Smila Spielmann

Die lichten Reiche


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küsse ganz gern und du bist wahrlich alt genug. Ein bisschen Übung würde dir nicht schaden.“

      „Rhys!“, rief Crystal empört aus. Es dauerte einen Moment bis sie begriff, dass ihr Bruder sie nur aufzog. Dann lachte sie gutmütig und drohte ihm mit dem Kamm. „Ich weiß doch, dass du Thorben gut leiden kannst und ich habe ja auch nichts gegen ihn. Eigentlich. Doch ich bin nun mal nicht in ihn verliebt und du schlägst doch wohl nicht vor, dass ich ihn trotzdem heiraten soll, oder?“ Crystal konnte sehen, dass Rhys die Brauen gerunzelt hatte. Sie spielte ihre Trumpfkarte aus. „Gerade du solltest doch verstehen, dass ich nur aus Liebe heiraten möchte!“ Rhys’ Gesichtsausdruck wurde merklich sanfter. Es war kein Geheimnis, dass sich die schöne Lady Lucia und der Lord des Kornthals vor Jahren Hals-über-Kopf ineinander verliebt hatten.

      „Du weißt, dass ich dich nie zu einer Entscheidung drängen würde, die dich unglücklich macht“, meinte Rhys schließlich. Crystal nickte dankbar und lächelte ihren Bruder an.

      Plötzlich wurde die Tür so ungestüm aufgerissen, dass die Geschwister erschrocken herumfuhren. Lady Lucia stürmte im Nachtgewand und mit gelöstem Haar in Crystals Gemach. Crystal kannte ihre Schwägerin zu gut, um den gehetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu missdeuten: irgendetwas war passiert.

      Rhys sprang beim Anblick seiner Frau auf und machte unwillkürlich ein paar Schritte auf sie zu. „Um der Weisheit Talos’ Willen, was ist denn passiert?“, rief er erschrocken aus. Crystal war nicht fähig irgendetwas zu sagen – vor lauter Schreck war ihr der Hals wie zugeschnürt.

      „Es sind Fremde in der Burg, Rhys“, stieß Lucia hervor, als sie in die Arme ihres Mannes sank. „Ich wollte nach Joy sehen und da waren diese dunkle Gestalt – Rhys, ich glaube, sie hatte ein Messer!“

      Rhys warf Crystal einen beunruhigten Blick zu und streichelte seiner Frau über den Rücken. „Bist du dir sicher? Ich meine, kann es nicht sein, dass du dich getäu…“

      Noch bevor Rhys den Satz vollenden konnte, barsten die beiden Fenster des Gemaches mit einem lauten Klirren. Zwei schlanke Gestalten schwangen sich durch die Öffnungen und zogen noch im Fallen seltsam gebogene Schwerter, die sie an den Hüften getragen hatten. Crystals Augen wurden groß. Nicht einmal bei den geschicktesten Gauklern hatte sie je so eine Körperbeherrschung gesehen. Es dauerte nur einen Augenblick und die beiden seltsam gewandeten Gestalten standen vor ihnen, die beiden Klingen vor der Brust gekreuzt. Crystal hatte sich unwillkürlich näher an ihren Bruder und Lucia heran geschoben. Die Panik, die sie selbst empfand, spiegelte sich in den Gesichtern ihrer Verwandten wieder. Ein Schrei stieg in ihrer Kehle hoch, doch noch bevor sie den Mund öffnen konnte, flog die Tür ein zweites Mal mit lautem Krachen gegen die Wand und eine weitere Gestalt betrat Crystals Schlafraum. Ihre dunklen Augen überflogen rasch das Gemach. „Welche der Beiden?“ Die Gestalten vor den Fenstern zuckten leicht mit den Schultern. Rhys packte den Stuhl, der vor Crystals Schminktisch stand und versuchte mit der anderen Hand Lucia und seine Schwester hinter sich zu schieben. Ein Stuhl gegen sechs Klingen! Panik stieg in Crystal hoch. Dieser Kampf war nicht zu gewinnen. Vielleicht konnte man mit ihnen reden... Crystal setzte zum Sprechen an, doch die Gestalt an der Tür kam ihr zuvor. „Dann eben Beide.“ Das Knirschen von Glas unter leisen Fußsohlen ließ Crystal herumfahren. Die beiden Gestalten vor den Fenstern bewegten sich langsam auf sie zu, die Schwerter gegen Rhys gerichtet, der instinktiv den Stuhl in die Höhe riss. Ein Splittern ertönte, als sich die erste Klinge tief in das Holz grub und sich dort verhakte. Der zweite Angreifer wandte sich ebenfalls Rhys zu, die Waffen zum Schlag erhoben.

      Crystal sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln; gleich darauf drängte sich Lucia an ihr vorbei um ihrem Mann zu helfen, den Schürhaken, den sie aus der Halterung neben dem Kamin gelöst hatte, mit beiden Händen fest umklammernd. Keinen Augenblick zu früh, denn der zweite Angreifer hatte Lucia als neue Bedrohung erkannt und wandte sich gegen sie.

