über ihre Nase und kitzelte sie. Gräfin Stephania musste nießen. Sie strich mit der Hand den kleinen Störenfried aus ihrem Gesicht und blinzelte mit verschlafenen Augen gegen die ersten Sonnenstrahlen, die durch die Baumkrone brachen. Es war bereits früher Morgen. Gräfin Stephania wischte sich den Schlaf aus den Augen. Dann stand sie auf und klopfte das von Tau feuchte Kleid ab. Ihr Magen knurrte. Zu Hause müsste sie nur in die Halle gehen und das Frühstück stünde für sie bereit, aber hier im Wald...? Hilflos sah sie in alle Richtungen, bis sie auf einen Busch mit roten Beeren aufmerksam wurde. Bei näherem Hinkommen erkannte sie, dass es wilde Himbeeren waren. Doch wie viele sie auch von ihnen aß, satt wurde sie davon nicht. Nachdem sie von ihnen genug hatte, raffte sie ihre Röcke und suchte die Höhle, die ihr Vater gezeigt hatte, als sie noch ein kleines Kind war. Gräfin Stephania näherte sich dem Waldweg und folgte ihm parallel, versteckt im Dickicht der Bäume. Sie ging die Strecke zurück den Berg hinunter, in die Richtung, aus der sie gestern gekommen war, bis sie einen großen Stein fand. Sie überquerte den Waldweg und tauchte in die andere Seite des Waldes ein. Jetzt musste sie nur noch geradeaus gehen. Auf dem Weg pflückte sie Beeren, die sie aus der Burgküche kannte und fragte sich irgendwann, ob sie sich nicht verirrt hatte. Denn sie ging wirklich schon so lange, aber die Höhle war noch immer nicht zu sehen. Sie warf den Blick zurück.
„Soll ich wieder zurück gehen?“ Sie entschied sich weiter zu gehen. Ging noch einige Meter, bis sie in einiger Entfernung etwas Felsiges auf der Erde erkannte und rannte erleichtert darauf zu. Es war tatsächlich die Höhle, nach der sie gesucht hatte. Aber jetzt, nachdem sie schon eine junge, erwachsene Frau war, kam sie ihr so viel kleiner vor. Gerade einmal einen Meter zehn hoch. Gräfin Stephania duckte sich und ging vorsichtig hinein. In der Höhle war es dunkel und kalt. Spinnennetze streiften über ihr Gesicht.
„Igiiit“, jammerte sie. Sie versuchte sie wegzuwischen, aber ein Großteil klebte noch immer auf ihrem Haar. Mutig ging sie weiter. Bis sich eine Ratte unter ihren Röcken verfing und piepsend nach dem Ausweg suchte. Gräfin Stephania hob ihre Röcke und schrie panisch. Sofort ergriff das zu Tode erschreckte Tier die Flucht. Zu spät kam ihr die Warnung ihres Vaters ins Gedächtnis, dass sie sich hier still und heimlich verhalten soll, wenn sie sich hier aufhielt. Denn kein anderer darf von dieser Höhle erfahren. Die Höhle war ihr und das ihres Vaters Geheimnis. Gräfin Stephania schlug mit beiden Händen vor den Mund und lauschte ängstlich. Hatte sie jetzt ihr Geheimnis an die Außenwelt verraten? Doch zu ihrer Erleichterung hörte sie nichts und atmete auf. Glück gehabt. Gräfin Stephania legte eine Hand auf das kalte Gestein und folgte dem dunklen, schmalen Durchgang. Er war sechs Kilometer lang, hatte mehrere Gänge, die ins Ungewisse führten. Nur einer von ihnen war der, durch den man in das Innere der Burg gelang. Der Boden war feucht und an einigen Stellen gab es Pfützen. Weil die Gräfin im Dunkeln nichts sah, ging sie über alles. Auch Tierkot. Nach einer halben Stunde erreichte sie die erste Abzweigung. Sie ging an ihr vorbei und weiter geradeaus. Kurz darauf kam schon die nächste. Sie bog ab und ging weiter. Danach kamen noch weitere fünf, doch sie ging an ihnen vorbei. Sie bog in die sechste ein und ging solange weiter, bis sie ein Eisengitter erreichte. Sie zog an ihm und die Gittertür ging mit einem leisen Quietschen auf.
***
Gräfin Stephania tastete mit der Hand die Steinwand weiter ab, bis sie endete und unter ihren Fingern glattes Holz spürte. Den Rücken eines Regals für Buchrollen. Sie lauschte zuerst. Stille. Dann schob sie ihre Finger in den Spalt, aus dem Licht kam, und die andere Hand in den Spalt auf der anderen Seite. Während sie das Regal mit beiden Händen festhielt, drückte sie unten mit dem Fuß dagegen. Das Regal kam in Bewegung und kratzte laut auf dem Boden. Sie schob es so weit nach vorn, bis sie in die Schreibstube ihres Vaters schlüpfen konnte. Endlich, lächelte sie erleichtert. Den Weg in die Burg hatte sie schon mal geschafft. Aber als sie sich ein wenig in der Schreibstube umsah, fiel ihr auf, dass ein Weinkrug auf dem Schreibtisch ihres Vaters stand und ein silberner Kelch quer daneben lag. Gräfin Stephania näherte sich dem Tisch, strich mit dem Finger über die winzige, rote Pfütze im inneren Rand des Kelches und schmeckte.
