Patrik Bitter

23 - Und Schnitt!


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eine kleine Zweizimmerwohnung, einige Minuten von dem neuen Büro unserer Firma und der Wohnung seiner Freundin entfernt.

      Das „Gemeinsam-mit-mir-zu-wohnen“ hielt mein Vater auch nicht lange durch. Nach drei Tagen setzte seine Freundin ihm das Messer auf die Brust. Wie schon zuvor hieß es sie oder ich. Er ließ mich in der Wohnung alleine. Ich bereute schon jetzt sehr, dass ich nicht zu meiner Mutter gegangen war. Als mich mein Vater nun mehr oder minder im Stich ließ, war sie fortan immer für mich da. Sie kam mehrere Male die Woche aus Düsseldorf, so oft wie es ihr Arbeits- und Studienalltag zuließ, und half mir, mein Leben wieder halbwegs eigenständig zu führen.

      In den ersten Wochen hatte ich weiterhin Probleme mit der Nekrose am Steißbein. Da war das Wissen der Freundin meines Vaters sehr hilfreich. Sie behandelte mich mit chinesischen Kräuterauflagen, die die Wunde komplett schlossen. Die Ärzte im Krankenhaus hatten zuvor wegen der Tiefe der Wunde eine Heilung fast komplett ausgeschlossen.

      Ich stand geistig weiterhin neben mir. Am liebsten hätte ich alles, was mit Yoga und meinem vorherigen Leben zu tun hatte, weggeworfen. Wohin hatte mich das alles gebracht? Nirgendwohin dachte ich. In meinem Zustand der Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit tat ich selbst das zum Glück nicht. Wegen des Prolapses im Krankenhaus hatte ich große Angst davor, mich körperlich irgendwie stärker anzustrengen. Das Aller-allerletzte, was ich wollte, war noch mal in ein Krankenhaus.

      In den ersten Wochen und Monaten ging es für mich nur darum, jeden Tag aufzustehen und irgendetwas zu tun. Ich sah zwar keinen großen Sinn darin, aber nichts zu tun, wie in der Klinik, wäre noch unerträglicher gewesen.

      Wieso sollte ich duschen? Wieso sollte ich irgendwo hinfahren? Etwas unternehmen?

      Weder änderte es irgendetwas an meiner Situation, noch könnte ich mich lang daran erinnern. Ich feierte innerlich am Ende des Tages meinen kleinen Triumph: Wieder einen Tag überlebt.

      Anfangs musste ich noch einige Male zwecks Kontrolle zur Blutabnahme. Einen Monat nachdem ich aus den Kliniken war und keine Medikamente mehr nahm, wiesen die Blutwerte schlagartig einen großen Mangel an Blutplättchen aus. Das bedeutet eine verstärkte Blutungsneigung und eine langsamere Blutgerinnung. Daraufhin machten wir einen Termin in einer onkologischen Abteilung eines Essener Krankenhauses aus.

      Die Atmosphäre dort war gespenstisch. Die Patienten, die sich dort aufhielten, waren größtenteils viel schlimmer dran als ich. Die meisten von ihnen hatten Krebs in verschiedenen Stadien. So verwunderte es kaum, dass der Arzt mit mir recht sorglos umging. Er führte eine spezielle Blutuntersuchung durch. Der Befund war positiv: Es war eine 'echte' Thrombozytopenie. Ich wurde ohne weitere Behandlung mit den Werten nach Hause geschickt. Der Arzt meinte lapidar: „Kommen Sie wieder, wenn Sie konstant aus der Nase bluten. Dann machen wir noch eine Knochenmarksuntersuchung.“ Glücklicherweise, so plötzlich, wie der Wert gefallen war, normalisierte er sich ein paar Wochen später wieder.

      Meine Vorstellung, dass die Aufgabe in der Firma mir es einfacher machen würde, war größtenteils ein Irrglaube. Ich ging täglich ins Büro, auch am Wochenende und die Zeit verging dadurch schneller. Ich saß aber eigentlich nur da und beantwortete ein paar Anfragen. Ich ließ meinen Vater und seine Freundin alles machen, wie sie wollten. Ich schaute dem Treiben teilnahmslos zu.

      Lin schrieb mir wieder: Sie betete für mich und schrieb den anderen Teilnehmern des Bali-Retreats, das ebenso zu tun. Im Juli würde sie nach Deutschland kommen und wollte mich besuchen.

      In meiner Situation war es mir recht gleich. Ich überließ ihr die Entscheidung – und so kündigte sie sich für den 21. Juli an. Sie hatte zuvor einen Termin in Frankfurt und würde alleine für mich einen Tag nach Essen kommen.

      Ich sah tatenlos zu, wie meine Firma den Bach herunter ging. Bevor ich ins Krankenhaus kam, hatten wir auf unserem Konto gute Reserven. Diese waren jetzt fast aufgebraucht. Meine Mit-Geschäftsführer hatten die Firma zwar nach Essen geholt und sich um offene Bestellungen gekümmert. Sie hatten aber keine neuen Kunden hinzugewonnen und auch nicht darüber nachgedacht, ob ein teures Büro mit unserem Umsatz finanzierbar war.

