K.P. Hand

Herzbrecher


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      Eine einzelne dicke Träne quoll aus Alessandros Augen, als er sich der vertrauten Leidenschaft seines Exfreundes fügte.

      Okay, Drama-Queen und Heulsusen Alarm!

      Norman hatte die Träne wohl bemerkt, er löste sich von Alessandros Lippen und küsste die salzige Träne sanft von dessen Wangen. Dann glitten seine Lippen immer und immer wieder über Alessandros Gesicht. Er küsste die geschlossenen Augenlider, die hohen Wangenknochen, die glatte Stirn, die wenigen Fältchen hinter den Augen und die Grübchen neben den Mundwinkeln, so als hätte er all das mit schmerzlicher Sehnsucht vermisst und wollte es in aller Ruhe gründlich willkommen heißen. Alles an Norman drückte deutlich aus: »Du hast mir gefehlt.« Aber auch: »Das gehört alles mir.«

      Beschämend war, dass Alessandro nach der Trennung tatsächlich niemanden mehr gehabt hatte. Der einzige Grund, warum er in den hiesigen Club ging, war, dass er hoffte, auf Norman zu treffen, und sei es nur um ihn aus der Ferne zu beobachten.

      Wie erbärmlich!

      Normans Hände legten sich um Alessandros Hals, sein Daumen drückte gegen das Kinn, sodass Alessandro den Kopf in den Nacken legen musste.

      Begierig küssten Normans Lippen den Kiefer entlang bis hin zum Kinn, während seine andere Hand zwischen ihren Körpern hinab glitt und sich genüsslich über Alessandros ausgebeulten Schritt legte ...

      Normans Handy klingelte.

      Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrten sie. Das Geräusch hatte sie direkt zurück in die Realität katapultiert, es störte ungemein, in der ansonsten stillen Umgebung.

      Alessandro fühlte sich, als erwachte er aus einem schönen Traum und war wieder in der traurigen, düsteren Gegenwart.

      Norman machte einfach weiter, doch plötzlich sorgten seine Bemühungen bei Alessandro lediglich für Leere.

      Es war schon spät, und nur einer würde Norman jetzt noch anrufen ...

      Alessandros Hände wanderten über Normans Körper, der den Rücken stöhnend durchbog und nach mehr forderte, weil er glaubte, Alessandro wollte die Leidenschaft fortführend.

      Doch Alessandro suchte nur das klingelnde Smartphone. Er fand es in der Manteltasche und zog es hervor. Er hielt es über Normans Schulter und bestätigte seine Vermutung.

      »Es ist dein Freund«, sagte Alessandro finster.

      Norman hielt inne, seine Hand fiel von Alessandros Schritt ab. Er hob den Kopf und sah Alessandro traurig an. »Ich ...«

      »Du solltest vielleicht rangehen, er macht sich sicher Sorgen«, sagte Alessandro schnippig. Er konnte nicht in Worte fassen, wie mies er sich fühlte. Wie der andere Mann eben. Der Typ, der nur ein guter Fick sein sollte. Billig. Austauschbar.

      Norman nahm ihm das Handy ab und steckte es, ohne ran zu gehen, wieder ein.

      »Sandro, du weißt nicht-«

      »Ich weiß genug.« Alessandro rieb sich mit den Handballen die Augen. »Geh jetzt einfach.«

      Norman packte seine Handgelenke und zog sie auseinander. Er legte die Stirn an Alessandros und beide schlossen die Augen. Ihre Nasenspitzen rieben aneinander.

      »Bitte«, flehte Norman mit so brüchiger Stimme, dass dieses einzelne, kurze Wort kaum verständlich war. »Bitte ...«

      »Geh«, bat Alessandro ihn erneut. »Geh jetzt!«, zischte er, als Norman sich nicht bewegte.

      Norman stieß sich ab und wandte sich wütend um. Er stampfte mit hängendem Kopf zur Tür und zog sie rückartig auf. Er drehte sich nicht mehr zu Alessandro um, er verließ die Wohnung nur mit einem verärgerten Ausruf: »Scheiße!«

      Als die Tür hinter ihm zuschlug, sodass die Schränke in der Wohnung wackelten, sackte Alessandro gegen die Spüle.

      ›Scheiße‹, traf es ziemlich genau auf den Punkt.

      ***

      Sie behielten den Jungen.

      - Wieso behielten sie ihn?

