Patrik Bitter

23 - Und Schnitt!


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davon, in welchen Arm mir die Infusionsnadeln gesetzt wurden, schwoll die jeweilige Hand und Körperseite stärker an. Ich konnte nicht fassen, was mit mir passierte: Meine Füße wurden zu groß für meine Schuhe. Wassereinlagerungen waren eine bekannte Nebenwirkung der Cortisonbehandlung, doch hatte es bei mir bereits mit der Gabe der Kochsalzlösung begonnen. Die Frage, wieso es bei mir solche Ausmaße annahm, blieb letztendlich unbeantwortet.

      Während ich in den Tagen in Iserlohn nur liegen konnte, versuchte ich in Düsseldorf anfangs noch zu gehen. Nach einigen Tagen war ich einfach zu schwach dafür und konnte das Bett kaum noch verlassen. Schnell hatte ich mich wund gelegen. Es bildete sich ein Wundliegegeschwür an meinem Steißbein. Es wurde über die folgenden Wochen so schlimm, dass das Gewebe teilweise abstarb. Mithilfe von Pflastern und Sitzringen versuchten die Pfleger, die Wunde zu versorgen.

      Ich bekam nicht so viel davon mit, was hinter den Kulissen geschah. Was ich jedoch täglich sehen durfte, waren bei der Visite mindestens zehn Ärzte, die untereinander diskutierten, mir Fragen stellten, doch trotzdem komplett im Dunkeln tappten. Glücklicherweise waren die Pfleger und Schwestern sehr mitfühlend und einfühlsam. Der Leidensdruck war enorm und umso dankbarer war ich um die fürsorgliche und gute Behandlung.

      Eine Darmspiegelung war zu Beginn des Aufenthalts noch möglich. Das Ergebnis war, wie zu erwarten, verheerend. Der gesamte Dickdarm war stark entzündet und am Bluten. Die dabei entnommenen Gewebeproben waren nicht eindeutig und so sollte eine zweite Spiegelung gemacht werden.

      Dazu musste ich es wiederum schaffen, eineinhalb Liter Flüssigkeit zu trinken, was mir nur mit Disziplin und Selbstüberwindung möglich war. Schon nach dem ersten Glas füllte ich mich voll und kurz vor der Implosion. Die Mühe war jedoch umsonst, da die Ärzte die Untersuchung aufgrund des Entzündungsgrads für zu risikoreich erachteten. Ein ähnliches Prozedere durchlief ich wenig später bei einer Darm Computertomografie. Der Vorteil dieser Untersuchungsmethode: Sie war ungefährlich und nicht invasiv.

      Endlich gab es auch mal eine positive Nachricht: Der Dünndarm war zwar geschwollen, aber nicht entzündet. Die Blutungen und die Entzündung beschränkten sich auf den Dickdarm.

      Meine Stuhl- und Blutproben wurden deutschlandweit ausgewertet, doch konnte kein bekannter Erreger nachgewiesen werden.

      Dazu gab es von einem der Ärzte einen passenden Kommentar: „Es gibt auch viele Erreger, die wir gar nicht kennen.“

      Aufgrund der Faktenlage entschieden sich die Ärzte dann zur standardmäßigen Behandlung einer Colitis Ulcerosa. Die Blutungen wurden somit auf eine Autoimmunreaktion zurückgeführt. Das bedeutete weiterhin Cortison in hoher Dosis. Zudem lernte ich den Leiter der Klinik kennen, Professor Rosinger, der bei seinem ersten Besuch eine Entscheidung traf: Ich sollte keine Ballaststoffe mehr zu mir nehmen, nur noch Astronautenkost.

      Das nahm dann skurrile Ausmaße an. So wurde mir an einem Tag ein Sojaschokodrink gegeben, der 0.9 g Ballaststoffe enthielt. Nach diesem „großen“ Fehler gab es nur noch das Zuckerwasser, wie ich es nannte. Denn die Astronautenkost war ein hochkalorisches Getränk und bestand größtenteils aus Glukosesyrup und Saccharose. Die 200ml pro Packung oder Flasche bekam ich mit Mühe herunter. Mit Disziplin schaffte ich am Tag vier oder fünf davon.

      Für mich hatte das einen großen symbolischen Wert. So hatte ich zumindest noch eine Sache in meiner eigenen Hand. Wenn ich die Astronautenkost nicht hätte trinken können oder wollen, wäre künstliche Ernährung durch einen Schlauch die Konsequenz gewesen.

      Bevor ich einen neuen Zimmernachbarn bekommen konnte, wurde ich auf ein anderes Zimmer verlegt. Aufgrund meines Zustands hielten die Ärzte es für angebrachter, mir ein Einzelzimmer zu geben. Es waren mittlerweile drei Wochen vergangen und die Situation hatte sich stetig verschlimmert. Meine Blutwerte machten Bluttransfusionen unabdingbar. Mir gefiel die Entwicklung überhaupt nicht. Wir versuchten noch Möglichkeiten zu finden, mich in eine alternativmedizinische Klinik zu verlegen. Leider war es dafür zu spät. In meinem Zustand war ich nicht mehr transportfähig. Der Chefarzt der Magen-Darm-Abteilung war mir gegenüber sehr ehrlich und offen. Schlimmstenfalls könnte ich an der Erkrankung sterben, sagte er. Oder zumindest lebenslang künstlich ernährt werden, wenn mehr als nur der Dickdarm entfernt werden müsste. In den Tagen wurde das zu meiner größten Angst: Gerade war ich 23 geworden und das sollte nun alles sein? Ich hing stark am Leben.