      Mit meinem Vater bin ich zu der Zeit einige Male angeeckt. Natürlich auch, weil er mich privat im Stich gelassen hatte. Gerade aber auch, weil er keine Ahnung hatte, wie ein Geschäft zu führen war. Eine dieser Situation blieb nachhaltig haften.

      Wir waren eines Nachmittags in der Essener Innenstadt unterwegs. Ich weiß nicht mehr wieso, aber sowohl meine Mutter, als auch mein Vater waren bei mir. Mein Vater sagte im Zuge unserer Auseinandersetzung zu mir so etwas wie: „Ich habe ja nicht zwei Monate lang Urlaub gemacht.“

      Das war für mich unglaublich verletzend und ich brach innerlich zusammen. Ich weinte und schrie ihn an. Meine Mutter gab mir daraufhin Halt und Trost.

      Die Zeit plätscherte weiter so dahin und schon war der 21. Juli gekommen. Ich war zu Hause und gegen Mittag klingelte es. Ich war gerade am Kochen und Lin überraschte mich etwas. Sie hatte sich nicht verändert.

      Weiterhin hatte sie eine unglaublich tolle Ausstrahlung. Ich konnte mich trotzdem kaum freuen. Wir unterhielten uns über das, was passiert war. Nach einigen Minuten lag ich weinend in ihren Armen. Sie tröstete mich. Über den Tag versuchte sie mich immer wieder aufzumuntern, doch leider vergebens. Sie hatte mir mehrere Geschenke mitgebracht: ein Bild von unserem White Water Rafting Trip aus Bali und ein Bild von Durga, einer der Göttinnen des Hinduismus. Sie stellte mir noch eine CD mit ihrer Lieblingsmusik zusammen. Sie verbrachte fast den gesamten Tag in Essen. Später waren wir noch gemeinsam mit meinem Vater und seiner Freundin essen. Sie wollte den Stomabeutel sehen. Für sie hatte es keine große Bedeutung. Vielmehr war sie inspiriert davon, dass ich das alles so überstanden hatte.

      Es war ein trister Tag.

      Der Mensch, den ich neben meinen Eltern vor dem Krankenhaus am meisten in mein Herz geschlossen hatte, kam zu mir nach Essen und ich konnte es nicht wertschätzen.

      Nicht mal ein Lächeln konnte ich mir abringen. Wir verabschiedeten uns am Nachmittag am Essener Hauptbahnhof.

      Wenige Tage später schickte sie mir noch per E-Mail einen Link zu einem Artikel über „Yoga bei Depressionen“ und zwei Fotos, die sie mit mir in Essen gemacht hatte.

      In der Zwischenzeit war ich noch bei einem anderen Therapeuten. Ich erzählte ihm meine Geschichte und er zeigte sich verständnisvoll. Gerade, weil ich so einen Medikamentencocktail im Krankenhaus bekommen hatte, hielt er den Verlauf dort für plausibel. Mir ging es weiterhin hauptsächlich um meine Gedächtnisprobleme und meine Konzentrationsfähigkeit, die weiter beide unverändert schlecht waren. Unterm Strich war das Gespräch jedoch ernüchternd. Er hielt Medikamente für die einzige Option und wollte mir ein Antidepressivum verschreiben: Cipralex.

      Das berichtete ich Lin. Ihre Reaktion war ebenfalls skeptisch. Sie sprach mir erneut Mut zu, zu kämpfen und weiterzumachen. Ich verzichtete auf weitere „Experimente“ mit Psychomedikamenten.

      Etwas Ablenkung hatte ich dann doch. Die Olympischen Spiele in Peking fanden im August statt. Ich hatte in den Jahren zuvor Sport breit verfolgt und mit Recherchen, Analysen und Statistiken hatte ich gutes Geld verdient. Somit war ich den August über fast durchgängig beschäftigt – zwar weiterhin nicht glücklich, dafür aber nicht so viel am Grübeln.

       Ein paar Dinge versuchten wir in den nächsten Monaten.

       Zu den etwas skurrileren Versuchen gehörte der Besuch bei einem ägyptischen Heiler in Essen. Ich hatte auch tatsächlich was gespürt, denn von seinen Händen ging eine starke Wärme aus. Nachhaltig änderte das jedoch nichts.

       Ich machte mich schlau, was es so an natürlichen Alternativen zur Stimmungsaufhellung gab. Ich probierte Johanniskraut aus. Jedoch kam ich zur Erkenntnis, dass ich auf Dauer mein Denken ändern müsste, damit sich meine Welt wieder aufhellt.

       Die Firma wurde meine vorrangige Beschäftigung. Hatte ich noch Ende 2007 für mich damit abgeschlossen, war sie nun nach dem Verlust meiner körperlichen Integrität das Einzige, was mir von vorher geblieben war. Solange ich nur da saß und zusah, wie mein Vater und seine Freundin agierten, war die Situation entspannt. Ich erlangte aber nach und nach mehr von meiner Klarheit und meinem Selbstbewusstsein zurück.