Smila Spielmann

Die lichten Reiche


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zurückgelassen. Magus Horten und Prudence würden auf die Kleine gut Acht geben. Und auch Thorben war in den Tagen der Reise immer wieder in ihren Gedanken aufgetaucht. Sie hatten ein letztes Gespräch geführt, als Crystal gerade dabei war, ihr Gepäck in Sturmmähnes Satteltaschen zu verstauen. „Willst du deine Harfe wirklich mitnehmen?“

      „Ich werde sie ganz sicher nicht noch einmal zurücklassen“, hatte sie wütend erklärt und sich einen Moment später über sich selbst geärgert; diesmal war wirklich nicht er der Grund für ihre schlechte Laune. „Tut mir leid, es ist nur…“

      „Schon gut. Ich verstehe dich ja. Ich wünschte, du müsstest nicht gehen.“ Crystal hatte ihm schweigend beigepflichtet. „Du weißt, dass ich alles für dich tun würde, nicht wahr? Ich… ich will dich jetzt nicht belasten, doch versprich’ mir, dass du über mein Angebot nachdenkst, während du weg bist, ja? Mehr will ich gar nicht.“

      Crystal trieb Sturmmähne ein wenig an, um nicht zu weit hinter dem Rappen ihres Begleiters zurückzubleiben. Alleine würde sie sich hier niemals zurechtfinden. All die vielen Häuser und Gassen – und so viele Häuser, die über zwei Stockwerke reichten. In Kornthal war ihres Wissens nach die Burg das einzige Bauwerk, das über einen zweiten Stock verfügte und die größte Stadt, Feldstadt, sicher nicht einmal halb so groß wie diese. Crystal rümpfte die Nase als sie in eine Gasse einbogen, in der sich das Geschäft des Färbers, eine Gerberei und am Ende eine Metzgerei befanden. Der Gestank nahm ihr fast den Atem und sie beeilte sich fortzukommen. Die Stadt war rund um den Palast angelegt und Crystal erhaschte immer wieder einen Blick auf das alles überragende Gebäude. Unwillkürlich fragte sie sich, ob es mit der Magie der Elfen erbaut worden war. Die hochaufragenden Türme mit all ihren Fenstern und Balkonen erschienen ihr zu unwirklich, als dass sie von Menschenhand erbaut sein konnten. Sie fragte sich, wie viele Elfen hier wohl wohnten. Der Palast hatte gigantische Ausmaße – er war so groß wie eine ganze Stadt. Eine Stadt in der Stadt, dachte Crystal. Je näher sie dem Palast kamen, desto aufgeregter wurde sie. Ob sie wohl einen Elfen zu Gesicht bekommen würde? Crystal wusste, dass die Chance wohl eher gering war, aber man durfte ja wohl noch träumen. Der Talosreiter hielt sein Pferd schließlich vor einem der riesigen Tore an und wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. Auf sein Zeichen hin wurden sie eingelassen und ritten gemeinsam weiter. Crystal fühlte sich wie in eine andere Welt versetzt. Die Geräusche der Stadt drangen nur gedämpft durch das Tor, das hinter ihnen wieder geschlossen wurde. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, doch bestimmt nicht den Anblick, der sich ihr nun bot. Bäume wuchsen hier und der Boden unter den Hufen ihrer Stute war mit Gras bedeckt. Hätte sie nicht gewusst, dass sie sich mitten in einer Stadt befanden, sie hätte es nicht geglaubt. In der Ferne sah sie ein weiteres Tor und dahinter die Türme des Palastes. In dem Bereich, in dem sie sich jetzt befanden, standen schöne, weißgetünchte Häuser, die jedoch zu einfach wirkten um zum Palast zu gehören. Vor den Häusern standen Frauen, die miteinander tratschten, Wäsche auf Leinen spannten oder sich um ihre Kinder kümmerten. Vereinzelt sah Crystal auch Talosreiter, die in ihren wehenden Umhängen geschäftig ihrer Arbeit nachgingen. Nur langsam begriff sie, dass das Gelände des Palastes noch um ein Vielfaches größer war, als es von draußen den Anschein hatte.

      Ihr Begleiter musste ihren staunenden Blick bemerkt haben, denn er meinte: „Wir befinden uns jetzt im äußeren Ring der Menschen; unser Ziel ist der zweite Ring.“ Damit trieb er sein Pferd weiter und überließ es Crystal, ihm – nicht weniger verwirrt als zuvor – zu folgen. Er ritt auf das Tor zu, das Crystal vorhin schon bemerkt hatte. Diesmal ließen ihn die Wachen nicht so einfach passieren. Er hielt sein Pferd an und legte die Hand an die Stirn. Crystal erkannte den Gruß der Talosreiter und sah, wie ihn der Wachmann erwiderte. Auch er trug den Umhang der Botenreiter des Elfenkönigs, doch war sein Umhang mit einer prächtigen goldenen Borte eingefasst.