      Ein triumphierender Aufschrei von Rhys zog Crystals Aufmerksamkeit erneut auf ihren Bruder. Er hatte den Stuhl mit solcher Kraft nach oben geschwungen, dass seinem Gegner das im Holz verhakte Schwert aus der Hand gerissen worden war. Crystal wollte schon erleichtert aufatmen – bis sie sah, dass das zweite Schwert von Rhys’ Angreifer direkt auf die ungeschützte Brust ihres Bruders zielte. Sie musste ihm helfen! Blindlings griff sie nach dem ersten Gegenstand, der auf dem Schminktisch neben ihr lag – es war die Specksteindose, die sie von ihrer Mutter zum elften Geburtstag geschenkt bekommen hatte! „Lucis, hilf’!“, flehte sie im Stillen, als sie Rhys’ Gegner mit aller Kraft die Dose entgegenschleuderte. Die Göttin schien ihr gewogen. Das schwere Gefäß traf die Gestalt mit solcher Wucht an der Stirn, dass sie mit einem leisen Stöhnen zu Boden ging. Im Fallen rutschte das Tuch über ihrem Mund beiseite – und eine plötzliche Erkenntnis durchzuckte Crystal. Frauen! Es waren Frauen! Unwillkürlich flog ihr Blick zu dem Angreifer, der zuletzt ihr Gemach betreten hatte. Immer noch stand die Frau – wie hatte sie nicht erkennen können, dass es sich um Frauen handelte! – scheinbar unbewegt bei der Tür, doch als sich nun ihre Blicke kreuzten, sah Crystal eine solch mörderische Wut in den dunklen Augen aufblitzen, dass sie begriff, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

      Das Scharren von Metall auf Metall und ein erschrockenes Keuchen ließen Crystal herumfahren. Der Schürhaken entglitt Lucias Händen und fiel zu Boden. Ein Schmerzensschrei drang an Crystals Ohren. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen wandte sie ihren Blick Lucia zu, obwohl sie fürchtete, was sie dort sehen würde. Lucias Angreiferin machte einen Sprung zurück und kreuzte ihre Schwerter wieder. Beide Klingen waren voll Blut. Lucia ging zu Boden. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Blick suchte ihren Mann. „Rhys… Rhys…“, keuchte sie. Jedes Wort wurde von einem Schwall Blut begleitet, der ihr aus dem Mund drang und Crystal begriff dumpf, dass dies der Tod war. Sie hörte den verzweifelten Schrei ihres Bruders, sah wie er sich zu seiner Frau beugte, die Gefahr, die ihm immer noch drohte, ignorierend.

      Lucias Mörderin zögerte nicht, Rhys’ Schwäche auszunutzen und war schon vorgesprungen. Einen Augenblick später steckten beide Schwerter in seinem Rücken.

      Crystal fühlte ein Brechen in sich, wie von Glas, als sie begriff, dass die Frau ihren Bruder ermordet hatte. In fassungslosem Schmerz schrie Crystal ihr Leid in die Welt hinaus. Sie schrie die Liebe zu ihrem Bruder, zu ihrer Freundin – das Entsetzen über das, was sie mit ansehen musste und nicht verhindern konnte. Sie vergaß völlig, dass zwei Angreiferinnen noch unverletzt waren und dass sie selbst in höchster Gefahr schwebte. Sie hatte die Hände wütend zu Fäusten geballt und die Augen fest geschlossen. Unter der Wucht ihrer Stimme brach das Glas des Spiegels mit einem leisen Knacken und die Angreiferin, die in ihrer unmittelbaren Nähe stand, ging mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie und presste ihre Hände gegen die Ohren.

      „Crystal! Crystal!“ Wie von weit her hörte sie die Stimme und langsam begriff sie, dass jemand nach ihr rief. Nur widerwillig öffnete sie die Augen um die Welt zu verlassen, in die ihre Stimme sie getragen hatte. Sie blickte in Lord Thorben fassungsloses Gesicht und blinzelte. Was tat er hier? Er stand nahe der Tür und hielt ein Holzbrett in der Hand, mit welchem er eine der Angreiferinnen gerade bewusstlos geschlagen hatte. „Wir müssen hier weg, bevor sie zu sich kommen!“ Crystal stand noch immer regungslos da und schaute auf ihren Bruder, der blutüberströmt über seiner Frau zusammengebrochen war. Doch dann war Thorben bei ihr, nahm ihre Hand und zerrte sie unsanft aus ihrem Gemach. Benommen stolperte Crystal hinter ihm her. „Rhys…“, schluchzte sie.

      „Ich... ich wollte doch nur...“, stammelte Thorben leise; dann sah er sie fest an. „Sie sind tot, Crystal. Wir können ihnen nicht mehr helfen und wenn wir nicht wollen, dass es uns ebenso ergeht, dann müssen wir schleunigst von hier verschwinden.“

      Dumpf begriff sie, dass er Recht hatte und wehrte sich nicht länger, als er sie den Gang entlang zog. Erst als sie Joys Zimmer erreichten, blieb Crystal ruckartig stehen und entzog ihm ihre Hand. „Wir müssen sie mitnehmen.“

      Thorben nickte. „Mach schnell“, stieß er hervor.

      Crystal öffnete die Tür. Joy saß auf ihrem Bett, die Arme um ihre Beine geschlungen. Tränen strömten über ihre Wangen. „Tante Crys!“, rief sie aus. „Ich hab Schreie gehört. Wo ist meine Mama?“

      Crystals Herz brach. Wie um alles in der Welt sollte