Sanne Prag

Ein Kleid aus Seide


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gelandet, wenn er von seinem ursprünglichen Platz gekommen wäre.“ Er ließ diese Erklärung wirken. Er wollte Mitarbeit von ihr, nicht Widerstand.

      Theresa verdaute die Information mühevoll, langsam und schmerzhaft. Rita war erschlagen worden. Aber warum um Gottes Willen?

      Was war jetzt wichtig? Festzustellen, wo die Gefahr lag, einfach genau die Areale der Sicherheit abgrenzen, und vor allem die der Unsicherheit. Wo nahm hier Mord seinen Ausgang? „Und Ponhomy?“, fragte sie still, ihr Blick war inzwischen wach, wenn auch immer noch vorsichtig.

      Graumann nahm das wahr und hatte eine Entscheidung in einer schwierigen Situation zu treffen. Eigentlich wollte er nicht so viel Information ausgeben, aber wenn er jetzt dicht machte, würde sie auch dicht machen und er bekäme keine Antworten mehr. Die Geschichte über den Tod von Ponhomy wären in Kürze sowieso Allgemeingut. Die Zeitungen lagen auf der Lauer und würden toben. Daher war Geheimhaltung sinnlos, bis auf einige Details. „Ponhomy wurde mit einer Schrotflinte in den Rücken geschossen, aus etwa drei Metern Entfernung“, offenbarte er. „Ein Jagdunfall sieht anders aus.“

      Da gab es also eine gefährliche Schrotflinte und gefährliche Steine, die aus Wänden gebrochen wurden, erkannte Theresa.

      „Könnten Sie in den letzten Tagen irgendetwas beobachtet haben? Könnten Sie z.B. einen Grund nennen, warum ihre Freundin dort war, wo sie umgekommen ist?“, fragte er eindringlich.

      „Rita wollte gestern ihre Liebe treffen. Ich habe sie gedeckt, weil sie zur Show nicht zurück war. Das war so ausgemacht.“ Graumann war nicht Udo. Sie hatte beschlossen, dass sie ihm solche Dinge sagen wollte. „Futzi wollte ihr wahrscheinlich einen Heiratsantrag machen, und deshalb war das so wichtig“, erzählte Theresa nun willig. „Sie war noch bei mir, bevor sie weggegangen ist.“

      Graumann hatte zu denken.

      „Warum sie dort war, wo sie gefunden wurde, kann ich mir nicht vorstellen“, fuhr Theresa fort. „Am ehesten hat sie sich verlaufen. Rita hatte keinen sehr guten Orientierungssinn. Es war für sie immer schwierig, irgendwo hinzufinden. Ich denke mir, Futzi hat sie hergebracht, irgendwann in der Nacht, und hat sie beim Tor rausgelassen, und sie hat geglaubt, sie findet ins Zimmer...“

      … Und dann war sie in einem entlegenen Winkel des Hauses gelandet, wo keiner rechnete, dass irgendjemand hinkommt. Und was hatte sie dort getroffen? Was war ihr begegnet? Was hatte ihr das Leben gekostet? Das konnte sich der Kommissar nicht einmal annähernd vorstellen. Aber immerhin war ein Stückchen des Unerklärlichen heller geworden. Das schöne Kleid war nicht ein Teil der Modeschau, sondern ein Tribut an die Liebe. Sie war schon lange vor der Modeschau weggegangen, um Liebe zu treffen. Wahrscheinlich war sie erst nach der Modeschau zurückgekommen, das war etwa zehn Uhr. Und nach Verdacht des Arztes hatte sie dann bald ihr Ende gefunden. Wo war sie hineingestolpert, das arme hübsche Ding? Und wer war Futzi? Laut fragte er: „Wer ist Futzi?“

      „Das weiß ich auch nicht“, sagte Theresa. „So lange war das noch nicht. Ich weiß nur, Futzi hat sich sehr bemüht. Tolle Einladungen zum Demel und in die Oper und riesen Blumensträuße. Irgendein Italiener aus guter Familie, sehr katholisch.“ In Graumanns Kopf kreiste die Frage, wie Futzi wohl aufzustöbern war. Da sagte Theresa: „Ich habe schon etwas Komisches gehört, was Ponhomy betrifft.“

      Herr Graumann musste sein Programm umstellen, umschalten auf Ponhomy.

      „Mit irgendeiner Frau hat er vor der Türe zum Empfangsraum gesprochen, vorgestern. Es ging um Geld. Sie sollte irgendetwas bezahlen und sagte, sie könne nicht so viel locker machen. Er sagte, das sei ihm wurscht, und sie müsse schauen, wo sie es herkriegt, sonst müsste sie die Folgen tragen, oder so ähnlich.“

      Ja, das klang wie Erpressung. Herr Graumann wurde deutlich fröhlicher – ein klares Motiv.

      NACHMITTAG

      Theresa hatte kein Gefühl von Bedrohung mehr gehabt, als sie Herrn Graumann verließ. Die Polizei fühlte sich nicht gefährlich an. Sie ging dann durch die Gänge und fühlte immer noch ihre aufgerissene Brust. Menschen waren im Moment nicht gut. Sie setzte sich auf eine kalte, steinerne Treppe und begann bitterlich zu heulen.

