wurde der Rasen gemäht. Wahrscheinlich das letzte Mal in diesem Jahr. Viele rote und gelbe Blätter von einigen Kirschbäumen hatten bereits den Rasen verziert.
Das tiefe Schnaufen von Marco durchbrach die Stille.
»Ich kann mir vorstellen, in welche Richtung ihr denkt«, begann er mit seinem Monolog.
»Da haben es Ole und ich leichter. Was wir zusammen erlebt haben, lässt sich nicht in Worte fassen. Ich glaube, dass jeder Mensch nur ein Schicksal hat. Und diesem Schicksal muss jeder für sich folgen. Bodo liebt die Farben der Schöpfung. Darüber hinaus kennt Bodo nur Schwarz und Weiß. Um es genauer auszudrücken: Für oder gegen die Schöpfung. Hierbei sind die Menschen lediglich Teil der gesamten Schöpfung. Der Mensch, das einzige intelligente Wesen auf diesem Planeten, sollte darauf bedacht sein, diese Schöpfung zu bewahren. Schon allein aus egoistischen Gründen. Wenn die Schöpfung stirbt, stirbt auch der Mensch. Das ist Bodos unumstößliche Philosophie und Ausrichtung. Ihr habt das doch in Biloxi gehört. Er hat vielleicht eine etwas ungewöhnliche Sichtweise. Er hat sich vielleicht in manchen Dingen verdammt hart ausgedrückt. Was er gesagt hat, sind doch zum allergrößten Teil unumstößliche Fakten. Er hat sich in diese Thematik über viele Jahre hineingesteigert.
Wenn ihr das alles gesehen hättet, was er mit seinen eigenen Augen gesehen hat, würdet ihr auch etwas andere Menschen geworden sein. Verdammt. Ich weiß nicht, warum er sich diese Scheiße antut. Das ist eigentlich unmenschlich. Ich erkenne auch nicht, wohin er mit all diesem Wissen will. Ole und ich könnten euch sicher über einige erhellende Erlebnisse berichten. Doch das werden wir nicht tun. Wir beide sind bereit, Bodos Weg mitzugehen. Wir ahnen, dass dieser Weg vielleicht nicht einfach sein wird. Doch nicht nur wir beide würden ihn auf diesem Weg bis zum letzten Blutstropfen begleiten. Mindestens die Hälfte der Leute an diesem Abend in Biloxi denken und fühlen artähnlich.«
Er blickte Iris bohrend in die Augen.
»Welche Kriterien entscheiden darüber, ob jemand psychisch krank oder gesund ist?«
Er machte eine Pause, um den beiden Frauen nacheinander in die Augen zu schauen.
»Ist ein Rauschgiftsüchtiger krank? Im Prinzip schadet er sich doch nur selbst damit. Wenn ein netter Zeitgenosse jedoch mit zweihundert Stundenkilometern in eine dicke Nebelwand hineindonnert, kann man diesen Zeitgenossen dann noch als völlig gesund bezeichnen? Er kann damit viele Menschenleben in Gefahr bringen. Ist ja alles schon viele Male passiert. Aber wenn ein Manager eines großen Konzernes, ganz bewusst und lediglich aus Kostengründen, aus reiner Raffgier eine unmissverständliche Anweisung gibt, die primitivsten Sicherheitsvorschriften außer Kraft zu setzen, wie es nicht nur bei der Deepwater-Horizon-Katastrophe der Fall war - und in der Folge sterben viele Menschen. Ist dieser Mensch dann nur noch gierig? Oder ist dieser Mann da facto dann ein Mörder? Und wenn er sich sogar als Wiederholungstäter outet, so müssten eure Kolleginnen oder Kollegen ihn doch in eine Psychiatrie einweisen. Oder sehe ich das völlig falsch? Ist es nachvollziehbar, dass eine Kassiererin wegen einer Unterschlagung von ein paar Euro in den Knast muss - und der Manager der Deepwater-Katastrophe bekommt eine Millionenabfindung und hat obendrein einen lebenslangen sehr hohen Pensionsanspruch? Ob Menschen aufgrund von vorhersehbaren Unfällen sterben, oder durch eine Salve aus einer Maschinenpistole - wo um alles in der Welt gibt es da einen Unterschied? Tot ist tot.«
Tränen schossen über Marcos Wangen.
»Verdammt. Ich kann Bodo mittlerweile verstehen«, schluchzte er leise. »Nie würde ich Bodo in den Rücken fallen.
Sylvia erhob sich, um Marco wortlos in die Arme zu nehmen. Marco schob sie nach einigen Sekunden sanft von sich.
»Ihr werdet euch bald entscheiden müssen, ob sich unsere Wege trennen. Auch ihr habt nur ein Schicksal. Und diesem Schicksal könnt auch ihr nicht entrinnen.«
Einige Tage zuvor hatte Marco alles darangesetzt, die ganze Wahrheit über den weiteren Verlauf und den Ausgang der Deepwater-Horizon-Katastrophe in Erfahrung zu bringen. Er recherchierte im Internet und telefonierte mit Bradly sowie mit vielen Aktivisten und Experten. Die Auswirkungen waren weitaus größer und nachhaltiger, als dies aus Zeitungsberichten hervorging oder hervorgehen konnte. Die Reporter wurden mit Expertisen und Gutachten gekaufter Wissenschaftler bombardiert. So entstanden hunderte von „Wahrheiten“.
