Peter Urban

Marattha König Zweier Welten Teil 2


Скачать книгу

sehr mobil. Die Reiter des Nizam würden schneller ins Feindesland vorstoßen als die britischen und einheimischen Fußsoldaten, die durch den riesigen Tross zusätzlich behindert wurden. Harris nickte Meer Allum zu. »Sie haben Recht, mein Freund! Das Gelände hier ist ideal, um uns übel zuzusetzen. Die bewaldeten Hügel bieten besten Schutz für die Kavallerie des Sultans.«

      »Nicht nur für seine Kavallerie«, meinte Wesley finster. »Aus dem Tross verschwinden schon seit Tagen Munition, Kanonenkugeln, Getreide ... Sogar die >brinjarries< haben ihre Probleme. Uns sind bereits mehr als zweihundert Zugtiere abhandengekommen.«

      Harris zog die Brauen hoch. »Also gut, Wesley. Wir teilen das Expeditionskorps auf. Bis Achel rücken wir so vor, als wäre unser eigentliches Ziel Bangalore. Dann schwenken wir nach Südwesten. Der Weg über Cankelli nach Seringapatam ist zwar schwierig, aber kurz. Außerdem melden die >hirrcarrahs<, dass die Kavallerie des Sultans dort noch nicht alles dem Erdboden gleichgemacht hat.«

      Der Oberkommandierende bemerkte den finsteren Gesichtsausdruck von Sir Davie Baird. Baird hatte sich wiederholt bei ihm beschwert, dass Oberst Wesley, obwohl er auf den Dienstlisten der Horse Guards weit hinten stand, mit einem ebenso wichtigen Posten betraut worden war wie er selbst. Nun hatte Harris auch noch den Plan Wesleys akzeptiert und Bairds Einwände nicht einmal in Betracht gezogen. Nach dem leidigen Zwischenfall um Ashtons Tod schien sich ein neuer Konflikt um den schottischen Offizier anzubahnen, was Harris nicht entging. Der Oberkommandierende nahm sich vor, sowohl Baird als auch Wesley in den nächsten Tagen genau im Auge zu behalten. Im Angesicht des Feindes konnte er es sich nicht leisten, zwei wertvolle Offiziere wegen eines unsinnigen Ehrenkodex’ zu verlieren. In Madras hatte man die Affäre Ashton wegen des Feldzuges bereits heruntergespielt und vertuscht. Sollte Baird nun allerdings versuchen, sich auch noch Wesley vorzunehmen, wurde ein Kriegsgerichtsverfahren unausweichlich. Harris verabschiedete seine Stabsoffiziere und blieb nachdenklich in seinem Zelt zurück.

      »Und du bist ganz sicher, Mary?« Charlotte hielt die Hände von Sergeant Sewards zitternder junger Frau fest in den ihren. Barrak ben Ullah goss ihr ein kleines Glas Brandy ein, um sie zu beruhigen.

      »Natürlich, Madam! Ich war heute schon sehr früh hinten bei den >brinjarries<. Sie wollten doch, dass ich Gemüse und ein paar Hühner zum Abendessen besorge. Vingetty verhandelte gerade mit einer der Frauen, als ich Major Shee gesehen habe. Er kam mit einem dicken Inder aus einem der Zelte. Der Inder drückte ihm einen Beutel in die Hand, und ich hörte ihn sagen, dass er in der Nacht seine Männer mit Zugtieren schicken würde, um das Pulver abzutransportieren.«

      Barrak ben Ullah runzelte die Stirn. Er wusste von Arthur Wesley, dass seit ungefähr zwei Wochen regelmäßig Pulver und Munition verschwanden. Sogar aus der Pferdeherde der Ullahs waren schöne, teure Tiere auf unerklärliche Weise verschwunden, obwohl die Paschtunen seines Vaters die Tiere kaum eine Sekunde aus den Augen ließen. Zuerst hatte Barrak seinem jungen Cousin Moukthar vorgeworfen, er habe die Tiere verloren und nicht den Mut, dies zuzugeben. Der Zug gegen Mysore war Moukthars erste große Reise, und dreihundert Vollblüter stellten für einen Mann von gerade erst zwanzig Jahren eine große Verantwortung dar. Doch Moukthar respektierte Barrak viel zu sehr, als dass er ihn belogen hätte.

      Der Afghane drückte Mary Seward das Glas in die Hand und sagte leise zu ihr: »Trink, mein Kleines! Du brauchst dich nicht zu fürchten. Erzähl uns nur ganz genau, was du gesehen und gehört hast. Aus welchem Zelt kam der Major mit dem Inder?«

      Mary schlug die Augen nieder. »Es war das Zelt der schlechten Frauen ...« Sie errötete beim Gedanken an Lakshmi und deren Mädchen, die sich jedem hingaben, der dafür bezahlte. Dann nippte sie vorsichtig am Glas. Sie war sehr streng erzogen worden; es war der erste Schluck Brandy ihres Lebens. »Wird Oberst Wesley dann nicht böse auf meinen Rob sein?« fragte sie Charlotte Hall schüchtern. »Und mich aus dem Dienst verjagen?«

      »Ach, Unsinn! Du hast doch nichts Böses getan.«

      »Wenn Major Shee erfährt ...« Die Stimme von Sergeant Sewards Frau zitterte. Bereits auf der Überfahrt von England nach Indien hatte Shee ihr übel nachgestellt; die Soldatenfrauen hatten Mary regelrecht verstecken müssen. Sie hatte schreckliche Angst vor Shee. »Shee wird nichts erfahren. Hat Vingetty auch irgendetwas von dieser Sache mitbekommen?«

      »Nein, Mister Ullah, er war doch dabei, die Hühner für die Offiziersmesse einzukaufen.«

      »Hast du ihm davon erzählt?«

      »O nein, ich bin gleich zu Madam gelaufen, Sir.« Mary schien sich ein wenig zu beruhigen.

