Peter Urban

Marattha König Zweier Welten Teil 2


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nicht im Hochland.«

      Charlotte wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Angesichts der

      Verzweiflung Marys kamen ihr die eigenen Sorgen um Arthur lächerlich und unerheblich vor. Sie war die Tochter von Sir Edwin Hall. Sollte ihrem Verlobten etwas zustoßen, würde sie als »Witwe« eines Helden zu ihren Eltern zurückkehren und genauso weiterleben wie früher, bevor sie Arthur kennengelernt hatte. Geld besaßen die Halls im Überfluss, und als »Witwe« eines toten Helden würden Englands Soldaten sich – nach einer angemessenen Trauerzeit – um Charlottes Hand reißen. Sie hatte nichts zu befürchten, außer Trauer und Tränen. Aber Tränen trockneten wieder, wenn man gerade erst zwanzig Jahre alt und viel zu unbekümmert und sorglos war.

      Bei Mary Seward sah die Sache anders aus. Sie überlebte nur deshalb, weil Zahlmeister Dunn ihrem Mann einmal im Monat den Shilling des Königs in die Hand drückte. Sollte Rob fallen, stand sie ohne einen Penny da – neun Monate und eine teure Seereise von zu Hause entfernt. Viele Soldatenfrauen fanden ihr Heil nur darin, sich am Abend nach der Schlacht dem Erstbesten an den Hals zu werfen, der heil zurückgekommen war. Die Frauen, die zu alt oder hässlich waren, um einen neuen Versorger aufzutreiben, verhungerten oder verkauften sich in finsteren Löchern an Inder, die Lust auf weißes Fleisch hatten. Es war eine grausame Welt.

      »Mary, deinem Rob wird nichts passieren!« versuchte Charlotte zu trösten, während von draußen der Lärm des Kampfes ins Zelt drang. Die Worte kamen der jungen Frau hohl und leer vor, aber sie konnte in diesem Augenblick nichts anderes tun, als zu warten, bis das Donnern der Geschütze und das Geschrei der Männer sich legte – und dann zu hoffen, dass niemand kam, der ihr eine schreckliche Nachricht überbrachte ...

      Die sieben Bataillone marschierten auf die Anhöhe zu. Sie waren in Kolonne formiert, jeweils eine halbe Kompanie stark. Aus der Vogelperspektive hätten sie wie einhundertundvierzig kleine, scharlachrote Rechtecke im grünen Feld ausgesehen, als sie sich zielstrebig auf die feindlichen Kanonen zubewegten. Neben jeder halben Kompanie marschierte ein Sergeant. Die Offiziere ritten oder marschierten voraus. Aus der Ferne sahen die Rechtecke ordentlich aus, wie mit dem Lineal gezogen, denn die Männer trugen ihren scharlachroten Rock mit weißem Lederzeug und schwarzem Tschako. Aus der Nähe betrachtet konnte der aufmerksame Beobachter allerdings feststellen, wie staubig und zerrissen alle waren. Der lange Marsch von Madras zum ersten Treffen mit Tippu hatte seinen Tribut gefordert. In den Haaren der Männer, die gefettet und gepudert worden waren, tummelten sich die Läuse. Viele hatten blutigen Ausschlag im Nacken, der von dem hohen, harten Lederkragen und dem Schweiß stammte, den kaum einer abwischte, obwohl Indiens Hitze die Hölle war.

      Die Sepoys der Ostindischen Kompanie wuselten durchs hüfthohe Gras. Endlich fand eine feindliche Kanonenkugel ihr Ziel, und eine halbe Kompanie des Dreiunddreißigsten stob auseinander wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen. Niemand war getötet oder verletzt worden, lediglich die Marschordnung war durcheinander.

      »Zurück in die Formation, ihr feigen Säcke!« brüllte Major Shee aufgebracht zu Sergeant Seward und seinen Männern hinüber. Die Trommlerjungen schwangen ihre Stöcke, und von neuem übertönte schon bald der tiefe, durchdringe Klang das dumpfe Grollen der Kanonen.

      »Wann können wir endlich laden?« fragte Soldat Coley den Sergeanten Seward mit zitternder Stimme.

      »Bald, Junge, bald! Bleib nur ganz ruhig und befolg die Befehle der Offiziere.« Rob lächelte den jungen Soldaten an. Er machte sich vor Angst zwar selbst in die Hose, doch er war Sergeant, und seine Aufgabe bestand darin, die Jungs heil in die Schlacht und heil nach Hause zu bringen.

      »Maul halten, ihr Säcke, oder ich lasse dem Erstbesten, der mir in die Finger kommt, Disziplin einprügeln!« brüllte Shee von seinem grobknochigen Schimmel aus die halbe Kompanie an. Er war überzeugt, dass die Soldaten nur nach vorn gingen, weil ihnen die Angst vor der Neunschwänzigen und ihren eigenen Offizieren im Nacken saß.

      Oberst Wesley hatte den heftigen Wortwechsel in seinem Regiment mitbekommen, obwohl er in diesem Augenblick alle Hände voll zu tun hatte. Er stieß seinem Pferd die Sporen in die Flanken und sprengte zu Shee hinüber. »Zügeln Sie sich! Diese Männer müssen kämpfen!« fauchte er den Major böse an. Er konnte Shee auf den Tod nicht ausstehen. Der launische und ständig betrunkene Offizier war ihm schon seit Jahren ein Dorn im Auge.