      Sie musste ganz leise sein, damit keiner sie fand, heulte also ganz leise, ganz verhalten. Wölfe hatten es gut, die spannten ihren Körper und ließen einen langen, prachtvollen Ton in die Weite hallen, einen Appell, um gehört zu werden, durch die ganze Welt, das Leid klagend, und alle sollten es wissen.

      Aber sie musste leise sein.

      Herr Graumann konnte nichts dafür, dass sie da weinte. Sie dachte: Das Schwierige war nicht Herr Graumann, sondern die Gewalt. Sie hatte so viel Gewalt getroffen und konnte damit überhaupt nicht umgehen. Sie wollte keine Grobheit mehr, keine Toten und vor allem keine eingeschlagenen Köpfe. Sie wollte keine Machtergreifung mehr sehen, keine hören, nicht einmal mehr laute Töne. Das war auch schon Gewalt, Machtergreifung an ihren Ohren, wie an dem schlimmen Abend vor drei Tagen. Die waren auch so laut geworden. Lautstärke war immer der Beginn von Gewalt.

      In der Erinnerung war die ganze Gesellschaft aufgepeitscht gewesen, durch die Musik und wahrscheinlich auch durch Alkohol, vielleicht noch andere Sachen. Sie hatte Gefahr gewittert, konnte aber nicht herausfinden, welche, bis es zu spät war. Es ging nicht an, dass sie in einer so gefährlichen Welt so blöde herumtorkelte. Sie musste lernen, mit den Dingen besser umzugehen. Es nützte gar nichts, wenn sie Gewalt nicht sehen wollte, nicht hören wollte und nicht haben wollte. Es gab sie trotzdem.

      Als sie da auf der Treppe saß und die Sitzfläche immer kälter wurde, hinein in ihr empfindliches Becken, kam Wolfgang an, mit einer Leiter.

      Er war zuerst nicht erfreut, jemanden zu treffen, denn das behinderte die Arbeit. Aber als er ihr verschmiertes Gesicht sah, setzte er sich zu ihr, putzte ihr die Nase und wartete auf das Ende des Sturms.

      Normalerweise fiel ihm immer Sex ein, wenn er neben einer Frau saß. Diesmal merkte er irgendetwas anderes als Sex. Es war komisch, denn eigentlich kannte er nur wenig andere Varianten so nahe bei einer Frau. Sie wirkte so jung, so zerbrechlich, als ob er sie mit einer Hand zerdrücken könnte. Sogar ihre blasse Haut schien empfindlich, wie sehr dünnes Porzellan, wie sehr feiner Stoff…

      Theresas Problem neben ihm war, dass er in ihr Gesicht sah, und es schaute furchtbar aus. Es beschäftigte sie, dass Bäche ihr Gesicht hinunterliefen und vielleicht Abgedecktes freischwemmten. Er brüllte sie aber nicht an. Das Udo-Krokodil hätte wer weiß was alles gesagt.

      Das Aussehen war für ihn normal, Menschen, die heulten, sahen eben so aus. Es war Mitleid erregend, bedauerlich, musste betreut werden. Aber Wolfgang war im Zweifel, wie er mit diesem anderen, das da in ihm war, umgehen sollte. Er hatte zu wenig Erfahrung damit. Nicht Sex, nein, aber Sex war sonst immer beruhigend. Ihn beruhigte er jedes Mal.

      Sie schniefte laut und heftig in sein Taschentuch. Wenn er ihr zerstörtes Gesicht aushielt, würde er das auch aushalten. Er sah aus, als ob er Verständnis hätte. Vielleicht konnte man mit ihm auch reden?

      Wolfgang suchte nach einem zweiten Taschentuch. Keines da. Er ging an seine Immer-alles-drinnen-Tasche und bot ihr ein Stück Küchenrolle, das andere Taschentuch musste inzwischen unerträglich nass und glitschig sein.

      Sie begann, abgerissen zu reden. „Ich versteh einfach nicht, warum sie Rita umgebracht haben. Warum haben sie gerade sie auf den Kopf geschlagen? Wer kann geplant haben, sie zu ermorden? Nichts an Rita war irgendwie gefährlich.

      Kann sie zufällig umgebracht worden sein?

      Das Ganze ist Unsinn. Irrtümlich auf jemanden einschlagen, das kann doch nicht möglich sein, wenn man zuerst einen Stein aus der Decke brechen muss. Da muss einer etwas geplant haben. Ich versteh aber nicht, warum er geplant hat, gerade sie umzubringen.

      Sie kennen ja Rita nicht, aber ich sag Ihnen, Rita war brav. Sie war einfach brav. Sie war nicht so dumm, hätte manchmal schon denken können. Aber sie war überhaupt nicht gewöhnt, dass das jemand von ihr wollte. Sonst hätte sie auch brav gedacht, sozusagen in Pflichterfüllung