      „Ich habe den Befehl Lady Crystal Trenmain, Baronin von Kornthal, in den zweiten Ring zu bringen.“

      Der Mann mit dem prächtigen Umhang nickte bestätigend. „Wir haben Euch bereits erwartet, Lady Crystal.“

      Abermals passierten sie eines der mächtigen Palasttore und wieder fand sich Crystal einer wundersamen Täuschung unterlegen. Sobald sie durch das Tor geritten war, schienen die Türme des Palastes in noch weitere Ferne gerückt zu sein und das Gelände des zweiten Ringes schien riesig. Crystal sah, dass es hier keine Frauen und Kinder mehr gab. Das ganze Gelände lag seltsam ruhig vor ihren Augen. „Nur wenige Menschen, die nicht im Dienst des Königs stehen, bekommen den zweiten Ring zu Gesicht“, meinte ihr sonst so schweigsamer Begleiter plötzlich und musterte sie interessiert. Mit einem Mal begriff Crystal, dass er genauso wenig wusste, warum man sie herbestellt hatte, wie sie selbst. Aus irgendeinem Grund gefiel ihr diese Erkenntnis und sie fühlte sich nicht mehr ganz wie ein ahnungsloser Dummkopf. Crystal beschloss, das Beste aus der Gelegenheit zu machen und sich, wenn sie schon mal hier war, alles ganz genau einzuprägen. Wenigstens hätte sie Joy eine Menge zu erzählen, wenn sie in ein paar Tagen wieder zuhause wäre. Ihr Führer ritt zielstrebig auf das größte Gebäude dieses Ringes zu. Ein einstöckiges Haus mit runden Fenstern, vor dessen Tür mehrere Männer warteten. Sobald sie angehalten hatte, wurden ihr schon die Zügel abgenommen und ihr wurde aus dem Sattel geholfen.

      Ein fremder Mann führte sie ins Haus. „Wenn Ihr Euch noch schnell frisch machen wollt, dann habt Ihr hier die Möglichkeit.“ Crystal nickte dankbar und verschwand in den Raum, auf den der Mann gezeigt hatte. Jemand hatte Speisen und einen Krug Wasser bereitgestellt, doch Crystal war zu nervös um an Essen zu denken. Für das Waschbecken und das Tuch, das man bereitgelegt hatte, war sie jedoch dankbar. Sie spritzte sich kühles Wasser ins Gesicht und wischte den Schmutz und Staub der Reise von ihrem Gesicht. Mit bebenden Fingern versuchte sie die schlimmsten Falten aus ihrem dunkelgrünen Überkleid zu streifen. Sie hatte ein besonders hübsches Kleid gewählt, da sie gewusst hatte, dass sie heute das Ziel ihrer Reise erreichen würden, doch leider hatte das Gewand den Ritt hierher nicht schadlos überstanden. Die feine Goldstickerei war zerdrückt und das Unterkleid, das in einem helleren Grünton gefärbt war, war nass von Schweiß. Seufzend kniff sie sich in die Wangen und sagte sich, dass sie nicht so eitel sein sollte. Sie gönnte sich eine kurze Verschnaufpause, dann öffnete sie die Tür. Offensichtlich hatte man bereits auf sie gewartet, denn ein Mann stand neben der Tür, der ihr schweigend bedeutete ihm zu folgen. Crystal fragte sich, ob alle Männer, die für die Elfenkönige arbeiteten, so schweigsame Gesellen waren wie die, die sie bisher kennen gelernt hatte. Vor ihr wurde eine Doppelflügeltür geöffnet und Crystal fand sich in der größten Halle wieder, die sie je gesehen hatte. Sie zog sich anscheinend über zwei Stockwerke, denn die Decke war ungewöhnlich hoch und zwei übereinander liegende Reihen der runden Fenster tauchten die Halle in angenehmes Licht. Drei Männer erwarteten sie bereits und als die Türen hinter Crystal geschlossen wurden, hatte sie plötzlich das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein. Sie war jedoch fest entschlossen, sich nicht lächerlich zu machen und so trat sie ein paar Schritte auf die Herren zu. Beim Näherkommen sah sie, dass alle Drei schon älter waren und dass ihre Umhänge über und über mit Goldfäden bestickt waren. Als sie schließlich vor ihnen stand, war sie unsicher, wie sie die Männer angemessen zu begrüßen hatte und so ließ sie sich kurz auf ein Knie sinken.

      „Wir sind froh, dass Ihr hier seid, Lady Crystal“, begann der größte der Männer zu sprechen. Sein dunkles Haar war von grauen Strähnen durchzogen, seine Miene wirkte streng. „Ihr habt Euch bestimmt gefragt, was der Zweck Eures Besuches ist. Nun, das ist leicht zu erklären; erstens, um Euch außer Gefahr zu wissen und zweitens, weil wir eine Bitte an Euch richten möchten.“

      „Welche Gefahr?“, fragte Crystal. Die Frauen, die ihren Bruder und ihre Schwägerin ermordet hatten, waren doch verschwunden, oder? Und wenn nicht... Beim Licht, dann konnten sie die Burg jederzeit wieder angreifen!

      „Der Anschlag, der Euren Verwandten das Leben kostete – habt Ihr eine Ahnung, wem er galt?“, fragte der kleinste der Männer.

      Crystal schüttelte den Kopf, obwohl das nicht ganz stimmte. Die Worte, die eine der Angreiferinnen gesprochen hatte, gellte ihr immer noch in den Ohren. „Welche der Beiden?“ Crystal hatte wieder und wieder darüber nachgedacht, was das zu bedeuten hatte, doch sie konnte sich darauf keinen Reim machen. Sollte das heißen, dass die Frauen hinter Lucia oder gar hinter ihr her waren?

      „Nun,