      Für mich gab es wenig Ablenkung. Ich konnte zwar Fernsehen, Zeitschriften lesen, Musik hören oder auch das Internet nutzen. Ich war jedoch viel zu schwach, irgendetwas davon konzentriert zu verfolgen. Der Schmerz durchdrang alles und es gab kein Entkommen vor ihm.

      Die Behandlungsmöglichkeiten gingen so langsam aus. Wochenlange Cortisongabe hatte zwar den Entzündungswert reduziert, doch die Blutungen waren unvermindert und sogar stärker als je zuvor. Ich lernte noch einen völlig neuen Begriff kennen: Blutkoagel. Wochenlang kam nur flüssiges Blut aus mir raus, jetzt aber auch richtige Blutklumpen. Aufgrund der Entwicklung konnte ich da nicht völlig tatenlos liegen. Ich fand etwas über Blutwäsche als Möglichkeit im Internet. Das war jedoch eine experimentelle und noch nicht sehr erprobte Behandlungsmethode und in der Klinik wurde sie nicht praktiziert. Daher blieb nur noch die Behandlung mit Immunsuppressiva. Im wahrsten Sinne war das nun „alles auf eine Karte setzen“: Eine Colitis würde zu hoher Wahrscheinlichkeit darauf positiv ansprechen und die Symptome sollten abflachen. Bei einer anderen Erkrankung könnten alle Dämme brechen. Es wurde sofort zur härtesten Waffe gegriffen: Tacrolimus, ein extrem stark und schnell wirkendes Mittel, um das Immunsystem auszuschalten. Zeitgleich wurde ich darüber informiert, was passieren würde, sollte die Behandlung nicht anschlagen. Dr. Tischler erklärte mir, dass man den Dickdarm entfernen würde, mir einen künstlichen Darmausgang legen würde, Ileostoma genannt, und ich nach zehn Tagen wieder normal essen und nach Hause könnte. Nach sechs Wochen würde das dann wieder zurückverlegt und alles wäre wie zuvor, ich müsste nur etwas öfter auf Toilette. Das hörte sich für mich nach Erlösung an. So sehnte ich die Operation geradezu herbei, da Besserung absolut nicht in Sicht war.

      Als mein Zustand stabil schien, flog mein Vater mit seiner Freundin nach China. Neben meiner Mutter, die so oft sie konnte, bei mir war, war er meine zweite Stütze.

      Er war nun nicht da, als die Situation eskalieren drohte.

      Andererseits sorgte er in den Wochen zuvor für große Unruhe. Ich wohnte mit meinem Vater einige Jahre zuvor in einer Wohnung, in der an den Wänden teilweise Schimmel war. Seitdem verfolgte ihn geradezu ein Wahn, dass überall Parasiten sein könnten. Meine Erkrankung bestärkte ihn darin und so musste ich in meinem Krankenbett, um mein Leben kämpfend, hinnehmen, dass mein Vater darauf beharrte und bestand, dass bei uns Parasiten wären. Er kündigte die Wohnung und beraubte mich so faktisch meines zu Hauses. Wir führten darüber einige Gespräche und ich forderte, dass er mir Beweise liefern sollte: Eine Untersuchung durch einen Sachverständigen oder das Gesundheitsamt. Das passierte jedoch nie. Auch die Schwestern und Pfleger schüttelten nur den Kopf, als er argwöhnisch im Zimmer die Wände und Oberflächen betrachtete.

      Meine Blutwerte sackten nun regelmäßig auf lebens-bedrohliches Niveau. Nach einer besonders starken Blutung verlor ich beinahe das Bewusstsein.

      In diesen Tagen schrieb ich auch Lin. Sie war die einzige Person neben meinen Eltern, an die ich in der Zeit dachte. Ich berichtete ihr von der Entwicklung und meinem Zustand.

      Der April war angebrochen und vor dem Fenster liefen ein paar Häschen herum. Nicht, dass es irgendetwas an meiner Situation änderte. Ich hatte dadurch jedoch zumindest eine Idee, wie lange ich nun schon hier war.

      In den Jahren zuvor hatte ich mir finanziellen Rücklagen geschaffen. Da das Überleben tatsächlich fraglich war, stand ich vor einer wichtigen Entscheidung. Damit im schlimmsten Falle an meine Rücklagen zu kommen war, schrieb ich meine Zugangsdaten und Passwörter auf. Die Frage war nur, wem ich diese gebe. Nachdem ich meine Finanzen grob offenlegte, war mein Vater sehr dahinter her. Er wollte das Geld anlegen, um ein Teil eines Hauses zu finanzieren, wo seiner Vorstellung nach er, seine Freundin, die Tochter und ich wohnen sollten. Ich entschied mich dafür, alles meiner Mutter anzuvertrauen. Das führte wiederum zu Querelen und auch dazu, dass mein Vater mehrere Male versuchte, meine Mutter dazu zu überreden, ihm den Zugang zu ermöglichen.