Patrik Bitter

23 - Und Schnitt!


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dass sie in der normalen Welt nicht mehr funktionierten. Ansonsten waren sie aber genauso verrückt wie alle anderen Menschen, die ich bis dato kennengelernt hatte. Das Zeitgefühl hatte ich irgendwo im Krankenhaus verloren – ich schaute ständig auf die Uhr im Gang. Hier verging die Zeit kaum. Wie auch?

      Es gab absolut nichts zu tun. Auf den Zimmern gab es bis auf eine Spüle, zwei Betten, Schränken und Beistelltischen nichts und im Aufenthaltsraum gab es einige Bücher, Spiele, bei denen die wichtigsten Figuren und Bestandteile fehlten, Puzzle, die nicht mehr vollständig waren, und einen Fernseher. Ich empfand es als sehr perfide, dass die einzigen Male, wo ich mehrere Patienten vor dem Fernseher sitzen sah, „CSI“ und „Deutschland sucht den Superstar“ geschaut wurde. Das interessierte aber keinen der Pfleger oder Ärzte. Mir fehlte auch jeglicher Antrieb und Motivation, denn nach der Erfahrung im Krankenhaus fiel es mir schwer, in irgendetwas großen Sinn zu sehen. Die einzigen Anker am Tag waren für mich die Mahlzeiten, auch wenn das Essen eher unterdurchschnittlich war. Für mich gab es zudem keine rationale Logik, wie ich nach den Erlebnissen 'glücklich' sein können sollte. In den Tagen hier wurde mir nach und nach klarer, dass die Operation weitaus tief greifender war, als wie es mir zuvor dargestellt wurde und dass ich wahrscheinlich immer mit dem Stoma leben müsste. Zudem schwand nach und nach die Zuversicht, dass sich mein Gedächtnis schnell wieder erholen würde.

      Gerade in den ersten Tagen muss ich ein krasses Bild abgegeben haben. Bis auf eine Katzenwäsche konnte ich mich nicht zu größeren Reinigungsritualen aufraffen. Mein Gesicht war noch von dem Sturz mit Schrammen und Narben an der Lippe gezeichnet und die abgesplitterten Zähne rundeten das bizarre Gesamtbild ab.

      Das Medikament hatte für mich nur zwei spürbare Effekte: Einerseits empfand ich meine Wahrnehmung als stark vernebelt und gedämpft. Der zweite Effekt war großer Hunger. Zu dem Zeitpunkt war das eine sehr positive Nebenwirkung, denn nachdem das Cortison abgesetzt worden war und ich Entwässerungstabletten nahm, zeigte die Waage hier am tiefsten Punkt 42 Kilogramm an.

      Mir fehlte eine Aufgabe und ich sehnte mich nach einem Zuhause. Meine Eltern kamen zwar auch hier fast täglich, doch nach knapp zwei Monaten Kliniken war ich es so langsam leid. In den ersten Tagen hatte ich auch noch nachts ein Leck am Stomabeutel, was mich dann zum Duschen zwang. Für mich war das Duschen hauptsächlich ein Hemmnis, weil ich Angst hatte, dass der Beutel sich lösen würde – der Nutzen gegenüber dem Risiko schien mir unverhältnismäßig. Es blieb bei dem einem Unfall und endlich lernte ich auch, die Beutel eigenständig zu wechseln.

      Die Erfahrungen und Eindrücke, die ich hier sammelte, gaben mir Einblick in eine Welt, die ich mir ansonsten wohl kaum hätte vorstellen können. Die Gedankenwelt, in der ich nun lebte, war komplett anders als die, die ich bis vor dem Krankenhaus kannte.

      Ohne so etwas erlebt zu haben, kann man sich nicht vorstellen, wie dunkel und trostlos ein Geist sein kann. Die anderen Bewohner der Station waren komplett unterschiedlich: Von Jugendlichen bis Senioren, von Schülern bis Professoren – alles war vertreten. Die Einzelschicksale waren alle sehr berührend. Besonders blieb mir jedoch ein Mann in Erinnerung, der bei einem Suizidversuch seinen Arm verloren hatte. Er war sehr groß, dünn und Ende vierzig. Er erzählte davon, dass er eine Familie habe und eine eigene Lotto-Annahmestelle besäße. Es gab keinen greifbaren Grund dafür, dass er nicht mehr leben wollte. Nun war er hier gelandet und als letztes Mittel wurde er mit Elektroschocks behandelt. Ansonsten hörte ich noch etwas, was mich ziemlich schockierte. Einige der Patienten kamen immer wieder hier hin zurück – ich musste es innerlich mit einem Drogensüchtigen, der zum Dealer zurückkehrt, vergleichen. Ich konnte der Art und Weise, wie die Patienten hier behandelt werden, nicht viel abgewinnen. Letztendlich wurden sie nur mit Medikamenten versorgt und es wurde darauf gewartet, dass allein das Wunder bewirken sollte.

