Patrik Bitter

23 - Und Schnitt!


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zu den Ärzten: „Dann kann ich zumindest für ein paar Stunden schlafen.“

      Die Zeit verging schleppend. Fortschritte waren für mich nicht wahrnehmbar: Dr. Tischlers Worte gingen mir häufig durch den Kopf. Nach zwei Wochen hatte ich immer noch starke Schmerzen, konnte nicht schlafen, geschweige denn nach Hause oder normal essen und trinken. Ich wollte daran glauben, dass alles gut würde. Doch nach den Wochen voller Schmerzen und Leiden war so gut wie aller Glauben verloren. Ich war froh, als man mir anbot, mit jemandem zu sprechen, der sich meine Probleme anhören würde. In dem folgenden Gespräch mit einer Therapeutin schilderte ich meine Lage: die Schmerzen, die Schlaflosigkeit und die Gedächtnis- und Wahrnehmungsprobleme. Ich bat sie letztendlich nur darum, mir etwas gegen die Schmerzen zu geben, damit ich endlich schlafen konnte.

      Sie verschrieb mir als „Schlafmittel“ Remergil mit dem Wirkstoff Mirtazapin – zusätzlich zum Cortison, den Schmerzmitteln und den anderen Medikamenten, die ich noch bekam.

      Noch am selben Abend nahm ich eine der Tabletten, die sich sofort unter der Zunge auflöste. Ich konnte danach tatsächlich für wenige Stunden schlafen. Für einen Wimpernschlag konnte ich dem Schmerz entfliehen und träumte sogar etwas Schönes. Was genau vergaß ich schnell. Ebenso wie die Ruhe, die ich durch den Schlaf genossen hatte. Denn die Schmerzen quälten mich weiterhin unvermindert und die Wirkung der Tablette war schon ab der nächsten Nacht kaum noch spürbar. Im Gegenteil: Ich schlief zwar noch zweimal kurz, doch dafür mit heftigen Albträumen. Ich erzählte meiner Mutter von dem neuen Medikament und nahm es weiter, in der Hoffnung, dass der erste Effekt wieder eintrat und vor Angst, was passiert, wenn ich es absetzen würde.

      Nach dem meine Mutter erfuhr, was für ein Medikament ich bekam, sprach sie mit einer Freundin, die in einem Altenheim arbeitete. Dort wurde das Medikament auch verabreicht. Viele Patienten litten dadurch unter Wahnvorstellungen. Sie riet mir dringendst, das Medikament abzusetzen. Ich hielt mich an die Ärzte. So nahm das Unheil seinen Lauf.

      In den nächsten Tagen verschwammen Realität und Illusion zunehmendst. In meinem Kopf spielten sich eigene Realitäten ab. Zwar waren sie nicht mit dem normalen Sehen und Hören vergleichbar, doch für mich zu dem Zeitpunkt überzeugend, glaubhaft und real.

      Einerseits war dort die Horrorvision eines Daseins nach dem Tod. Mir wurde gezeigt, was ich in meinen vorherigen Leben getan hatte und für die dort begangenen Sünden bis in Ewigkeit büßen sollte. An einem Ort, an dem ich alleine war, verstrahlt, ohne Leben, ohne Möglichkeit des Bewegens, dunkel, voller Schmerz – verdammt für immer. Die zweite Schreckensrealität zeigte mir, dass die Krankheit noch einmal stärker ausbrechen würde und ich danach nur noch künstlich am Leben erhalten werden würde. Gefangen in meinem Körper, ohne Möglichkeit, den Schmerzen und Qualen zu entrinnen, mich zu bewegen oder zu äußern – und das ebenfalls für immer. Was diese Szenarien verband, war ihre Schrecklichkeit und Unausweichlichkeit von ewigen Schmerzen und Qualen.

      Dann spielte sich noch der dramatische Kampf gegen die Krankheit ab. Da war so eine Art gedankliche Stimme, dir mir sagte, man würde den Infektionserreger an einem anderen Ort erforschen und bekämpfen – und würde versuchen, mich zu retten.

