Tessa Koch

Wounded World


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      21. Juli 2021, DIE TANKSTELLE

       Logbuch-Eintrag 03

      

      

       Wenn die Welt untergeht, nur noch wenige Tausend Menschen leben, gebietet es der gesunde Menschenverstand, dass sie sich zusammen tun und gemeinsam einen Weg aus diesem Albtraum finden. Es zählt dann nicht mehr, wer man einmal gewesen ist, was man einmal getan hat. Es ist egal, ob man männlich oder weiblich, schwarz oder weiß, jung oder alt ist. Das einzige, was zählt, wenn die Welt in Trümmern liegt, so viele bereits gestorben sind, ist, dass man ein Mensch ist. Oder etwa nicht?

      

       Ich bin so unendlich dankbar gewesen, als ich Liam getroffen habe, auch wenn ich zu Beginn vorsichtig gewesen bin. Man weiß nie, mit wem man es zu tun hat, wer neben einem liegt, während man wichtige Energie sammeln muss. Doch wir haben einander schnell getraut, vertraut und verstanden, dass wir einander brauchen. Nicht nur um zu überleben, sondern für unser Seelenheil, um nicht den Verstand zu verlieren.

      

       Aber es sind nicht alle Menschen so wie Liam. Nicht in allen ruft dieser Ausnahmezustand das Beste hervor. Es gibt auch böse Menschen, furchtbare Menschen, bei denen nur Gott alleine weiß, weswegen sie bisher überlebt haben. Die einem wehtun, einen zerstören wollen, trotz oder vielleicht sogar wegen allem, was geschehen ist. Ein paar von ihnen sind wir begegnet. Durch diese Treffen habe ich eines gelernt: Dass wir die Lebenden mehr fürchten müssen als die Toten.

      Meine Schultern schmerzen so sehr, die Last der beiden Rucksäcke zerrt an meinen Muskeln. Auch meine Beine schmerzen, sie wollen das Gewicht meines Körpers nicht mehr tragen, doch sie müssen. Sie müssen es einfach. Das Brennen in meinen Lungen macht mich beinahe wahnsinnig, der Schweiß rinnt mir das Gesicht hinab, vermischt sich mit dem Blut des Parasiten, den ich noch in der Gasse erschlagen habe und brennt in meinen Augen.

      Die Stadt ist nur noch wenige Hundert Meter entfernt, es fühlt sich so an als würden wir schon seit Stunden laufen. Vielleicht tun wir es ja auch. Ich werfe einen Blick über die Schulter, sehe die Massen von Parasiten hinter uns. Auch sie sind nur wenige Hundert Meter von uns entfernt. Ihr Anblick, die gräuliche tote Haut, die milchig weißen Augen, das Fauchen, Stöhnen und Ächzen, treibt mich weiter voran, auch wenn ich am liebsten einfach zusammenbrechen würde. Liam hält meine Hand noch immer fest umfasst, er zieht mich inzwischen mehr, als dass er neben mir herläuft. Immer wieder wirft er mir besorgte Blicke zu, ich kann seinem Gesicht ansehen, dass er es bereut, mir seine Sachen gegeben zu haben. Ich muss zugeben, dass ich ebenfalls bereue seinen Rucksack aufgesetzt zu haben. Sein Gewicht, zusätzlich zu dem meines Gepäcks, raubt mir mit jedem weiteren Schritt kostbare Kraft, die mich andernfalls hätte schneller laufen lassen.

      „Ich kann nicht mehr!“, keuche ich nach weiteren hundert Metern. „Ich kann einfach nicht mehr!“

      „Du musst, wir haben es doch schon fast geschafft!“ Er zieht mich weiter, energisch, entschlossen. „Bitte, Eve! Wir müssen es einfach schaffen, das hast du selbst gesagt!“ Der Blick, den er mir zuwirft, ist flehend.

      Ich sammle meine letzten Kraftreserven zusammen und schließe nun zu ihm auf, statt hinter ihm her zu torkeln. Wenige Minuten später laufen wir über die Grenze der Stadt, vorbei an einem Ortsschild, das ich in der Eile nicht lesen kann. Liam zieht mich nach rechts, an eines der Wohnhäuser vorbei, direkt in dessen Garten. Zuerst glaube ich, dass er durch eine der Hintertüren in das Innere gelangen will, doch stattdessen hält er auf den Gartenzaun zu. Als er vor ihm anhält, wirft er seine Gitarre über den Zaun, hilft mir dann, ebenfalls über den Gartenzaun zu gelangen und folgt mir dann. Er hebt seine Gitarre auf, nimmt meine Hand und zieht uns durch den nächsten Garten, zu dem nächsten Zaun. Auch über diesen klettern wir, so wie über fünf weitere.

