Natalie Bechthold

Dem Feind versprochen


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      „Das wagen Sie nicht!“ Zornesröte färbte die Wangen der Zofe. Ihre Augen funkelten ihn böse an. Dann zog sie schnell den Vorhang zur Seite, streckte ihren Kopf aus dem Fenster und rief nach den beiden Rittern. Sofort hielt die Kutsche an. Die beiden Ritter wendeten ihre Pferde und eilten schnell zur Kutsche. Der Fremde drückte schnell und dennoch sanft seine Lippen auf die der jungen Gräfin und schnitt gleichzeitig die goldene Kette durch, die sie um ihren Hals hängen hatte, ohne dass sie es bemerkte. Gräfin Stephania schloss ihre Augen und vergaß alles um sich herum. Mit einem großen Entsetzen starrte die Zofe zu dem Fremden, der gerade einen Kuss von ihrer Herrin stahl. Leider konnte sie wegen ihrer starkgeschwollenen Beine gegen ihn nichts ausrichten.

      „Das nächste Mal wiederholen wir das“, konnte der Fremde sein Grinsen nicht unterdrücken, als sich ihre Lippen wieder trennten, und zwinkerte der Gräfin verschwörerisch zu. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln.

      Als die Ritter die Tür der Kutsche öffneten, war der Fremde durch die andere verschwunden. Geblieben war der jungen Gräfin nur die süße Erinnerung eines Kusses mit einem Fremden mit blondem, nackenlangem Haar. Gräfin Stephania lächelte, als sie mit den Fingern ihre noch feuchten Lippen berührte.

      Die Zofe sah ihre Herrin mit einem besorgten Blick an, sagte aber nichts. Stattdessen wand sie sich an die beiden Ritter, um ihnen zu erklären, was vorgefallen war. Dieses Mal hatten sie wirklich großes Glück, dass der Fremde nicht mehr wollte. Aber das nächste Mal könnte viel schlimmer für sie beide enden. Mit einer Vergewaltigung oder Entführung, nichts konnte man ausschließen.

      Die Kutsche nahm wieder ihre Reise auf. Und diesmal ritt nur ein Ritter voraus, der andere hinter der Kutsche her, bis sie am frühen Abend den von Bäumen und Sträuchern bewachsenen Berg erreichten.

       ***

      

      Der graue Himmel wurde von Stunde zu Stunde immer dunkler und der voranreitende Ritter konnte bei Anbruch der Nacht die von Fackellichtern beleuchtete Burgmauer von weitem erkennen. Bald sind wir da, dachte er und freute sich auf ein warmes Bad. Die zweiwöchige und beschwerliche Reise hatten sie fast hinter sich. Und schon bald würde ihre Mühe belohnt werden. Plötzlich schoss jemand von der Mauer einen Pfeil ab und traf den Ritter mitten ins Herz. Der Ritter fühlte einen starken Schmerz in der Brust, aber bevor er verstehen konnte, was mit ihm geschehen war, fiel er langsam und leise vom Pferd. Das Pferd ging weiter, ohne auf seinen gefallenen Reiter zu achten. Erst der dritte Pfeil, der den anderen Ritter im Hals getroffen hatte, und dieser mit einem merkwürdigen Laut, das seiner Kehle entfuhr, vom Pferd fiel, bäumte sich das Pferd erschrocken und wiehernd auf. Sofort steckte Gräfin Stephania ihren Kopf aus dem Fenster und sah hinaus. Im Fackellicht ihrer Kutsche konnte sie erkennen, dass der Kutscher die Zügel verloren hatte und sein lebloser Körper langsam vom Kutschbock fiel. Das reiterlose Pferd kam vom Waldweg ab und verschwand erschrocken zwischen den Bäumen.

      „Ist etwas geschehen?“, wollte die ältere Zofe von ihrer Herrin wissen, als Gräfin Stephania noch immer versuchte im Dunkeln zu erkennen, was geschehen war. Die junge Gräfin sah nach hinten, aber auch dieser Ritter war verschwunden, samt seinem Pferd. Sie war sich sicher, sie hörte noch ein verschrecktes Wiehern. Das Pferd musste also noch in der Nähe sein. Als sie ihren Kopf wieder einsteckte scheuten die Pferde und die Kutsche geriet in ein heftiges Schaukeln. Die Zofe hielt sich krampfhaft an der Sitzfläche und Wand fest. Viel zu schnell raste die Kutsche über den Waldweg auf die Burg zu.

      „Wir müssen springen“, versuchte die Gräfin das laute Rattern der Kutsche zu übertönen.

      „Springen …?“, wiederholte die Zofe überrascht.

      Gräfin Stephania öffnete die Tür und stellte sich davor.