Lediglich der erfolgreichste Schadenersatzanwalt, Mike Papantonio, stellte sich der Armee von über 300 Anwälten des Konzerns entgegen und plädierte auf die juristische Höchststrafe in den USA; den »Strafschadenersatz«. Dazu musste er beweisen, dass der Konzern sich mit Vorsatz betrügerisch und rücksichtslos verhalten hatte. Das Heer der Anwälte des Konzerns behauptete, 75 Prozent des Öls seien verdunstet, verbrannt, abgeschöpft und von Chemikalien zersetzt worden.
Doch der Staranwalt, der seine kampferprobten Rechercheure ausgesandt hatte, konnte sich auf Expertisen von Umweltschutzorganisationen und deren Experten beziehen. Eben diese 75 Prozent, gab er zu Protokoll, würden sich verheerend auf unsere Umwelt auswirken – und seien sogar noch gefährlicher als zuvor.
In Kombination mit Corexit potenzierte sich die Giftigkeit und würde sich voraussichtlich noch in mehr als zwanzig Jahren verheerend im Golf von Mexiko auswirken. Dies attestierte der Meeresbiologe und ehemalige Professor der Universität von Alaska.
Die altgedienten und seelenlosen Anwälte des Konzerns taten das, womit sie Jahre und Jahrzehnte zuvor immer Erfolge verbuchen konnten: Sie spielten auf Zeit – zehn Jahre, zwanzig Jahre, dreißig Jahre. Papantonio, der David gegen den Goliath, hielt mutig dagegen.
»Der Konzern hat betrügerische, ja sogar hochkriminelle Züge an den Tag gelegt. Nur weil die Verantwortlichen Anzüge von Armani trügen, sich Rolex-Uhren leisteten, und mit einem britischen Akzent sprächen, würde das noch lange nicht bedeuten, dass es keine Kriminellen seien«, sagte er bei einer der vielen Gerichtsverhandlungen.
Er untermauerte diese Charakterisierung mit Fakten:
Allein die Bilanz der letzten fünf Jahre würde die Vermutung zulassen, dass das Gericht es nicht nur mit Kriminellen, sondern gar mit Soziopathen, mit kranken Menschen, zu tun zu habe. Die Bilanz in diesen Jahren: 26 Tote und 170 Verletzte.
Und wer noch weiter in die Geschichte zurückblicken wolle, dem stünden die Haare zu Berge. All dies zeige, dass diese Kriminellen in Nadelstreifen nichts dazu lernen wollten. Sie hatten sich ihr eigenes Parallelreich geschaffen, und fühlten sich unangreifbar. Welche Macht würde es schon versuchen, sich mit über dreihundert Anwälten anzulegen, von denen jeder viele tausend Dollar am Tag verdienten; war in vielen Zeitungen weltweit zu lesen.
Insider wetteten zum damaligen Zeitpunkt darauf, dass der Konzern diesen Kampf verlieren würde. Sie verwiesen darauf, dass der neue Vorstandsvorsitzende des Konzerns bereits hohe Rücklagen durchgesetzt hatte.
Der MMS vergab noch im gleichen Jahr neue Bohrlizenzen an verschiedene Konzerne. Noch nicht einmal zwei Jahre nach der Explosion der Deepwater Horizon vermeldete der neue Vorstandsvorsitzende bereits wieder einen Nettogewinn von 23,9 Milliarden Dollar. Ein britisch-niederländischer Konzern ließ im Mai 2013 wissen, dass er 320 Kilometer südwestlich von New Orleans einen neuen Bohrrekord aufstellen wolle; in 2.896 Meter Tiefe.
Nein, diese gierigen Konzerne, eingebettet in ein Geflecht aus Unternehmen, einem Meer aus hochbezahlten Lobbyisten, großen Anwaltskanzleien, Banken und willfährigen Politikern – sie würden weitermachen, als sei nichts geschehen. Sie würden noch größere Schäden anrichten, und der Mutter Erde weitere riesige Wunden zufügen. Allein die Fracking-Technologie würde jegliches Vorstellungsvermögen sprengen. Einige Affen- und Hundearten weisen eine höhere Empathie auf, als viele Manager multinationaler Konzerne, dachte Bodo. Diese Burschen verbargen ihre Defizite geschickt hinter anerlernten Rhetoriktechniken. Dem Vorstandsvorsitzenden des englischen Konzerns attestierte die Fachpresse ein gewinnendes Wesen und einen jungenhaften Charme. Dieser gleiche, joviale und charismatische Mann vergnügte sich auf seiner großen Yacht in klaren, englischen Gewässern, während im Golf von Mexiko unzählige Menschen um ihre Existenzen kämpften, während tausende Helfer die giftige, braune Brühe in große Behälter schöpften, und später in Krankenhäuser eingeliefert wurden; während hochbezahlte