Tessa Koch

Wounded World


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      „Und dann Wahl-Amerikanerin geworden?“

      „Nicht ganz.“ Kurz bin ich stumm, dann beschließe ich, dass ich Liam die Wahrheit erzählen kann. Ich habe ihm vertraut, als es um mein Leben ging. Dann sollte ich ihm auch meine Vergangenheit anvertrauen können. „Ich bin hier geboren. Also nicht hier.“ Ich verziehe leicht die Nase, als ich mich in dem stinkenden Schacht umsehe. „Sondern in New York. Mein Vater war Amerikaner, meine Mutter Deutsche. Sie sind extra kurz vor meiner Geburt hergereist, damit ich beide Staatsbürgerschaften habe.“ Ich blicke starr geradeaus in den dunklen Gang. „Sie starben. Meine Eltern. Es war kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag, sie hatten einen bescheuerten Motorradunfall. Danach ging es mir … nicht sonderlich gut. Ich trieb mich mit den falschen Leuten herum, kümmerte mich nicht wirklich um meine Zukunft und war auch nicht immer der netteste Mensch. Alles war mir egal mit einem Mal.“ Ich trete eine leere Dose beiseite, die vor mir in dem Brackwasser treibt. „Eines Tages bin ich aufgewacht und habe mich gefragt, was ich da eigentlich tue. Mir wurde klar, dass es so nicht weitergehen kann. Am selben Tag noch packte ich meine Siebensachen, habe all meine Ersparnisse zusammen gekratzt und bin hergekommen.“ Ich zucke mit den Schultern. „Und bin dann irgendwie in Washington hängen geblieben.“

      „Das tut mir leid.“ Liam sieht mich bekümmert von der Seite an. „Das mit deinen Eltern, meine ich.“

      „Es ist inzwischen vier Jahre her, ich habe mich damit arrangiert, denke ich. Außerdem“, setze ich nach kurzem Zögern hinzu, „ist es vielleicht … naja, besser so. Ich habe sie verloren und das war der schlimmste Tag in meinem Leben. Aber ich weiß, dass sie tot sind, dass sie wirklich tot sind. Sie laufen nicht auf den Straßen herum und fallen Menschen an. Ich muss keine Angst um sie haben, verstehst du?“

      „Ich verstehe ganz genau, was du meinst.“ Seine Lippen sind fest aufeinander gepresst.

      Kurz schweigen wir beide. „Was ist mit deiner Familie?“, frage ich leise.

      „Sie leben in Arkansas. Meine Eltern haben eine dieser altmodischen Farmen, weißt du? Mit riesigen Viehweiden, Ackerland, Scheunen, das alles eben.“

      „Wow, das kenne ich so nur aus dem Fernsehen.“

      Er lacht. „Ja, es war eigentlich ziemlich cool dort aufzuwachsen. Doch als ich älter wurde, habe ich es immer mehr gehasst und deswegen irgendwann das Weite gesucht. Meine Brüder haben es mir dann irgendwann nachgemacht.“

      „Du hast Brüder?“, frage ich interessiert.

      „Ja, drei.“

      „Nicht schlecht. Ich habe es immer gehasst Einzelkind zu sein.“

      „Aber wie du schon sagtest, ist das in solchen Zeiten vielleicht sogar besser.“ Ich sehe seine Sehnen hervortreten, als er die Taschenlampe krampfhaft umfasst.

      „Weißt du“, sage ich, den Blick auf seine Hand gerichtet, „wenn wir jemals aus diesem stinkenden Loch hier raus sind und ich mich mindestens zwanzig Mal geduscht habe –“ Er lacht leise „– dann könnten wir uns doch auf den Weg nach Arkansas machen, was meinst du? Wir wissen doch ohnehin nicht, wo wir hin sollen. Und eine große Farm scheint mir ein guter Platz zu sein für eine Zombie-Apokalypse. Zusammen mit deiner Familie.“

      Tatsächlich glaube ich, Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen. „Das wäre toll.“

      „Dann haben wir einen Plan.“ Ich lächle ihn aufmunternd an.

      Er erwidert es. „Du bist also 22?“, lenkt er das Gespräch dann auf ein weniger heikles Thema.

