben können.“ Crystal merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und sie verfluchte sich im Stillen. Es war wirklich ihre Aufgabe, mit gutem Beispiel voranzugehen. Also nahm sie sich zusammen und richtete ihren Blick auf die Versammelten. „Ich würde mir wünschen, dass das Lachen und das Glück bald wieder auf der Burg Einzug halten und bin mir sicher, dass ich mit eurer Unterstützung rechnen kann.“ Marthe nickte entschlossen und die Übrigen stimmten ihr zu. Das erste echte Lächeln seit dem Tod ihres Bruders und dessen Frau stahl sich auf Crystals Lippen. Sie war wieder zu Hause.

      Thorben führte sie zum Kopfende der Tafel und nahm neben ihr Platz. Wie üblich kletterte Joy auf ihren Schoß und versteckte ihren Kopf an Crystals Hals. Seit jener Nacht war sie furchtbar schüchtern geworden. An Crystals rechter Seite nahm Prudence Platz. Sie war nur ein paar Jahre älter als Crystal und war in die Dienste der Trenmains getreten, nachdem ihr eigenes Kind tot zu Welt gekommen war und Lady Lucias Milch nicht fließen wollte. Joy war inzwischen eigentlich zu alt für eine Amme, doch Prudence gehörte mittlerweile zur Familie und es wäre niemandem eingefallen sie wegzuschicken.

      „Joy“, flüsterte die junge Frau ihrem Zögling leise zu und Crystal konnte sehen, wie sich ihr Gesicht schmerzlich verzog, als diese sich weigerte eine Reaktion zu zeigen. Kurz fühlte sie sich versucht das Kind einfach zu nehmen und in die Arme ihrer Amme zu setzen, doch die Kleine brauchte wohl Zeit. „Ich habe gut auf deine Puppen Acht gegeben, während du weg warst“, erklärte sie dem Hinterkopf des Mädchens.

      Schließlich hob sich der dunkle Schopf und Joy sah ihre Amme interessiert an. „Ist Annabell noch