      Shee senkte die Augen, damit sein Kommandeur nicht den Hass darin lesen konnte. Wie sehr wünschte er sich in diesem Moment, dass es Nacht wäre und er sich mit diesem Buchhalter allein an irgendeinem abgelegenen Ort befände. Er hätte ihm eine Kugel in den Kopf gejagt. Seit Wesley das 33. Regiment von Cornwallis übernommen hatte, hackte er nun schon auf ihm herum. An allem, was Shee tat oder sagte, hatte Wesley etwas auszusetzen. Und dann war da dieser Beiklang in seiner Stimme ... herablassend und verächtlich. In diesem Augenblick eilte ein Sepoy heran, und der Kommandeur des 33. Regiments wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Kampfgeschehen zu.

      »Dreiunddreißigste – in Linie nach links!« hörten die Männer ihren Kommandeur über das Kanonengrollen hinweg brüllen. Sie gehorchten.

      »In Zweierreihe!« befahl Wesley. Die Führungskompanie des Regiments hielt. Alle anderen halben Kompanien beschleunigten ihren Schritt und schlossen von der linken Seite zu ihren Kameraden auf. Die Männer rissen noch im Laufen die Pulverhülsen mit den Zähnen auf und stießen ihre Kugeln mit den Ladestöcken tief in den Rachen ihrer Brown Bess. Ein scharfes, metallisches Klicken bedeutete Arthur, dass alle Männer ihr Bajonett aufgepflanzt hatten.

      »Nach rechts! Langsam, Jungs!« befahl Major Francis West. »Sergeant Howard! Erste Reihe – kniet!«

      »Feuer!« rief Arthur Wesley den Männern zu. Dann sahen sie, wie ihr Kommandeur sein Pferd zur Seite trieb und ihnen das Schussfeld frei machte.

      »Laden! Feuer! Laden! Feuer! Laden! Feuer!« brüllten sämtliche Sergeanten ihren Männern zu, bis Wesley schließlich den erlösenden Befehl gab: »Feuer frei! Vorwärts, Männer!«

      Er hatte die beiden Pistolenhalfter vorn an Diomeds Sattel geöffnet. Wesley hatte eine etwa 3000 Mann starke Kolonne Infanterie ausgemacht, die über eine Anhöhe aus den Linien des Sultans direkt auf sein Regiment und das 11. Regiment der Madras-Infanterie zukam ... und in diesem Augenblick begriff der junge Offizier, dass dies sein Moment der Wahrheit war. Jeder Soldat des 33. Regiments und die Sepoys, die an ihrer Seite kämpften, schienen es ebenfalls zu erkennen. Sechs lange Jahre hatte er diese Männer gedrillt, hatte sie Tag für Tag immer wieder mechanisch die gleichen Bewegungen ausführen lassen, ihnen Mut zugesprochen, wenn sie niedergeschlagen waren und sie gelobt, wenn sie seinen hohen Anforderungen gerecht wurden ...

      Arthur zog den Säbel. Der Feind marschierte geradewegs auf die Regimentsfahnen zu. »Dreiunddreißigstes! Halt! Schwenkt halbrechts! Fertig machen!«

      Der Feind war mindestens dreimal so stark und schien diszipliniert und siegessicher zu sein. Vor vier Jahren hatten die Veteranen seines Regiments zum letzten Mal das Feuer auf einen Feind eröffnet – damals, während des grauenvollen Flandernfeldzugs, als sie gemeinsam die Schanzen von Boxtel stürmten. Es war eiskalt gewesen, und starkes Schneetreiben hatte ihnen die Sicht verwehrt. Heute fiel kein Schnee, und die Finger der Männer waren nicht steif gefroren. Sie waren ausgeruht, und jeder hatte sich am Vorabend den Bauch vollgeschlagen. Stolz leuchteten die Augen des jungen Offiziers, als er auf die ruhige rote Linie blickte, die sich hinter ihm aufgebaut hatte. Das Kriegsgebrüll der Soldaten des Sultans war ohrenbetäubend.

      Nach außen hin war Arthur gelassen. Er war der Fels in der Brandung, um den das 33. Regiment sich geschart hatte. Innerlich stellte er sich allerdings beunruhigt die Fragen: Ist der Feind nahe genug? Soll ich feuern lassen? Sie werden keine Zeit mehr haben, nachzuladen! Kann ich den Bajonettangriff wagen? Arthur konnte die wilden, dunklen Gesichter der Männer aus Mysore deutlich erkennen. Keine sechzig Meter trennten das 33. und das 11. Regiment aus Madras vom Feind. Mit einer heftigen Bewegung zischte Arthurs Säbel durch die Luft, während er gleichzeitig den Feuerbefehl brüllte. 733 Abzüge wurden gedrückt. Flammen sprangen aus jeder Pulverpfanne. Ein scharfes, metallisches Klicken. Die ersten Reihen der Infanteriekolonne des Sultans stürzten in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Sie waren frontal in die eiserne Wand der britischen Kugeln hineingelaufen. Kaum einer der