Patrik Bitter

23 - Und Schnitt!


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      Die Entscheidung war jedoch getroffen. Es war Anfang März, als ich ins Krankenhaus in Iserlohn kam.

      Kapitel 3 – Eine Nachtmeerfahrt

       "Wem der Himmel eine große Aufgabe zugedacht hat, dessen Herz und Willen zermürbt er erst durch Leid.“

       Meng Zi

      Ich hatte nie ein sonderlich gutes Verhältnis zu Krankenhäusern. Die grauen Fassaden und farblosen Räume vermittelten von Beginn an ein Gefühl von Trauer und Schwermut. Schon der Begriff „Krankenhaus“ gefiel mir überhaupt nicht. Wieso nannte man es nicht Heilungs- oder Gesundungshaus?

      Am 3. März kam ich in Iserlohn ins Krankenhaus. Nach dem formalen Aufnahmeprozedere wurde ich kurz untersucht und befragt. „Der Junge braucht Flüssigkeit“, war die resolute Entscheidung des Arztes. Ich bekam umgehend einen Katheter gesetzt und einen Tropf mit Kochsalzlösung an meine Seite gestellt. Ich hatte ein großes Zweibettzimmer für mich alleine. Nach dem Bezug des Zimmers saß ich einige Minuten auf dem Bett und aß noch mit Mühe eine Laugenstange. Es sollte meine letzte richtige Nahrung und das letzte Mal Sitzen für einige Zeit sein. Danach legte ich mich entkräftet hin. Die Schmerzen waren unvermindert stark.

      Ich bekam nur die Kochsalzinfusionen und keine Schmerzmittel oder andere Medikamente. Die Zeit verlor schnell ihre Bedeutung. Ich bewegte mich pausenlos im Bett von links nach rechts bei der verzweifelten Suche nach einer erträglichen Liegeposition. Mindestens einmal pro Stunde musste ich mich aus dem Bett Richtung Toilette schleppen. Aus mir kam nur noch Blut. Nach der ersten - so gut wie schlaflosen - Nacht konnte ich mich im Spiegel kaum noch wiedererkennen. Die Flüssigkeit sammelte sich in meinem Körper an. Mein Gesicht war stark angeschwollen. Die Blutuntersuchungen lieferten zumindest ein eindeutiges Ergebnis: einen enorm hohen CRP-Wert. Dieser galt als Beleg für die extreme Entzündung und die heftige Immunreaktion, die sich in mir abspielte.

      Mein Vater übernachtete einige Nächte mit in meinem Zimmer. Das war mir eine große Stütze, weil der Schmerz, die Blutungen und die Schlaflosigkeit, mich zermürbten. Ich kämpfte, mit der Hoffnung, dass man mir helfen könnte und würde. In diesem Krankenhaus war man mit meiner Erkrankung jedoch komplett überfordert. Ich bekam nichts zu essen. Das machte mir nicht viel. Ich war mit anderen Dingen beschäftigt. Dem Kampf gegen den Schmerz und für das Überleben. Einzig eine Magenspiegelung wurde durchgeführt, die keine neuen Erkenntnisse lieferte.

      Im Hintergrund bemühten sich meine Eltern darum, die Verlegung nach Düsseldorf zu organisieren. Der leitende Arzt der tropenmedizinischen Ambulanz hatte sich nach meinem Besuch dafür eingesetzt, mich ins Universitätsklinikum zu holen.

      Am 7. März wurde ich nach Düsseldorf verlegt. Ich war sehr schwach und wurde in einem Rollstuhl aus dem Krankenhaus gefahren und auf einer Liege mit einem Krankenwagen nach Düsseldorf transportiert. Bei der Ankunft an der Klinik herrschte zunächst Unklarheit, wo ich hin sollte. Ich fror einige Minuten auf der Liege, weil ich nur ein Krankenhaushemd trug und eine dünne Decke mich nur spärlich warmhielt. Ein weiterer Wintereinbruch hatte kühle Temperaturen und Schnee mit sich gebracht. Nach einigen langen Minuten ging es dann weiter zu meiner Unterkunft: der Infektionsstation MX1. Ich kam auf ein Zweibettzimmer, mit einem Kühlschrank, einem großen Fenster, mit einer Tür zu einer kleinen Wiese an der Rückseite des Gebäudes, einer Toilette und jeweils 2 kleinen LCD-TV-Computer-Kombinationen, die von der Decke hingen. Die beiden Betten und Zimmerseiten waren durch einen hauchdünnen Vorhang getrennt, der außer Blicken nichts filterte. Die ersten Tage verbrachte ich auch hier alleine. Da keiner so recht wusste, was ich hatte, standen die abenteuerlichsten Vermutungen im Raum.

      Gerade zu der Zeit grassierte der Norovirus durch die Region und so hing ein großes Schild an der Tür: „Vorsicht Ansteckungsgefahr“. Sowohl die Pfleger als auch meine Besucher mussten Atemschutzmasken tragen. Blutproben, Stuhlproben, Urinproben – alles wurde untersucht. Schnell war klar, dass ich nicht am Norovirus erkrankt war. Folglich wurden die Warnung und die Schutzmaßnahmen aufgehoben.