      Charlotte strich ihr besänftigend über die Schultern. »Keine Sorge, meine Liebe! Ich werde mit dem Oberst reden, wenn du Angst vor ihm hast. Er wird dir nicht böse sein. So, und jetzt geh wieder an die Arbeit und ängstige dich nicht. Mister Ullah und ich, wir werden uns um Major Shee kümmern.«

      Mary stand auf, strich ihre Schürze glatt und machte einen kleinen Knicks vor Charlotte. Dann verschwand sie aus Wesleys Zelt.

      Barrak ben Ullah nahm ihren Platz ein. Seine Augen suchten die von Charlotte. »Weißt du, meine Liebe, ich glaube, Arthur hat im Augenblick andere Sorgen als diesen versoffenen Shee. Ich werde dafür sorgen, dass meine Paschtunen die Augen offen halten. Vielleicht gelingt es uns ja, den Tunichtgut in flagranti zu erwischen. Shee treibt sich also bei Lakshmi und ihren Huren herum. Das macht die Sache leichter.«

      Er hatte Farsi gesprochen, denn man wusste ja nie, wessen Ohren an dünnen Zeltwänden lauschten. Und einen königlichen Offizier auf einem Kriegszug der Veruntreuung und der Beihilfe zum Diebstahl anzuklagen, war eine schwerwiegende Sache. Ohne handfeste Beweise gegen den Major konnte nicht einmal General Harris etwas ausrichten. Barrak ben Ullah hatte die Affäre Ashton-Baird miterlebt. Er wunderte sich ein bisschen über die Mühlen der britischen Militärjustiz, die offensichtlich sehr langsam mahlten.

      Am 5. März erreichte ein Meldereiter des Rajahs von Koorg das Expeditionskorps. Der Rajah war ein alter und treuer Verbündeter der Briten. Er hatte nicht nur irreguläre Kavallerie zu General Stuart und dessen Bombay-Armee geschickt, sondern auch Aufklärer ausgesandt, die den Briten über die Truppen des Sultans im Grenzgebiet berichteten. Man hatte ungewöhnliche Aktivitäten zwischen Periapatam und Seringapatam beobachtet. Der Rajah von Koorg selbst hatte in der Tiefebene ein grünes Zelt erkennen können, auf dem die Standarte des Sultans aufgepflanzt war. Es schien offensichtlich, dass der Sultan von Mysore für den nächsten Tag einen Angriff gegen General Harris’ Expeditionskorps plante, das sich im Schneckentempo einen steilen Pass unweit des Cauvery hinaufplagte. Der Oberkommandierende schickte eilig zwei Bataillone der Ostindischen Kompanie und Oberstleutnant Montresor in Richtung der feindlichen Truppen. John Montresor war einer der besten und begabtesten Offiziere im Dienste von »John Company«. Er kannte Indien in- und auswendig. Nachdem er die Soldaten des Sultans vom Aussichtsposten auf der Feste Koorg einige Zeit beobachtet hatte, brachte er seine Männer in Stellung. Er wollte Tippu den direkten Weg gegen die Flanke des Hauptheeres verbauen. Natürlich hatte der Offizier in so kurzer Zeit keine Möglichkeit, seine Position zu festigen. Doch er ließ eine Lichtung ausschlagen und formierte die zwei Bataillone. Sie waren gut ausgebildet und sehr beweglich.

      In den frühen Morgenstunden des 6. März griff Tippu an. Er hatte nicht erwartet, an dieser Stelle auf einen so verbissenen Widerstand zu stoßen. Das Gefecht zog sich über Stunden hin. Montresor und seine Männer kämpften gegen eine riesige Übermacht. Bis drei Uhr am Nachmittag hielt Montresors Linie. Dann aber ging den Männern die Munition aus. Genau in diesem Augenblick stürmte General Stuart persönlich mit dem 77. Infanterieregiment den Pass hinauf und fiel den Soldaten des Sultans in den Rücken. Die Männer aus Mysore waren so überrascht worden, dass viele ihre Waffe fortwarfen und ihr Heil in der Flucht suchten. Der Weg für General Harris’ Hauptstreitmacht war frei. Nur die mehr als zweitausend Gefallenen, die das blutige Feld bedeckten, ließen die Nachzügler erkennen, was an diesem 6. März am Pass von Periapatam in der Nähe von Sedaseer geschehen war.

      Charlotte ritt auf ihrem kleinen, dunkelbraunen Vollblut langsam neben Arthur. Sie konnte die Augen nicht von dem schrecklichen Schauspiel abwenden, das sich ihr bot. Über dem Pass kreisten laut schreiend Hunderte von Aasgeiern. Die Hitze in der Vormonsunzeit war so drückend, dass bei den meisten Kadavern bereits