      „Und du anscheinend ein Mathe-Genie“, necke ich ihn. „Ja, bin ich.“

      Er seufzt wehmütig. „Dann bist du ja noch halb grün hinter den Ohren.“

      „Wie bitte? Wie alt bist du denn?“

      Er grinst. „25.“

      Vor Empörung bleibt mir der Mund offen stehen. „Du bist drei lächerliche Jahre älter und sagst, ich sei noch grün hinter den Ohren?“

      „Drei Jahre sind drei Jahre“, lacht er. „Hier müssen wir links“, fügt er dann nach einem Blick auf seinen Kompass hinzu. Wir biegen an der nächsten Gabelung links ab und waten weiter nebeneinander her durch das knöchelhohe Brackwasser. „Sag mal.“ Ich sehe zu ihm auf. Sein Blick ruht sanft auf meinem Gesicht. „Was meintest du vorhin, als du sagtest, du seist nicht immer der netteste Mensch gewesen?“

      „Sagen wir mal so.“ Ich lächle halbherzig. „Du bist nicht der einzige hier, der weiß, wie man ein Auto knackt und kurzschließt, okay?“

      Er lacht. „Also bin ich in dieser Zombie-Apokalypse mit ´ner Kriminellen unterwegs?“

      Ich werde rot. „Nein. Also … nicht mehr. Die letzten Jahre habe ich bei Starbucks gearbeitet, um mein Studium finanzieren zu können.“ Eine seiner Brauen wandert fragend in die Höhe. „Literaturwissenschaften.“

      „Nicht schlecht.“

      Ich möchte mich bei ihm bedanken, als ich etwas hinter uns höre. Langsam drehe ich mich um, leuchte in den Schacht hinter uns. Das Licht meiner Taschenlampe wird von Dutzenden milchigen Augen zurückgeworfen. „Liam.“ Meine Stimme ist viel zu hoch.

      Er dreht sich um, folgt dem Schein meiner Taschenlampe. „Ach du Scheiße …“

      „Lauf!“, rufe ich und renne im nächsten Moment selber los. Das Fauchen und Ächzen hinter uns wird lauter, auch die Parasiten werden schneller, versuchen uns zu folgen. Vor uns ist eine weitere Gabelung, wir werfen uns im Laufen einen Blick zu, nehmen beide wieder den linken Gang. Das Brackwasser spritzt um unsere Beine, wir haben einen weiten Vorsprung zu den Parasiten aufgebaut.

      Im nächsten Moment rutsche ich auf etwas Glitschigem aus und schlage der Länge nach hin. Ich beiße mir fest auf die Unterlippe, um das ekelhafte Wasser nicht zu schlucken. Ich will mich wieder hochkämpfen, hinter Liam herlaufen, der nicht bemerkt hat, dass ich gefallen bin. Doch mein Fuß hat sich in einem Gitter verfangen, egal wie sehr ich auch ziehe, ich bekomme ihn nicht los. Das Fauchen hinter mir wird lauter, ich höre das Ächzen und Stöhnen der Parasiten, die sich ihren Weg durch die Kanalisation bahnen. Ich werfe einen Blick über meine Schulter, sie sind keine zehn Meter mehr von mir entfernt. „Liam!“, rufe ich und reiße wieder panisch an meinem Fuß.

      Er wirft einen Blick über seine Schulter, sieht mich am Boden im Brackwasser liegen. „Eve!“ Er bremst schlitternd ab, wirft seine Gitarre in den Schacht und kommt zu mir zurückgerannt. Im Laufen zieht er seine Glock, zielt auf einen der Parasiten, der nur noch wenige Meter von mir entfernt ist. Der Schuss ist durch die Enge des Tunnels ohrenbetäubend laut, weitere folgen. Liam trifft jedes Mal, die Parasiten stürzen nach hinten und treiben tot in dem Abwasser. Im nächsten Augenblick ist er neben mir. „Steh auf, Eve, los!“

      „Ich hänge irgendwo fest, mein Fuß klemmt fest!“ Wieder reiße ich panisch an meinem Bein.

      Liam schießt zwei weiteren Parasiten in den Kopf, doch es kommen immer mehr. Ich frage mich, wieso so viele von ihnen hier unten sind. Er zerrt an meinem Bein, versucht es ebenfalls frei zu bekommen, doch er ist ebenso erfolglos. Wieder kommt uns ein Parasit nahe, als Liam auf seinen Kopf zielt und abdrücken will, klickt es nur einmal. „Scheiße!“ Wieder drückt er auf den Abzug, doch nichts geschieht. Sein Magazin ist leer.

      „Lauf, Liam.“ Ich blinzele die Tränen weg und versuche mein schnell schlagendes Herz zu ignorieren. „Los, wenn du dich beeilst, dann schaffst du es.“

      Er sieht mich an, nur für wenige Sekunden. Dann ist er wieder auf den Beinen und läuft in den Schacht, fort von mir. Kurz schließe ich meine Augen und drehe dann den Kopf zu den Parasiten. Einer ist nur noch wenige Meter von mir entfernt, sein Fauchen ist so hoch, dass sich mir die Nackenhärchen aufstellen. Ich versuche mich auf das vorzubereiten, was nun kommen muss, die scharfen Zähne in meinem Fleisch, die kratzenden Finger auf meiner Haut.

      Auf einmal spritzt mir das Dreckwasser ins Gesicht, als Liam an mir vorbeirennt,