Pia Wunder

Pulsbeschleuniger


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in den Kindergarten kommt oder – Gott bewahre – zu spät zur Arbeit. Das kann ich mir nicht erlauben. Die Chefin ist da sehr penibel, selbst 2 Minuten zu spät können ihr schon die Laune verderben. Da spielt es auch gar keine Rolle, welche Erklärung man für sein Zuspätkommen hat. Also ist Gas geben angesagt.

      Da ich bei Tommy noch das Waschen übernehme, geht das zack zack. Und schon sind wir aus dem Badezimmer. „Lauf in Dein Zimmer und zieh die rote Hose an, die auf dem Stuhl liegt. Und ein T-Shirt kannst Du Dir selbst aussuchen.“ Wie gut, dass Tom morgens immer gut gelaunt und hungrig ist. Bei Benny wird das schon etwas schwieriger. „Hey Großer, Zeit zum Aufstehen.“ Ich hebe die Bettdecke leicht an und drücke ihm einen Kuss auf die warme Wange. „Gehst Du ins Bad und kommst dann runter? Ich deck schon mal den Tisch!“ „Hmmm“, antwortet er nur.

      So, mal sehen, wie weit Tom ist. Die Hose hat er schon an und die Socken auch. Einen roten und einen grünen. Ach du Schreck. Wie war das bei Farbenblinden? Verwechseln die nicht rot und grün? „Schatz, Du hast zwei verschiedene Socken an!“, kläre ich ihn auf. „Ja“, klärt er mich auf, „einer rot und einer grün.“ OK, Farben erkennen kann er schon. „Hast Du den zweiten Socken nicht gefunden?“, hake ich nach. „Doch, habe doch beide an!“ OK, ich kapituliere aus mangelnder Zeit und helfe ihm, sein T-Shirt anzuziehen.

      Auf dem Weg sehe ich noch einmal ins Badezimmer: Gähnende Leere. Wie schon erwartet, ist Benny noch immer unter der Bettdecke versteckt und wieder fest eingeschlafen. Aber es hilft nichts. Ich greife unter die warme Decke, ziehe in sanft an den Rand des Bettes und helfe ihm, sich aufzurichten. „Benny, Du musst jetzt wirklich aufstehen, sonst verpasst Du noch den Bus.“ „Ja“, antwortet er nur knapp, so wie alles am Morgen bei Benny knapp ausfällt. Das morgendliche Zähneputzen genauso wie das Frühstück. Eigentlich bekommt er am Morgen überhaupt nichts runter. Meistens versuche ich dann, ihn zu einer halben Birne zu überreden oder einem Schokobrötchen, damit er nicht mit leerem Magen das Haus verlässt. „Jetzt aber schnell, ich gehe mit Tom runter.“

      Irgendwann kommt Ben immer noch ziemlich verschlafen hinunter und setzt sich zu uns an den Tisch. Er beißt lieblos in sein Schokobrötchen und schon bald ist es so spät, dass er seine Schultasche schnappt und losläuft, um den Bus noch zu bekommen. Wie jeden Morgen. Es ist unglaublich, aber ich kann sagen, was ich will, jeden Tag geht er auf den letzten Drücker los. Egal wie früh ich ihn wecke. „Bin weg, tschüss Mami“, ruft er noch und schon ist er durch die Türe. „Tschüss mein Schatz“, rufe ich hinterher. Es dauert nicht lange und ich höre das Dröhnen des Schulbusses aus der Ferne. Es ist ein Wunder, dass er den Bus trotzdem immer noch irgendwie bekommt.

      Naja, im Gegensatz zu ihm hat Tom morgens immer schon gute Laune und einen gesunden Appetit. So isst er genüsslich sein Nutella-Brötchen und ich kann die Brotdosen für den Kindergarten und die Arbeit fertigmachen. Ich liebe es, wenn zumindest beim Frühstück die nötige Ruhe bleibt, um den Tag gut zu starten.

      Keine halbe Stunde später komme ich gut gelaunt auf der Arbeit an. Meine Chefin ist noch nicht da und so kann ich mir einen Überblick verschaffen, wie denn der Terminkalender heute aussieht. Oh, nur ein neuer Mandant kommt heute Vormittag, das sieht nach einem entspannten Tag aus, an dem man etwas aufarbeiten kann. Ich arbeite wirklich gerne und mag auch gerade den Kontakt mit den Mandanten sehr gerne. Jeder, der hierher kommt, hat ein anderes Schicksal. Als der junge Mann, der gleich den ersten Termin hat, anrief und den Grund seines Kommens erzählte, bekam ich richtige Bauchschmerzen. Er konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten und deutete an, dass seine Frau ihn schlagen würde. Das hat mich irgendwie völlig verunsichert, weil man sonst ja immer nur den umgekehrten Fall hört. Es ist oft schwierig, solch eine Situation einzuschätzen, wenn man nur eine Seite der Geschichte hört. Ich bin jedenfalls sehr neugierig auf diesen Menschen und hoffe, dass wir ihm helfen können.

      In vielen Fällen suchen uns die Frauen auf, um Unterstützung durch meine Chefin zu erhalten. Ich würde die meisten am liebsten erst einmal in den Arm nehmen und trösten und in manchen Fällen auch gleich Unterschlupf gewähren, aber hier muss ich mich dringend abgrenzen. Was mir zugegeben echt schwerfällt.

