Sanne Prag

Ein Kleid aus Seide


Скачать книгу

verwendbare Information. „Sie ist also mit dem Stein erschlagen worden?“

      „Ja, hat Herr Graumann gesagt. Der Stein ist nicht runtergefallen, er wurde herausgebrochen. Extra wegen Rita. Sie hat sich wahrscheinlich verlaufen und ist dort auf etwas getroffen. Vielleicht etwas, das sie nicht sehen sollte.“

      In Wolfgangs Erfahrungsschatz entstand Unruhe. Der Stein war herausgebrochen worden. Wenn das die Polizei sagte, war das sicher ernst zu nehmen. Nur, wie sollte das möglich sein? Dass jemand den Stein herausgebrochen hatte, um Rita zu erschlagen, war unmöglich, er hatte das Loch gesehen, in über vier Metern Höhe.

      Sie hatte sich dorthin verlaufen, gut, das war sehr wahrscheinlich. Aber dann? Das konnte nur jemand mit einer Leiter herausgebrochen haben. Einzig die Vorstellung wäre möglich, dass der, den Rita gesehen hatte, gerade auf einer Leiter stand.

      Also, da stand einer auf einer Leiter und tat etwas, was keiner sehen sollte, mitten in der Nacht. Er musste die Stelle untersuchen, sobald der Zugang wieder freigegeben war. Und dann kam Rita angelaufen und der Täter musste schnell handeln, um sie zu erschlagen. Das klang komisch, aber auf einer Leiter hat man oftmals nichts Passendes, um jemanden zu ermorden. Manchmal hat man einen Hammer, aber längst nicht immer. Der Mörder konnte mit dem Stein auch hoffen, dass es als Unfall durchging.

      „Von zwei Metern Höhe haben sie sie erschlagen“, schluchzte Theresa.

      Passt genau, dachte Wolfgang. „Wieso gerade genau zwei Meter?“

      „Hat Graumann so gesagt.“

      Also da stand einer auf der Leiter, sah Rita kommen, brach den losen Stein aus der Wand, beugte sich hinunter und erschlug sie. Hatte vielleicht vorher noch gesagt, dass er Restaurator sei oder etwas in der Art, denn sie mussten sich ja unterhalten haben, sonst wäre Rita nicht stehengeblieben, bis er oder eventuell sie den Stein aus der Decke gebrochen hatte.

      Was hatte der dort auf der Leiter tatsächlich getan? Was konnte der oder die auf der Leiter dort gemacht haben? Wolfgang wünschte sich, das genau zu wissen, sehr genau. Irgendetwas sagte ihm, dass der Mord und der auf der Leiter mit seinem Auftrag zu tun hatten. Er konnte aber noch nicht nachschauen gehen, ob es da irgendetwas gab, das er finden sollte. Dort war noch abgesperrt.

      „Ponhomy wurde auch erschossen“, schluchzte Theresa. „Von rückwärts aus drei Metern Entfernung. Deswegen konnte es kein Jagdunfall sein, sagt Graumann.“

      Graumann hatte sich von einer Menge Information getrennt. Warum wohl?

      Ob er mit Graumann reden sollte, ihm auf den Zahn fühlen, ihn vielleicht einweihen? Sein Abteilungsleiter war strickt dagegen gewesen. Keine Informationen an niemanden! Ok, einmal in Ruhe überlegen, ob er sich daran halten würde.

      Ein weiteres Blatt von der Küchenrolle wanderte zu Theresa. Die Tränen wollten nicht aufhören zu kommen. Immer neue stiegen, angetrieben aus der Seele, in eine Sammelstelle irgendwo zwischen Nase und Augen und liefen dann ins Tal, ohne Rücksicht auf die Abdeckschichte. In den Rinnen wurden bläuliche und rote Stellen sichtbar, die das Makeup verdeckt hatte.

      „Was hast denn du mit deinem Gesicht gemacht?“, fragte Wolfgang.

      Theresas Schluchzen wurde daraufhin heftiger, lauter und immer weniger zu halten. Die Tränen wuschen ihr Gesicht, und der Fleck am Jochbein zeigte alle Farben. Wolfgang sah sich die Sache ganz genau an und hatte Erinnerungen an seine Zeiten mitten in der menschlichen Gewalt. „Wer hat dich denn verprügelt?“, fragte er direkt.

      Sie brauchte ein weiteres Blatt von der Küchenrolle.

      Schließlich kam zwischen Stößen von Luft. „Ach, auf der blöden Party.“

      „Was war da?“

      „Die sind alle ausgerastet. Ich wollte den Job nehmen, weil er gut bezahlt war. So eine Reiche-Buben-Party.“

      „Und was hast du dort gesucht?“

      „Aufputz. Dekoration.“

      „Das glaubst du doch selber nicht. Die brauchen Frauen nicht zum Anschauen.“

      „Das war eine Geburtstagsparty in einem Penthouse und war von der Mutter organisiert. Die ist zu meiner Agentur gekommen. Wollte irgendwie ordentliche Mädchen.“ Sie sah ihn mit ihren großen dunklen Augen an, die Nase tropfte noch immer. „Udo zahlt extra, wenn wir auf solchen Partys seine Kleider herzeigen.“ Es war ein doppelt bezahlter Abend gewesen.

