Smila Spielmann

Die lichten Reiche


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der Akademie. Lucthen entzündete eine Kerze. Er war entschlossen die wenigen freien Stunden des Tages so gut wie möglich zu nutzen. Außerdem genoss er die Ruhe, die in der Bibliothek einkehrte, wenn es Abend wurde. Momentan hatte er den Raum ganz für sich allein. Lucthen ließ seinen Blick über die Wände wandern, genauer gesagt über die Buchrücken, die die Wände verdeckten. In der blauen Akademie gab es zwei runde Türme und dementsprechend zwei Bibliotheken. Von außen konnte man denken, dass eine Wendeltreppe bis nach oben führen mochte, doch Lucthen wusste, dass die Treppe auf halber Höhe endete. Der Raum unterhalb des Daches war mehr als zehn Mann hoch. Bücherregale, in ihrer Form der Rundung des Turmes angepasst, standen so dicht, dass die dahinter liegenden Wände nicht zu erkennen waren. Oberhalb der Regale hatte man Platz gelassen für einen Kranz aus Fenstern, der jedoch nur wenig Licht ins Innere der Bibliothek dringen ließ.

      Die Exemplare, die für die Lehrlinge zugänglich waren, standen in Griffhöhe. Danach kamen ein paar Reihen an Büchern, die über lange, bewegliche Leitern zu erreichen waren und sich mit fortgeschrittener Magie beschäftigten. Die wirklich interessanten Werke allerdings befanden sich darüber. Lucthen konzentrierte sich auf einen Buchtitel, führte die Geste des Holens aus und wartete geduldig bis das Buch in seine Hand schwebte. Als einer der wenigen, vollausgebildeten Magi der Mittellande wusste er, dass die sichtbare Welt nur ein kleiner Teil der Wirklichkeit war und dass es eine größere, allumfassendere Wirklichkeit gab, die die meisten Menschen nicht begreifen konnten. Mit den Elfen war das selbstverständlich etwas anderes. Sie waren ihrem Wesen nach Magie – so sehr, dass man sagte, dass sie die feinen Linien des magischen Netzes, welches belebte und unbelebte Dinge miteinander verband, sehen konnten. Lucthens Begabung hatte sich sehr früh gezeigt und er hatte einigen Schaden angerichtet, bevor er in die Akademie gekommen war und dort gelernt hatte das Gewebe zu verstehen und gezielt zu manipulieren. Davor hatte er, ohne zu wissen was er tat, mit den feinen Fäden der Magie gespielt und einmal beinahe das Haus seines Vaters zum Einsturz gebracht. Der Körper eines Begabten war eine Waffe und er wusste nur zu gut wie gefährlich ungeschliffene Waffen waren. Jahrelange Übung hatte ihn eine eiserne Körperbeherrschung erlangen lassen und seine Waffe gut geschliffen. Dass sein Geist immer noch unbändig war, sein Wesen aufbrausend – nun das war seine Sache, solange es ihm gelang seinen Körper zu beherrschen.

      Lucthen wandte sich seinem Buch zu. Er bemühte sich seit Jahren herauszufinden, warum die Menschen die Magie jahrtausendelang vergessen hatten und sie erst langsam wieder zu entdecken begannen. Die erste Akademie in den Mittellanden war vor dreihundert Jahren gegründet worden. Man nannte sie Akademie des grauen Zweiges. Sie war an der Grenze zu Feyas Reich errichtet worden und heute noch die größte Ausbildungsstätte für Magi in den Mittellanden. Danach war die Akademie gegründet worden, in der er selbst studiert hatte, jene des blauen Zweiges. Die letzte der drei mittelländischen Akademien, die des grünen Zweiges, konnte erst auf eine zweihundertjährige Tradition zurückblicken. Dort unterrichteten nur sieben Magi, denn obwohl es mehr als genug begabte Kinder im Osten des Reiches gab, weigerten sich viele Eltern ihre Kinder in die Akademien zu schicken. Der Beruf des Magi war nicht überall in den Mittellanden hoch angesehen und viele Eltern sahen nicht ein, warum ihr Kind eine Ausbildung zum Magi absolvieren sollte, wenn es genauso gut Bauer werden konnte oder Schuster. Lucthen war ziemlich erfolgreich, wenn es darum ging, Eltern zu überzeugen ihre Kinder in die Akademie zu schicken – und dazu musste er nicht einmal Magie anwenden. Es genügte meist ihnen zu erklären, wie gefährlich ihre Kinder werden konnten, wenn sie nicht lernten sich zu beherrschen, dass sie mit einer falschen Handbewegung das Haus anzünden konnten oder dass eine Berührung dazu führen konnte, dass die Kühe keine Milch mehr gaben. In den zwei Jahren, die Lucthen nun schon an der Akademie unterrichtete, konnte sich der blaue Zweig nicht über einen Mangel an Schülern beklagen und das war hauptsächlich sein Verdienst. Zugegeben, meist übertrieb er ein wenig, was das mögliche Gefahrenpotential anging – doch nur, wenn er sich davor überzeugt hatte, dass es dem Wunsch des Kindes entsprach, ausgebildet zu werden.

      Plötzlich durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz, schoss die Wirbelsäule nach oben und explodierte schließlich in seinem Kopf. Unwillkürlich presste er seine Fäuste gegen die Schläfen und biss die Zähne so fest aufeinander, dass sein Kiefer knackte.

