Pia Wunder

Pulsbeschleuniger


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man sich einfach dort. Jeder der Lust hat. Ansonsten möchte ich meine Ruhe und mein eigenes Leben haben. Das ist meine Bedingung!“

      Ich wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen. Das berufliche Umfeld jedoch befahl Kontenance und so musste ich mich bis zum Abend gedulden. Ich glaube, ich habe gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd. „Wann könnten Sie denn überhaupt einziehen?“, wollte Frau Burger wissen. Bei dem Gedanken daran, unser ehemals gemeinsames Haus auszuräumen und den neuen Besitzern den Schlüssel zu übergeben, wurde mir ganz flau im Magen. „Ende Juni muss ich den Schlüssel abgeben“, antwortete ich knapp. „Na das passt doch prima. Die Zimmer stehen leer und könnten sofort bezogen werden. Dann kommen Sie doch einfach heute um 19.00 Uhr vorbei und wir besprechen alles Nötige.“

      Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, fügte Frau Burger mit sanfter Stimme hinzu: „Und Kindchen, zu Hause ist immer dort, wo Dein Herz und Deine Lieben sind. Das kann jeder Ort auf der Welt sein.“ Wie Recht sie doch hatte. So hatte ich das noch nicht gesehen. Bisher lag nur das schlechte Gewissen wie ein Fels auf meinem Herzen, weil ich den Kindern ihr Zuhause nicht erhalten konnte.

      „Hallo, Erde an Annie!“, ruft Thomas, weil er immer noch auf eine Antwort wartet. „Ähm ja, also Frau Burger war Mandantin in unserer Kanzlei und suchte zufällig gerade jemanden, der den Teil ihres Hofes mieten wollte. Ich bin dann mit den Kindern hergekommen und wir waren gleich alle so begeistert, dass wir noch am selben Abend mit Oma Lotte den Mietvertrag unterschrieben haben.“ „Oma Lotte?“, fragt Thomas. „Ja, die Kinder haben sie gleich ins Herz geschlossen, genauso wie ihren Hund Brutus. Das passt einfach alles irgendwie. Und jetzt sind wir zu Hause! Angekommen.“

      Das wird Thomas jetzt eindeutig zu rührselig. „Na dann wollen wir mal hoffen, dass es jetzt auch etwas Ordentliches zu Essen gibt.“ Wenn ich ehrlich bin, hängt mir auch so langsam der Magen auf den Knien. „Na dann los, jeder bringt eine Schüssel nach draußen und ich hole den Spießbraten aus dem Ofen.“

      Als ich mit der duftenden Auflaufform in den Händen im Türrahmen stehe, muss ich kurz innehalten. Ich bin immer noch tief berührt von der Schönheit dieses Hofes. Selbst gebastelte Lichterketten hängen in der alten Kastanie im Innenhof, unter der ein riesiger Esstisch aus massivem Holz steht.

      Um den Innenhof sind in einem Halbkreis zwei kleine Häuschen angeordnet, wovon das eine meine Nachbarin Lena bewohnt und ich mit den Kindern das zweite. Obwohl die Gebäude nicht direkt miteinander verbunden sind, wirken sie wie eine harmonische Einheit und als Ausläufer davon befindet sich am Ende wie nach einer S-förmigen Biegung Lottes Haus, das nicht so direkt einsehbar ist. Überall im Hof finden sich liebevoll angeordnet unzählige Arten von Blumen und Sträuchern. Der Hof ist durch eine schöne, weiß verputzte und mit terracottafarbenen Dachziegeln verzierte Mauer umgeben und schließt hinter dem Kastanienbaum noch eine große Fläche mit einer Wiese und ein paar Obstbäumen ein. Es duftet köstlich nach den Kräutern aus dem Garten und den vielen blühenden Büschen. Dazu kommt das süße Aroma des Apfelkuchens aus Oma Lottes Backofen. Ich kann mir nicht helfen – irgendwie komme ich mir vor wie in einer Ikea-Werbung und wir feiern das Midsommarfest.

      Da kommt Benny aus einem dichten Rhododendron-Busch gesprungen, den er als Versteck nutzt, um die Familie und Freunde zu erschrecken. Diesmal hat es meine Mutter erwischt, die fast die Schüssel mit dem Obstsalat fallen gelassen hätte und Benny freut sich diebisch, dass es wieder geklappt hat.

      Er kommt zu mir gelaufen, drückt sich unverhofft an mich und sagt: „Mama, das ist wie im Paradies hier.“ Kein Wunder, er hat hier jede Menge Platz und Gelegenheit, seinen ausgeprägten Bewegungsdrang auszuleben. „Kann ich mir in dem großen Apfelbaum da ein Baumhaus bauen?“, fragt er aufgeregt. Das Bäumchen, das wir zu seiner Geburt gepflanzt hatten, hatte gar nicht die Gelegenheit, groß genug zu werden, um zumindest ein Vogelhäuschen zu beherbergen. „Das kann ich nicht entscheiden, da musst Du Oma Lotte fragen.“ Und schon flitzt er wieder los, um mit ihr das Baumhaus und am besten auch gleich den Platz für das Fußballtor und das Trampolin zu planen.