      Der leitende Arzt der Station war Doktor Tischler. Von seinem Auftreten und Aussehen her hätte er meines Erachtens sehr gut in eine Krankenhausfernsehserie gepasst. Von Anfang an forderte ich von den Ärzten absolute Offenheit. Diese erhielt ich auch ohne Einschränkungen. Die Behandlungsstrategie bestand zunächst darin, auf alle möglichen Infektionserreger hin zu untersuchen und dazu intravenös Antibiotika zu geben. Auf der anderen Seite wurde ich mit Cortison behandelt, um gleichzeitig den zweiten Verdacht Colitis Ulcerosa zu behandeln.

      Es wurde mit allen Waffen geschossen. Mir blieb nichts anderes übrig, als auf Besserung und Heilung zu hoffen und die Behandlung so gut es mir möglich war zu ertragen und unterstützen. Zu der Kochsalzlösung kamen also Cortison- und Antibiotikainfusionen hinzu.

      Ich blieb nicht lange alleine auf dem Zimmer. Nach den ersten Tagen wurde ein junger Türke auf dem anderen Bett untergebracht. In seinem Fall spielte sich ebenfalls ein Drama ab: Er war HIV-positiv und hatte körperlich komplett abgebaut. Er kämpfte mit verschiedenen Infektionen und starken Schmerzen. Besonders prekär war, dass er die Erkrankung vor seiner Familie verheimlichte. Er hatte Angst davor, sie würden ihm dann wegen ihres Glaubens den Rücken zukehren. Die Ärzte halfen ebenfalls mit. Sie verschwiegen seine wahre Situation und spielten seinen Zustand herunter. Die Krankheit hatte ihn körperlich und geistig zerfressen. Er reagierte oft mit Wut und beschimpfte die Pfleger. Seine Freundin, eine junge Amerikanerin, kam häufig zu Besuch und brachte ihm etwas zu essen und Zigaretten. Trotz seiner Erkrankung war er weiterhin Kettenraucher und hatte Drogenprobleme. Wir erfuhren, dass er seine Freundin auch mit AIDS angesteckt hatte. Er ließ seine Verzweiflung und Wut jedoch besonders an ihr aus. Das einzig Positive war sein Glauben an die Ärzte, der es ihm ermöglichte, durchzuhalten.

      Ich lag daneben und verfolgte alles hautnah. Einerseits kämpfte ich um mein Leben, andererseits hatte ich Mitleid. Egal, was hier mit mir passierte: Ich suchte die Schuld weder bei den Ärzten noch bei den Pflegern oder gar bei mir selbst. Ich reagierte auf das Leiden vielmehr mit Tränen und Verzweiflung, doch nicht mit Wut und Hass. Besonders nicht auf die Leute, die mir helfen wollten.

      Nach wenigen Tagen verschlimmerte sich sein Zustand so sehr, dass er auf die Intensivstation verlegt wurde. Danach hörten wir nichts mehr von ihm. Meine Mutter erzählte mir später, dass sie seine Freundin getroffen hatte und er kurze Zeit später verstorben war.

      Ich baute weiterhin stetig ab. An Essen war kaum zu denken. Ein Joghurt war schon eine große Herausforderung. Schlaf und Ruhe fand ich äußerst selten. Meistens war es so, dass ich Schmerzmittel bis zu einer verantwortbaren Dosis bekam und dann für eine Stunde Ruhe fand. Die Kombination aus Kochsalzinfusionen und Cortison ließ mich trotzdem Gewicht zunehmen und weiter anschwellen. Ich wog um die 60 kg, mehr als zu dem Zeitpunkt, an dem ich ins Krankenhaus kam, und das ohne zu essen. Die Blutungen blieben konstant und stark. Ich erhielt einen Toilettenstuhl, damit ich mich nicht immer auf die Toilette schleppen musste.

      Rückblickend ist es faszinierend, wie viel Kraft und Ausdauer ein Mensch entwickeln kann, wenn er um sein Leben kämpft.

      Die ganze Situation war unwirklich. Die Schmerzen, die ich empfand, waren für mich nicht in Worte zu fassen. Ich dachte häufig: „Diese Schmerzen hat kein Lebewesen verdient.“

      Ständiges Hin- und Herdrehen, das Verstellen des Bettes auf und ab: Verzweifelte Versuche, den Schmerz ertragen zu können. Stunden, Tage, Wochen vergingen. Jeder Tag war unendlich lang und das Prozedere war immer ähnlich: Infusionen wurden ausgewechselt, neue Stiche gesetzt und mindestens einmal täglich Blut abgenommen. Nach kurzer Zeit waren meine Arme von Stichen übersät. Ich hatte zu dem Zeitpunkt schon viel Blut verloren und es wurde Tag für Tag mühevoller für die Ärzte, Blut abzunehmen. Erschwerend kam hinzu, dass die Blutabnahmen meist den „Frischlingen“ überlassen wurden. Wie der Name schon sagte, war das Universitätsklinikum direkt mit der Universität verknüpft. Eine der angehenden Ärztinnen schaffte es, dass ich in Tränen ausbrach. Sie hatte so eine kalte Art und ging völlig unsensibel vor. Ich fühlte mich wie ein Versuchsobjekt. Meine Mutter saß neben mir. Sie konnte es ebenfalls kaum fassen. Auch das steckte ich weg, weiterhin in dem