„Burgunder.“ So wie sie es vermutet hatte. Es war der beste Wein, den ihr Vater besaß, aber niemals trank, weil er einen empfindlichen Magen hatte.
Dann öffnete sie den Deckel des Weinkruges und stellte fest, dass er leer war. Was hat das zu bedeuten? Warum steht auf seinem Schreibtisch ein Weinkrug, wenn er ihn doch nie trinkt? Für die Gräfin war das ein Rätsel.
Schnell schob sie das Regal an seinen alten Platz, damit niemand den Geheimgang zu Gesicht bekam und eilte zur Tür. Sie machte die Tür einen Spalt auf und späte in den Flur. Ein unbekannter Mann sprach mit einem anderen, den sie ebenfalls nicht kannte. Gräfin Stephania lauschte. Doch zu ihrer Enttäuschung endete das Gespräch viel schneller als erwartet und die beiden Männer trennten sich. Viel hatte sie nicht erfahren können, nur einige Namen, mit denen sie nichts anfangen konnte. An ihrer Kleidung vermutete sie, dass sie Ritter waren. Auf leisen Sohlen überquerte sie den Flur, stellte sich neben das Fenster und sah durch die Glasscheibe hinunter in den Burghof. Der Anblick erschreckte sie. Unzählige Tote lagen verstreut auf dem Hofpflaster. Die meisten von ihnen waren Burgwachen, auch einige Ritter, die im Dienst ihres Vaters standen. Gräfin Stephania hielt eine Hand vor den Mund. Ein Schrei wollte ihr aus der Kehle brechen. Doch sie wagte es nicht, um ihre Anwesenheit nicht zu verraten. Aus dem Fenster konnte sie Männer erkennen, die an Galgen hingen. Zwei Berater ihres Vaters und ein Mönch, der geistliche Freund des Grafen. Sie sollten für die überlebende Dienerschaft zur Abschreckung dienen. Wo ist Vater? Sie konnte ihn unter den Toten nirgendwo sehen. Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen. Noch hatte sie eine Hoffnung, aber würde sie ihn finden?
Gräfin Stephania eilte mit schnellen Schritten über den Flur. Sie wollte unbedingt ihren Vater finden. Sehen, ob es ihm gut ging, und erfahren, was in ihrer Abwesenheit auf Burg Rosenstein passiert war.
Gefangen
„Halt!“, forderte sie plötzlich jemand auf, stehen zu bleiben. „Wo willst du hin? Hast du etwa keine Arbeit?!“, schimpfte eine Frau verärgert. Erschrocken als auch erleichtert drehte sich die junge Gräfin um und sah in das vertraute Gesicht der Köchin.
„Waltraud.“ Sie lächelte.
„Gräfin Stephania?“ Die ältere Frau sah ihre Herrin überrascht an. „Was macht Ihr hier und .... wie seht Ihr aus?“ Der Saum ihres Reisekleides war stark verschmutzt. Die Frisur zerstört. Waltraud kam auf sie zu und schob sie in die nächste Kammer, bevor jemand die Gräfin hier entdeckte. Sie schloss hinter sich leise die Tür und fragte besorgt: „Hat Euch jemand angefasst? Ein Mann?“
„Nein, wie kommst du darauf?“
„So wie Ihr ausseht, lässt sich nichts anderes vermuten. Wir haben Euch eigentlich erst in einem Monat erwartet.“
„Ich weiß, aber ich hatte so ein starkes Heimweh, dass Tante Auguste mich nach Hause gehen ließ. Sie bekam ganz spontan Besuch von ihrer Nichte und brauchte mich deshalb als Gesellschafterin nicht mehr.“
„Ausgerechnet jetzt, wo es hier auf der Burg für Euch lebensgefährlich ist.“
„Was ist passiert? Wieso liegen so viele Tote im Burghof?“
„Die Burg wurde gestern überfallen. Ein Mann namens Balthasar Wolfhard hat sie mit seinen Männern eingenommen.“
Kleine Sorgenfalten zogen sich über ihre Stirn.
„Ich habe noch nie etwas von ihm gehört. Wer ist er?“
„Ein Ritter.“
„Und wo ist mein Vater? Was hat er mit ihm gemacht?“
„Ihr Vater starb einen ehrenvollen Tod.“
Gräfin Stephania presste sich eine Hand auf den Mund, um nicht aufzuschreien.
Tränen kullerten ihr über die Wangen. Auch die Augen der Köchin glitzerten.
„Hören Sie, Gräfin, ich weiß nicht, wie Sie in die Burg gekommen sind, aber es darf Sie hier keiner sehen. Auch keiner von den unseren, der Sie an Ritter Wolfhard verraten könnte.“
Die