      „Das sollte reichen“, keucht er, nachdem wir einen weiteren Zaun passiert haben. Er wirft einen Blick über die Schulter, noch immer können wir das Fauchen, Ächzen, Stöhnen der Parasiten hören, doch sehen wir keine. Liam läuft auf die Hintertür des Hauses zu, in dessen Garten wir uns gerade befinden. Er drückt gegen die Tür, doch sie öffnet sich nicht. Er zieht den Pullover über seinen Kopf, steht mit nacktem, durchtrainiertem Oberkörper vor mir, wickelt sein Oberteil fest um seine Faust und schlägt die Scheiben der Tür ein. Anschließend greift er durch das Loch in das Haus und entriegelt die Tür. Er hält sie für mich auf und ich trete eilends in das Haus.

      Sofort verschließt Liam die Tür wieder, schlüpft in sein T-Shirt und sieht sich in dem Wohnzimmer um, in dem wir nun sind. Dann schiebt er einen Sessel vor die Tür. Währenddessen habe ich die schweren Rucksäcke abgesetzt und verspüre das unglaubliche Verlangen meine Schultern zu massieren. Doch stattdessen ziehe ich meinen treuen Hammer aus dem Gürtel und sehe mich in dem Haus um. Es ist still hier, doch ich weiß, dass es nichts zu bedeuten hat. Und solange wir uns nicht überzeugt haben, dass die Familie, die hier einst lebte, fort ist, werde ich mich nicht entspannen können.

      Auch Liam hat einen der Schraubenzieher gezückt, die ich ihm gegeben habe. Das Wohnzimmer hat zwei Ausgänge, einen in die angrenzende Küche, einen in den dunklen Flur. Ich bedeute Liam, dass er die Küche überprüfen soll, während ich den Flur auf ungebetene Gäste absuchen will. Er wirkt nicht besonders glücklich mit meinem Plan, macht sich dennoch lautlos auf den Weg in die Küche. Ich schleiche in den Flur, sehe, dass sich rechts von mir eine Treppe in die erste Etage zieht und mir gegenüber eine weitere Tür ist. Die Haustür ist links von mir. Leise gehe ich durch den Flur, werfe einen flüchtigen Blick durch die Fenster neben der Eingangstür. Die Parasiten ziehen in Scharen an dem Haus vorbei. Ich ducke mich eilig, damit mich nicht zufällig einer entdeckt und versucht hier hinein zu gelangen.

      Als ich vor der geschlossenen Tür gegenüber dem Wohnzimmer stehe, umfasse ich den Hammer etwas fester. Vorsichtig öffne ich die Tür und betrete ein leeres Esszimmer. Gerade als ich mich etwas entspanne, kommt eine Gestalt in den Raum gestürmt. Ich weiche erschrocken zurück, einen Schrei im Hals. „Pssht, Eve, ich bin’s“, flüstert Liam, die Hände erhoben.

      „Oh Gott“, flüstere ich, die freie Hand auf meine Brust gedrückt. „Mach das nie wieder, ich hätte fast geschrien.“

      „Tut mir leid. Hast du irgendwas entdeckt? Oder irgendwen?“

      „Nein, du?“

      „Auch nicht.“ Er wirft einen Blick über meine Schulter. „Wir sollten uns in der ersten Etage umsehen.“

      „Und am besten dort bleiben, bis die Viecher vorbei sind.“ Wieder sehe ich aus dem Fenster auf die Parasiten, die an dem Haus vorbeiströmen.

      „Gute Idee.“ Liam geht an mir vorbei in den Flur, er hat unsere Rucksäcke bei sich sowie seine Gitarre. Ich folge ihm die breite Treppe hinauf in die erste Etage, insgesamt sind hier oben vier weitere Zimmer, jeweils zwei auf der linken und rechten Seite des Flures.

      Wir sehen uns kurz an, dann biegt Liam nach links und ich nach rechts ab, um die einzelnen Räume zu kontrollieren. Das erste Zimmer, das ich betrete, ist ein verlassenes Kinderzimmer. Ich betrachte die vielen Spielsachen, die in dem Zimmer verteilt sind, sehe das Himmelbett vor einer rosa Wand. Hier hat einmal ein kleines Mädchen gelebt, der Gedanke, was vielleicht mit ihr geschehen ist, lässt mich erschauern. Ich trete zurück auf den Flur, ich möchte das Zimmer schnell hinter mir lassen. Als ich die nächste Tür öffne, höre ich sofort, dass in dem Raum jemand ist. Ich umfasse den Hammer fester und stoße die Tür weit auf, während ich im Flur stehen bleibe. Es ist dunkel in dem Zimmer, meine Augen gewöhnen sich nur langsam an das Licht. Leises Ächzen und Stöhnen dringt an meine Ohren, ich weiß, dass es einer von den Parasiten sein muss. Ich trete in den Raum und sehe mich um, den Hammer erhoben.

      Im nächsten Moment lasse ich ihn wieder sinken.

      Es ist das Badezimmer der oberen Etage, in einem hellen Sandton gehalten, der mir unter anderen Umständen durchaus gefallen würde. In der Badewanne liegt ein Mädchen, ich schätze es auf fünfzehn, sechzehn Jahre, zu alt für das Kinderzimmer, das ich eben