      Es war hart, aber doppelt bezahlte Abende musste man nehmen. Er würde so etwas nicht verstehen. Aber genau besehen, würde sie wieder hingehen, nur die Zeichen früher wahrnehmen. Sich mehr auf ihre Witterung verlassen. Gleich beim Kommen, wenn alles noch normal wäre, würde sie das nächste Mal schauen, wie man zeitgerecht verschwinden konnte. Richtig verschwinden war das Wesentliche, wenn sich etwas zusammenbraute.

      Im Klo einsperren reichte nicht und hätte an dem Abend auch nicht gereicht. So wie sie das auf der Party erlebt hatte, traten die auch die Klotüre ein, wenn sie sie haben wollten. Aber man durfte Angst nicht alles bestimmen lassen, musste lernen, mit solchen Sachen umzugehen.

      Wolfgang sah das Szenario auf der Party vor sich. Betrunkene Gewalt, die sich langsam aufschaukelte. Vielleicht von Kokain oder Amphetaminen angeheizt. Ausbruch von irrationaler Wut ohne Anker, Größenwahn und Machtgefühle im Rudel verstärkt, die Prügel waren wohl nur der Beginn gewesen. Er konnte das aber nicht einfach hier am Gang in dem alten, kalten Gemäuer abhandeln, konnte kaum höflich fragen, wie es denn war. Beim Gedanken, was sich da wohl alles abgespielt hatte, kroch ihm kalte Wut in den Rücken und in die Schultern.

      Er hielt es für vernünftig, jetzt und in dieser Situation nicht weiter zu bohren. Er holte sie zum Thema Rita zurück, weg von ihrer eigenen Zerstörung zu der von Rita. „Graumann ist sicher, dass Rita ermordet wurde?“, fragte Wolfgang.

      „Ja, beide sagt er.“

      „Und warum?“

      „Graumann sagte nicht, warum. Ich denke, wenn einer aus drei Metern in den Rücken geschossen wurde, war der ja nicht zu übersehen, deshalb war es Absicht. Warum wissen die vielleicht auch noch nicht.“ Theresa stand auf, bevor ihr ganzes Inneres eisig wurde, unterkühlt von der steinernen Treppenstufe, auf der sie saß. Wahrscheinlich war sie eher auf der Flucht vor allzu kalten Gefühlen. „Ich glaube, ich muss mir die Fassade reparieren. Wenn mich Udo so erwischt, bin ich den Job los“, sagte sie und ging schnell. Wolfgang blieb mit der Leiter zurück, die Taschen voll mit kleinen Kameras und hochempfindlichen Mikrophonen und die Seele voll mit einem seltsamen Gefühlsnebel.

      NACHMITTAG

      Ezra war mit Saphyr unterwegs.

      Wie ausgemacht, hatte er ihn am Parkplatz getroffen. Der Produzent erinnerte ihn immer an einen Flummi. Saphyr war klein und dick und sehr lebhaft. Ezra lernte auf den rasenden Streifzügen durch die Burg und das Haupthaus das ganze Anwesen besser kennen. Die Hälfte der Burg war von einem Wassergraben umgeben. Im Hof gab es eine Meierei, die aber so spät im Jahr nicht mehr geöffnet war. Das Haupthaus war über den Hof zu erreichen.

      Beide Gebäude hatten eine Unzahl von Treppen und viele Türen und Tore. Die beiden liefen durch Ein- und Ausgänge hinein und hinaus. In den Hof und wieder in den Garten, bis sie beide sehr außer Atem waren. Schließlich fragte Saphyr in Not nach Luft: „Ja, wo ist sie denn?“

      Ezra hatte bei früheren Projekten gelernt, wie mit Saphyr umzugehen war, nämlich passiv. Um sich nicht zu überanstrengen, nicht niedergebrüllt zu werden, keine Aufträge zu erhalten, die extrem belastend bis undurchführbar waren, hieß das Zauberwort Passivität. Absolute Reinheit von jeglicher Initiative. Der Blick musste völlig flach bleiben, ohne den geringsten Funken, ohne Spitze. In dem Moment, wo man irgendwo gezielt hinblickte, etwas sagte oder fragte oder auf andere Art auf sich aufmerksam machte, hatte man irgendeine unmögliche Aufgabe.

      Folglich lief Ezra in drei Schritten Abstand hinter dem Eilenden, schweigend und still, und vermied bei jedem Anhalten den Blickkontakt. Auch Blickkontakt konnte als Aufforderung