      Ich hatte in den Tagen viel Zeit zum Nachdenken und Recherchieren. Ich machte mich etwas über Mirtazapin schlau. Es war das Medikament, das ich im Krankenhaus bekommen hatte. Sowohl die Albträume als auch die Wahnvorstellungen nebst Suizidrisiko bei jungen Menschen waren bekannt und dokumentiert. Ich war schockiert darüber, dass man mir das Medikament als „Schlafmittel“ untergejubelt hatte.

      Es gab nur wenig Abwechslung auf der Station. Einmal die Woche fand eine Stunde Ergotherapie statt, die aus Kreuzworträtseln und anderen Beschäftigungstechniken bestand. Tagsüber ging ich unzählige Male den Gang auf und ab, um so langsam wieder in Bewegung zu kommen. Die Station konnte ich nur in Begleitung meines Vaters oder meiner Mutter selten verlassen. Es gab auf der Rückseite des Gebäudes einen kleinen eingezäunten Park, in den wir auch einige Male gingen. Ich war immer noch recht schwach und gerade das Treppensteigen war problematisch. So stolperte ich im Garten in Begleitung meines Vaters und schlug recht heftig auf. Das Resultat war ein Nasenbeinbruch.

      Ich trainierte zudem täglich das Trinken. Im Krankenhaus war es mir noch schwer gefallen, einen Liter pro Tag zu trinken. Laut Broschüre und aufgrund des fehlenden Dickdarms hatte ich nun einen sehr hohen Flüssigkeitsbedarf – drei bis vier Liter am Tag. Deswegen stellte ich mir morgens zwei 1,5 Liter Flaschen hin und machte es mir zur Aufgabe, diese über den Tag zu leeren.

      Zwischenzeitlich erhielt ich eine Mail von Lin. Sie hatte meine Email aus dem Krankenhaus erst am 8. Mai gelesen und schrieb mir um 3 Uhr morgens Ortszeit aus Hongkong. Ich nahm es ziemlich emotionslos zur Kenntnis. Nichts hatte zu dem Zeitpunkt großen Wert oder Bedeutung. Trotzdem antwortete ich ihr und berichtete davon, dass so ziemlich alles schief gelaufen ist. Ebenso musste ich noch meine Yogalehrerausbildung absagen. Dies machte ich mit einer kurzen und knappen und ungeschönten E-Mail.

      Ich hatte in der Zeit zwei Zimmergenossen: Einen älteren Herren, der kurz nach meiner Ankunft wieder entlassen wurde und einen jungen Mann. Wie der Zufall(?) es so wollte, hatte dieser auch keinen Dickdarm mehr, dafür aber eine Pouch – kurz beschrieben war das eine aus Dünndarmgewebe geformte Tasche, die als „Ersatz“ für den Dickdarm dienen sollte. Ob das in der Praxis funktionierte, war sehr individuell und unterschiedlich. Dass er nun hier nach einem Suizidversuch gelandet war, war nun auch nicht wirklich erbauend.

      Nach knapp drei Wochen entschied ich, dass ich nach Essen gehen würde. Mein Vater hatte mich überzeugt, dass er und seine Freundin sich besser um mich kümmern könnten als meine Mutter, die alleine lebte, studierte und arbeitete. Für mich entscheidend war, dass auch meine Firma nun in Essen war. Sie war das Einzige, was mir von den Fundamenten meines vorherigen Lebens geblieben war: Mein altes Zuhause war nicht mehr da und Yoga war für mich auch gestorben.

      So verließ ich nach mehr als zwei Monaten das erste Mal Düsseldorf und fuhr mit meinem Vater nach Essen.

      Kapitel 4 – Das Leben danach

       „Und sehr viele bleiben für immer an dieser Klippe hängen und kleben ihr Leben lang schmerzlich am unwiederbringlich Vergangenen, am Traum vom verlorenen Paradies, der der schlimmste und mörderischste aller Träume ist.“

       Hermann Hesse, Demian, Gesammelte Werke

      Ich sollte noch einige Wochen in Essen ambulant behandelt werden, damit die Umstellung langsam erfolgen konnte: vom Klinikleben wieder zurück in die reale Welt.

      Wir fuhren daher direkt zum Krankenhaus in Essen. Dort hatten wir einen Termin mit der leitenden Ärztin. Im Entlassungsschreiben war vorgesehen, dass ich auch hier zunächst auf eine geschlossene Station kommen sollte. Das war gar nicht in unserem Sinne. Trotzdem ließen wir uns die Station zeigen.

      Im Vergleich zu Düsseldorf, wo eine angenehme Atmosphäre herrschte, war das hier anders. Ich sah eine Patientin wütend einen Mülleimer durch den Raum treten. Einen Anderen sah ich aus der Distanz und hörte ihn wild schreien.

      Schnell war meinem Vater und mir klar, dass ich hier nicht bleiben könnte. Also verließen wir im Einverständnis mit der Ärztin die Klinik. Ich wohnte daraufhin mit in der Wohnung der Freundin meines Vaters.

      Diese Situation währte aber nicht lange. Seiner Freundin passte meine Anwesenheit gar nicht. Es musste umgehend eine Lösung gefunden werden. Mein Vater suchte daher nach der erstbesten Wohnung und schnell hatte er den Mietvertrag unterzeichnet. Er versprach die erste Zeit mit mir dort