      „Schnell!“, rief sie und sprang ohne etwas zu erklären aus der Kutsche. Sie landete auf der Erde mit grünem Moos bewachsen, zwischen zwei hohen Tannen. „Aber … Gräfin?“, rief die Zofe ängstlich und steckte den Kopf hinaus. Sie sah, wie die Gräfin auf dem Boden lag und dabei immer kleiner wurde, bis sie bald von der Dunkelheit verschluckt wurde. Dann richtete sie den Blick nach vorn. Die Kutsche raste auf die Burg zu. Es war ihr Reiseziel. Aber das Tor blieb verschlossen. Ich muss springen, sagte sie sich. Bäume, Sträucher, hin und wieder auch Felsgestein zogen an ihr vorbei. Fräulein Netta hatte Angst, doch ihr blieb nichts anderes übrig als zu springen. Sie sah aus der Kutsche und wartete auf den richtigen Moment. Plötzlich flog ein Pfeil zischend an ihrem Kopf vorbei und verfehlte sie nur um eine Haaresbreite. Erschrocken schoss ihr Blick in die Richtung, aus der er gekommen war. Der Burg. Sie musste springen, jetzt sofort! Denn es gab keine Zeit sich die Frage zu stellen, warum sie von der Burg beschossen wurde. Burg Rosenstein war doch seit über 30 Jahren ihr Zuhause. Und gleich hatte sie sie erreicht.

      Deshalb schloss die ältere Frau ihre Augen und sprang. Starke Schmerzen schossen ihr durch die geschwollenen Beine, als sie auf der Erde aufkam und das brachte sie zu Fall. Eine herausragende, spitze Wurzel durchbohrte ihren Bauch. Die Zofe jammerte sehr vor Schmerzen, bis sie schließlich an ihrer schweren Verletzung starb.

       ***

      

      Die junge Gräfin setzte sich auf und strich mit der schmutzigen Hand Haarsträhnen aus der Stirn. Dann stand sie auf und sah besorgt auf den Weg, der hinauf zu ihrer Burg führte. Hoffentlich ist sie gesprungen, dachte sie. Noch wusste sie nicht, was mit den beiden Rittern passiert war, nur dass sie auf einmal verschwunden waren, obwohl sie sie doch beschützen sollten. Aber da der Kutscher so plötzlich auf dem Kutschbock gestorben war, ahnte sie Schlimmes. Gräfin Stephania raffte ihre Röcke und tauchte in das Dickicht der Bäume. Sie ging weiter den Berg hinauf, blieb ganz in der Nähe des Waldweges. Bald hörte sie Stimmen. Irgendwelche kamen mit leuchtenden Fackeln aus der Burg. Schnell versteckte sie sich hinter einen Baum und beobachtete die Männer, die sich über etwas beugten. Einer von ihnen drehte es um und leuchtete mit der Fackel darauf.

      „Sie ist tot.“

      Fräulein Netta, zitterte Gräfin Stephanias Kinn. Das kann nur sie sein.

      „Hat jemand eine Ahnung, wer das sein kann?“, fragte dieser Mann seine zwei Begleiter.

      „Nein“, antwortete einer und der andere schüttelte den Kopf. „Aber nach ihrer Kleidung zu urteilen, eine Hochgeborene“, fügte er nach einer kurzen Überlegung hinzu.

      Der dritte Mann, der bis jetzt nur geschwiegen hatte, durchsuchte die Tote nach Wertgegenständen und wurde schnell fündig. Er nahm ihr die kostbare Halskette und Ohrringe ab.

      Dann drehten sie sich um und gingen, überließen den Leichnam den Tieren. In Gräfin Stephanias Augen glitzerten Tränen. Sie wusste nicht, wer diese Männer waren, aber sie kamen aus der Burg. Der Burg ihres Vaters, Burg Rosenstein.

      „Aber wenn sie in guter Absicht auf der Burg verweilen, wieso haben sie Fräulein Netta dann nicht mitgenommen?“, ein unhörbares Flüstern kam über ihre Lippen. Das verwirrte sie.

      Gräfin Stephania wartete, bis die leuchtenden Fackeln der drei Männer durch das Burgtor verschwanden. Dann kam sie aus ihrem Versteck heraus und schlich sich in geduckter Haltung zu der Toten. Nahm ihre Hand und legte sich diese auf ihre tränenbenetzte Wange. Der Abschied fiel ihr sehr schwer, denn sie war für sie alles. Die große Schwester, liebste Freundin und Mutterersatz. Gräfin Stephania schluchzte.

       ***

      Die junge Gräfin tauchte in den stockdunklen Wald ein. Diese Nacht würde sie draußen verbringen, auch wenn es für eine Frau nicht ungefährlich war. Und morgen …? Sie tastete sich an den Bäumen entlang. Stolperte über eine Wurzel und fiel auf die Knie. Das Kleid wurde dreckig und bekam einen Riss. Doch sie stand wieder auf und ging weiter, bis sie glaubte, genug von dem Waldweg entfernt zu sein. Dann setzte sie sich unter einen Baum, zog die Beine an und legte ihre mit Dreck verschmierte Wange auf die Knie. So saß sie lange da und wünschte sich, alles wäre nur ein böser Traum. Sie bräuchte dafür ihre Augen nur einmal