      „Wo ist eigentlich Dein Bruder?“, rufe ich ihm noch nach. „Keine Ahnung“, kommt nur zurück und schon ist er verschwunden. Ich habe Tom schon seit einer Weile nicht mehr gesehen. Für ihn ist diese unglaubliche Idylle und Ruhe einfach unbezahlbar. Ich stelle den Spießbraten ab und mache mich auf den Weg zur Südseite des Hofes, um ihn zu suchen. Ah, dort in den Himbeersträuchern hockt er. Wenn man ihn beobachtet, könnte man den Eindruck haben, er hätte bisher nur in einem Plattenbau gelebt. Bei der Begeisterung und Hingabe, mit der er die Beeren vom Strauch pflückt, wird mir ganz warm ums Herz.

      „Hallo mein Sonnenschein. Geht’s Dir gut?“ „Mmmh“, antwortet er mit rot verschmiertem Mund. „Kommst Du mit? Es sind fast alle da und wir wollen jetzt essen.“ „Ist Onkel Ralf auch schon da?“, will Tom wissen. „Ich glaube nicht, aber lass uns mal nachsehen gehen.“ Als wir in den Innenhof zurückkommen, biegt er gerade mit seiner Familie um die Ecke - eine Riesendose Gummibärchen in der Hand. „Da kommt ja Dein Onkel Ralf“, rufe ich. „Der COOLE Onkel Ralf“, erwidert dieser mit einem Grinsen. Ja, genau so ist es auch. Mein Bruder ist der größte Kindskopf, den ich kenne und die Kinder sind natürlich begeistert, weil sie wissen, dass er jeden Unfug mitmacht. Oder besser gesagt: Vormacht!

      Sofort läuft Tom ihm entgegen und springt auf seinen Arm. Die kleinen Ärmchen drücken ihn erst mal fest und halten dann glücklich die schwere Dose mit den Süßigkeiten fest. Mittlerweile sind auch Oma Lotte und die Freunde eingetroffen, die mir in den letzten Wochen so selbstlos geholfen haben und nachdem sich alle begrüßt und in den Arm genommen haben, schaffen wir es endlich, uns an den großen Tisch zu setzen und über die Leckereien, mit denen er überfüllt ist, herzufallen.

      „Mmmh, Kartoffelgratin. Super, dass Du das noch mitgebracht hast, Maike. Ich liebe das!“ „Ich weiß“, sagt sie grinsend, „und anschließend jammerst Du immer, dass Du zu viel gegessen hast“, fügt sie hinzu. Jetzt mischt Lissy sich ein: „Ach was, Männer lieben scharfe Kurven und wir wollen doch bald mal nach etwas Neuem schauen, oder?“ Das ist wieder typisch Lissy. Halloooo, hier sitzen Kinder mit am Tisch. Sie versteht meinen Blick, zwinkert mir zu und fährt fort: „ Am Freitag bekomme ICH meinen Neuen!“ Ralf ist gleich begeistert und fragt nach: „Erzähl mal, da bin ich gespannt.“ „Ja, von dem habe ich geträumt, seit ich 18 bin und jetzt endlich ist es so weit. Er ist dunkel wie die Nacht.“

      Meine Mutter schaut leicht irritiert von einem zum anderen und schüttelt verständnislos den Kopf. „Ein echter 911er, mit Ledersitzen, tiefer gelegt und einer super Musikanlage drin.“ Jetzt fangen alle an zu griemeln und nun fällt auch bei Mutti der Groschen. Tom hat erstaunlicherweise sofort verstanden und kriegt sich gar nicht mehr ein. „Geil. Kannst Du mich damit mal vom Kindergarten abholen?“ „Na klar“, sagt Lissy. „Und wenn die Sonne scheint, fahren wir offen.“ „Cool, ein Cabrio. Ich will auch später mal ein Cabrio haben. Kannst Du mich direkt an dem Tag holen, wo Du das Auto kriegst?“ „Das geht leider nicht, ich kann ihn erst nachmittags holen, aber ich komme auf jeden Fall am Freitag noch vorbei, um ihn Dir zu zeigen und dann machen wir eine Spritztour!“ „Darf Benny dann auch mitfahren?“, fragt Tom. Lissy muss lachen: „Das wird schwierig. Der Wagen hat nur zwei Sitze! Einen für Dich und einen für mich.“ „OK, dann nur wir beide. Super. Mama, darf ich jetzt mit Benny Fußball spielen?“ „Na klar, aber passt auf die Fenster auf. Seid nicht zu wild.“ Sein Bruder schien schon darauf gewartet zu haben und schon sind die beiden verschwunden.

      „Gibt es eigentlich einen Kaffee, oder hat Dein Ex-Mann auch die Kaffeemaschine mitgenommen?“, lästert mein Bruder. Gut, dass die Kinder schon um die Ecke sind, denn er weiß ganz genau, dass ich solche Kommentare in ihrem Beisein überhaupt nicht leiden kann. So blöd Paul auch geworden sein mag, ich möchte versuchen, die Kinder so gut wie es geht, rauszuhalten und zu schützen. Ich stehe auf, gebe Ralf freundschaftlich eine leichte „Kopfnuss“ und sage: „Wenn Du versprichst, dass Du diesmal nicht kleckerst, mache ich Dir einen.“

      „Wenn ich das noch erleben darf“, scherzt meine Mutter und alle Beteiligten sind sich einig, dass es so enden wird wie immer. Ralf macht den Kaffeebecher fast voll, aber dann müssen noch Unmengen Milch und Zucker hinein, so dass der Becher bis an den Rand gefüllt ist. Eigentlich ist es unmöglich, den Kaffee noch