      So blöd und respektlos Paul manchmal auch war, geschlagen hätte er mich nie. Das haben aber eigentlich alle unsere Mandantinnen bisher von ihren Männern gedacht. Kann man da wirklich sicher sein? Was hätte ich getan, wenn Paul mich geschlagen hätte? Ich wäre SOFORT gegangen. Davon bin ich fest überzeugt. Und gleichzeitig gespannt, welche Gründe dieser Mann hat, seine Frau nicht einfach zu verlassen.

      Aha, da höre ich schon den Schlüssel in der Türe: Meine Chefin ist auch angekommen. „Morgen Frau Sommer!“, höre ich sie rufen. Es ist Montagmorgen und sie ist wie immer energiegeladen und hochmotiviert. „Wie war das Wochenende? Haben Sie sich gut erholt?“ „Naja erholt würde ich das nicht nennen, aber es war sehr schön, weil wir meine neue Wohnung eingeweiht haben.“ „Das ist ja nett. Wann kommt denn der erste Mandant?“, will sie gleich wissen. „In zehn Minuten.“ „Gut, dann kann ich noch etwas diktieren. Und wenn der Aufnahmebogen ausgefüllt ist, bringen Sie mir bitte die Unterlagen.“ „In Ordnung“, antworte ich und im gleichen Augenblick klingelt es auch schon.

      Ich drücke den Türöffner und warte, bis der Mandant an der Eingangstüre angekommen ist. Das ist irgendwie spannend, weil man einen Namen und schon ein Stück seiner Geschichte kennt, nicht aber den Menschen an sich. Vielleicht öffne ich ja irgendwann mal einem Mann die Türe, der mich umhaut und den mir das Universum geschickt hat.

      Hallo Annie, werd mal wieder klar im Kopf, der Mann ist verheiratet und lässt sich von seiner Frau schlagen. Hast Du nicht genug Probleme? Ich schüttle über mich selbst den Kopf. Außerdem bin ich noch gar nicht so weit, dass in meinem Kopf oder meinem Herzen Platz für einen neuen Mann wäre. Das Klopfen an der Eingangstüre reißt mich aus meinen Gedanken.

      „Guten Morgen, Herr Simon. Bitte folgen Sie mir. Möchten Sie gerne einen Kaffee oder Tee?“, versuche ich seine angespannte Haltung etwas zu lösen. „Nein danke“, antwortet er nur knapp und man sieht ihm deutlich an, wie unwohl er sich fühlt. Auch wenn er bestimmt schon Anfang 30 ist, sieht er aus wie ein großer ängstlicher Junge, der dabei erwischt wurde, dass er etwas ausgefressen hat. Ich lege ihm die Unterlagen hin, die er ausfüllen muss und bald darauf kann er auch schon zu Frau Dr. Holst ins Büro und seine Sorgen auf ihren Tisch legen.

      Ich bin froh, dass meine Chefin so kompetent ist und ich mit dem Gefühl dort arbeiten kann, dass den Menschen auf bestmögliche Weise geholfen wird. Und ich bin natürlich gespannt auf die Geschichte des jungen Mannes, die ich ungefähr eine Stunde später dann auf meinem Diktiergerät abhöre und niederschreibe. Grundsätzlich glaube ich ja immer an das Gute im Menschen und dass es für alles eine Lösung gibt. Aber manchmal – und so ein Tag ist heute – muss ich während des Schreibens kurz innehalten und tief durchatmen. Wie sollte man nicht verzweifelt sein, wenn man eine kleine Tochter hat, die man über alles liebt und nicht alleine lassen möchte. Mit einer Mutter, die handgreiflich wird, wenn sie überfordert ist. Und die man immer noch liebt.

      Ich schreibe und schreibe und die Gedanken schwirren nur so durch meinen Kopf. Da klingelt schon wieder das Telefon und so bleibt für den Augenblick kein Raum mehr für Grübeleien, die Arbeit muss schließlich weiterlaufen. Der Vormittag vergeht wie im Flug. Ich muss sehen, dass ich pünktlich hier rauskomme, damit ich nicht zu spät zum Vorstellungsgespräch komme. Am besten ich erinnere meine Chefin nochmal, damit auch alles klappt: „Ich habe ja heute mein Vorstellungsgespräch und muss relativ pünktlich gehen. Ist denn noch etwas Wichtiges zu erledigen?“, frage ich vorsichtig. Sie hat es lieber, wenn man noch etwas Luft hat, um alles zu Ende zu bringen, aber das hätte ich auch gerne. Geht aber nicht immer.

      Zugegeben, sie hat zu Hause eine Haushaltshilfe und einen Gärtner. Da kann man beruhigt mal ein paar Überstunden machen und sich dann an den gedeckten Tisch setzen nach getaner Arbeit. Das sieht aber bei mir etwas anders aus. Und ich bin auf diesen Zusatzjob angewiesen. Aber leider muss sie ja als Chefin einverstanden sein. Wie heißt die Formulierung im Arbeitsvertrag: „Nebenbeschäftigungen müssen genehmigt werden und dürfen nicht zu Lasten der Arbeit gehen.“ Naja, jedenfalls so ähnlich.

      „Schaffen Sie denn alle Schriftsätze bis dahin?“, kommt prompt die Gegenfrage. „Wenn ich die Unterlagen für´s