      Er stand dem Polizeipräsidium gegenüber, einem älteren Gebäude, das bestimmt schon ein Jahrhundert alt war. Vielleicht mehr. Der große Bauklotz wirkte äußerlich wie ein dreckiger, alter Würfel zwischen modernen Hochhäusern. Völlig deplatziert.

      Er zog an einer Kippe, als hinge sein Leben davon ab. Er war sauer.

      Nicci Rena, ein Teenager für den die Rettung bereits viel zu spät käme, doch als er sich entschlossen hatte, es wieder zu tun, war seine Wahl auf diesen gefallen, obwohl er ihm eigentlich schon viel zu alt war.

      Aber er durfte nicht nur an sich und seine Gelüste denken, wenn er jemanden Erlösung schenken wollte. Der Junge lebte mit der gleichen Mutter zusammen wie der arme Matti, also sollte er auch wie Matti befreit werden ...

      Doch das ging jetzt nicht mehr. Weil die Polizei ihn hatte. Was für eine Schande.

      Dann sollte es eben nicht sein, er musste sich damit abfinden.

      Natürlich könnte er warten, bis Nicci frei war, doch das würde ihm nicht nur zu lange dauern, es widerspräche auch seinem inneren Kodex.

      Wenn das Schicksal ihm Steine in den Weg legte, war er nicht befugt, es zu umgehen oder auszutricksen.

      Es sollte nicht sein. Nicci sollte nicht befreit oder erlöst werden Nicci sollte – nein, er musste sogar! – aus einem ihm unerfindlichen Grund weiter leben.

      Vielleicht, weil er schon zu alt war. Vielleicht, weil er selbst bereits ein Sünder war.

      Er hätte früher eingreifen und Nicci befreien müssen, es war jetzt einfach zu spät, der Junge sollte so leben. Das Schicksal hatte es so entschieden.

      Trotzdem war er etwas verärgert, weil er seinen Plan verwerfen musste. Er hatte Nicci für einen guten Jungen gehalten, einen Jungen, der es verdient hätte, erlöst zu werden. Denn Nicci hatte sofort gehandelt, als er den Brief entdeckt hatte. Er hätte für Matti alles getan, und das Geld besorgt. Ganz anders als die Mutter es ihm vorgelebt hatte. Zu schade, dass es ihm nie um Geld gegangen war, er hatte lediglich mit dieser Nachricht herausfinden wollen, was für ein Mensch Nicci war, und was er bereit war, für seinen Bruder zutun.

      Nicci war ein guter Junge, das hatte sein Test bewiesen. Warum durfte er also nicht erlöst werden?

      Es lag nun leider nicht länger in seiner Hand, er musste ein anderes Kind erwählen.

      Er wandte sich auf der Straße gen Norden und lief sie verborgen im Mantel der Dunkelheit entlang, nur alle paar Meter wurde er von einer Straßenlaterne beleuchtet. Unter seinen federleichten Schritten patschte es nass, weil der Gehsteig vom Regen mit einem stetig fließenden Wasserfilm überzogen war.

      Er spazierte eine Weile rauchend durch die Nacht, bis er in einer Wohngegend ankam. Ein Einfamilienhaus reihte sich an das andere, gepflegte Vorgärten mit akribisch kurz gehaltenen Hecken und Gräsern, angelegte Blumenbeete, saubere Kieswege. Idyllisches Familienleben. So, wie er es sich stets erträumt hatte. Für sich als Kind, für sich als Erwachsenen.

      Aber nie ist etwas daraus geworden. Dafür stand seine Vergangenheit zu sehr in der Gegenwart, er konnte sie nicht loslassen, obwohl er es über ein Jahrzehnt versucht hatte.

      Ohne Erfolg.

      Als er Matti auserwählt hatte, sollte es nur ein kurzer Unterbrecher seines Ruhestandes gewesen sein. Eine letzte Erlösung für einen Jungen, von dessen Schicksal er durch einen Zufall erfahren hatte. Er hatte es nicht aus dem Kopf bekommen. Tage, Wochen, Monate hatte er nachts kein Auge zugetan. Solange Matti das durchmachen musste, was er durchgemacht hatte, konnte und wollte er keine Ruhe finden.

      Aber nun, nachdem er spürte, wie befreiend seine Tat gewesen war, sogleich er sich auch für das schämte, was er selbst dem Jungen angetan hatte, musste er es wieder tun.

      Während er die Straße entlang spazierte, drang aus einem Haus das Summen einer jungen Mutter, die ein