      Dieses Kopf-Chaos spitzte sich immer weiter zu. Ich hatte zwischenzeitlich das Gefühl, durch unsichtbare Fesseln ans Bett gebunden zu sein und fühlte mich nur noch wie eine Maschine. Ich riss mir in einer Art Befreiungsaktion den Katheter vom Hals ab und schrie: „Ich bin ein Mensch“. Danach wollte man mich nur noch aus dem Krankenhaus haben. Ich sollte nach Hause geschickt werden. Gerade am Tag davor spitzte sich das innere Drama zu – ich aß etwas zu Mittag und zeitgleich kam die innere Stimme und sagte: „Jetzt ist es vorbei. Es passiert etwas Schlimmes, du wirst nochmals operiert und wirst für den Rest deines Daseins unter Schmerzen künstlich am Leben erhalten.“ So mehr oder minder war das Urteil, das mir mitgeteilt wurde. Wenn ich eines in dem Moment nicht mehr wollte, war es leiden. Genau das schrieb ich in einen Abschiedsbrief, den ich im Zimmer hinterließ. Dann ging ich in großer Verzweiflung und Panik aus dem Zimmer, zunächst auf die Toilette im Flur. Auf der Station gab es keine Zimmertoiletten, sondern alle Patienten mussten sich eine teilen. Dort fand ich ein großes Fenster, das man öffnen konnte. Ich schaute herunter: Es waren vielleicht sechs oder sieben Stockwerke. Das war eine Möglichkeit meinem Schicksal zu entrinnen, dachte ich. Ich ging weiter. Dann fand ich ein Treppenhaus. An den Seiten waren Geländer angebracht und daneben war ein relativ breiter Spalt, der nach unten hin endlos schien. Ich stieg über das Geländer und stand nun mit dem Rücken zu dem Spalt. Eine Putzfrau kam in den Flur und fragte mich in gebrochenem Deutsch, was ich da machen würde – ob ich spielen würde? Ich ließ sie in dem Glauben.

      Dann machte ich den Schritt. Ich fiel ein Stockwerk und landete mit dem Gesäß auf den glatten Steinfliesen. Ich spürte keinen Schmerz. Die Putzfrau holte umgehend Hilfe und ich wurde sofort versorgt. Ich hatte mir die Lippe oben etwas und unten ziemlich stark aufgerissen und blutete entsprechend. Die Schneidezähne waren leicht abgeschlagen. Ich hielt über die nächsten Stunden die Augen geschlossen. Ich spürte während der Behandlung starke Schmerzen, als ob man mir einen Draht in dem Arm gedreht hätte – es war vermutlich irgendein Katheter und ich nahm wahr, wie ich an der Lippe vernäht wurde. Danach landete ich auf der Intensivstation.

      Auch dort ging es verschwächt weiter mit den Wahnvorstellungen. Ich bekam kein Mirtazapin mehr. Obwohl meine Eltern und ich dagegen waren, wurde ich dann in das LVR-Klinikum in Düsseldorf-Grafenberg verlegt. Die Begründung: schwere Depression.

      Dort angekommen landete ich auf einer geschlossenen Station. Direkt nach der Ankunft hatte ich ein Gespräch mit dem leitenden Arzt. Ich klagte wiederum über meine Gedächtnis- und Wahrnehmungsprobleme und über die Wahnvorstellungen, die sich aber nur noch in Albträumen niederschlugen. Die Gedächtnisstörungen waren im Krankenhaus zunächst mit der Belastung durch die Operation und der Narkose begründet worden. Für die Ärzte hier war es nun Symptom meiner schweren Depression. Das musste ich so hinnehmen, auch wenn ich nicht davon überzeugt war. Ich bekam ein anderes Medikament namens Seroquel, ein Anti-psychotikum und -depressivum.

      Schmerzen hatte ich endlich kaum noch und daran versuchte ich, mich aufzubauen. Doch spürte ich besonders in diesem Umfeld eine riesengroße Leere. Ich hatte überlebt, nur zu welchem Preis? Es fiel mir auch schwer, mir selbst zu verzeihen. Einerseits wusste ich, dass die Geschehnisse im Krankenhaus nicht viel mit meinem wahren Ich zu tun hatten, andererseits fühlte ich mich trotzdem schuldig. Ich schrieb folgendes Gedicht:

      Neubeginn (Gedicht Mai 2008)

      Der Mensch macht Fehler am laufenden Band,

      verliert von Zeit zu Zeit die Kontrolle, gibt sie aus der Hand,

      lässt sich von bösen Mächten infiltrieren,

      hofft jedoch stets dies zu korrigieren.

      Wer seine Schwächen erkennt,

      seine Fehler und Missetaten beim Namen nennt,

      sich aufrichtig dafür schämt und durch gute Taten Buße tut,

      jener hat Kampfgeist und Mut.

      Eine neue Chance verdient jeder im Leben,

      viele Wesen werden sich dadurch aus ihrer Lethargie erheben,

      Licht verteilen, überall,

      und am Ende landen in Gottes Hall'.

      Gefangen im Kopf,

      hängend am Tropf,

      der Geist will sich befreien,

      doch niemand hört sein Schreien,

      surreale Vorstellungen, in jenen ward er fest verschlungen,

      trieben ihn in den Sinne in den Wahn.

      Er schmiss sein Leben beinahe hin -

      man mag es kaum fassen,

      sollte er sich dafür hassen?

      Eine Lösung wäre das nicht, doch was erwartet ihm beim höchsten Gericht?

      Die Atmosphäre auf der Station war äußerst deprimierend – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich empfand großes