      Dann sah er sie: Das offene Haar wurde ihr ins Gesicht geweht, doch sie schien es gar nicht zu bemerken. Ihre hellen, blinden Augen starrten wie gebannt in die Ferne. Was sie sah schien ihr unerträgliche Qualen zu bereiten, denn in dem zarten Gesicht stand solch tiefer Schmerz, dass Lucthen leise aufstöhnte und unwillkürlich die Hand nach ihr ausstreckte um sie zu trösten. Seine Qualen bedeuteten ihm nichts und er wollte alles, alles ertragen, wenn dadurch nur ihr Schmerz gelindert würde. Er sah wie sie leise seufzte und ihre Augen sich mit Tränen füllten. Ihre Hand hob sich langsam, wie in Trance, um eine der silberblonden Strähnen aus dem Gesicht zu streichen, als sich ihr Ausdruck plötzlich veränderte. Der Schmerz wurde greifbarer, realer. Lucthen konnte ihr Entsetzen und ihren Unglauben sehen. Einen Moment lang verstand er nicht, was geschehen war. Dann kippte sie langsam nach hinten. Ein Pfeilschaft ragte aus ihrer Brust. Er sah noch wie sich ihre Augen schlossen, wie sich der Blutfleck auf ihrem hellen Kleid langsam ausbreitete – dann verblasste das Bild.

      Minutenlang saß Lucthen völlig reglos. Nur sein Herz raste ihm in der Brust als wolle es zerspringen. Schließlich zwang er sich dazu seinen Geist zu leeren und sich in Meditation gleiten zu lassen. Einem Lehrling im zweiten Jahr sollte diese einfache Übung keinerlei Probleme verursachen, doch Lucthen brauchte mehrere Anläufe, bis es ihm gelang seinen Geist zu beruhigen.

      Stunden später fühlte er sich ruhig genug um die Meditation zu beenden. Er legte zitternd die Fingerspitzen aneinander und versuchte nachzudenken. Er glaubte nicht, dass sie tot war. Wenn dem so wäre würde er es wissen, sagte er sich. Ihr Gesicht, ihre Gestalt, ja ihr ganzes Wesen waren ihm so vertraut wie sein eigenes. Er kannte sie und kannte sie nicht. Vielleicht war er verrückt. Früher hatte er das tatsächlich gedacht, als er herausgefunden hatte, dass keiner der anderen Begabten Visionen von wunderschönen Frauen hatte. Mit den Jahren hatte er gelernt, dieses Geheimnis für sich zu behalten, da die Anderen darauf mit Ablehnung oder Angst reagierten. Doch für ihn war es so natürlich wie atmen, so selbstverständlich wie die Tatsache, dass jeden Morgen im Osten die Sonne aufgeht, dass er sie sehen konnte. Er hatte sie aufwachsen sehen. Als er noch ein Kind war, war auch sie ein Kind gewesen und als junger Lehrling an der Akademie war sie ihm als junges Mädchen mit spitzem Gesicht erschienen. Jetzt war sie zu der schönsten Frau herangewachsen, die er je gesehen hatte – oder eben nicht gesehen hatte, denn in Wirklichkeit hatte er das nicht. Mit einer Geste der Verzweiflung fuhr sich Lucthen durchs dunkle Haar. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Um ehrlich zu sein, er war sich nicht einmal sicher, ob sie ein Mensch war…

      Es war mitten in der Nacht als Lucthen das Tor durchschritt, das in den ersten Ring führte. Zielstrebig ging er auf die kleine Hütte zu, die seit seiner Geburt sein Zuhause gewesen war. Nach Stunden des Nachdenkens war Lucthen zu einem Schluss gekommen: es gab nur eine Person, die ihm vielleicht weiterhelfen konnte. Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, merkte er verwundert, dass in der Wohnstube noch Licht brannte. Er fand seinen Vater in dessen Lieblingssessel vor dem Kamin vor, eine warme Decke um die Beine gewickelt. Einst war Lucthens Vater ein Talosreiter gewesen, doch mittlerweile war er zu alt um seinem König zu dienen. In den letzten Jahren hatte ihn zusehends seine Kraft verlassen; sein Haar war ergraut und beim Gehen musste er sich auf einen Stock stützen. „Warum bist du noch wach, Vater?“, erkundigte sich Lucthen neugierig, als er zu ihm trat und ihm grüßend die Hand auf die Schulter legte.

      „Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nicht heim gekommen bist“, erklärte der alte Mann mürrisch.

      Lucthen unterdrückte ein Grinsen. Er war achtundzwanzig Jahre alt, ausgebildeter Magus und sein Vater sorgte sich, weil er sich ein paar Stunden verspätete… „Ich bin jedenfalls froh, dass du noch wach bist. Ich möchte mit dir reden“, meinte er, als er sich in den Sessel, der neben dem seines Vaters stand, fallen ließ.

      „Ist es wichtig?“, erkundigte sich der alte Mann. „Ich meine, können wir nicht morgen Früh…“

      „Es ist sehr wichtig und ich habe ohnehin schon zu lange gewartet.“

      Lucthens barscher Tonfall ließ seinen Vater aufhorchen. „Was hat dich so aufgebracht, mein