Tessa Koch

Wounded World


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Auge, bis ins Gehirn. Sekunden später ist Liam wieder bei mir, seine Hand unter Wasser. Sie fasst meinen Knöchel und zieht einmal kräftig. Ich spüre, wie mein Schuh sich aus dem Gitter löst und freikommt. Seine Hand fest um meinen Oberarm geschlossen, zieht Liam mich auf die Beine, hinter sich her durch den Tunnel. An einer weiteren Gabelung zieht er mich in den rechten Gang, doch wir sehen schon von Weitem die Parasiten, die am anderen Ende durch das Wasser waten. Wir drehen uns um, doch auch dort sind welche, sie umzingeln uns. Die Schüsse haben sie angelockt, alle, die hier unten sind, werden in den nächsten Minuten bei uns sein. Ich blicke mich um und versuche einen Ausweg zu finden. Da fällt mir eine Leiter an der gegenüberliegenden Wand auf.

      „Die Leiter!“ Ich zeige auf unseren Ausweg, unsere Rettung. Liam läuft mir voran, springt auf die Sprossen und steigt hinauf. Ich folge ihm sofort. Ein Parasit packt meinen Knöchel, doch ich reiße meinen Fuß los und trete ihm ins Gesicht. Mit einem Ächzen versucht Liam den Deckel aufzuschieben, schafft es mit einer Hand jedoch nicht. Er blickt kurz auf seine Gitarre und lässt sie dann los. Ich fange sie auf, ehe sie in das Wasser fallen und für immer verloren gehen kann. Währenddessen hat er den Deckel beiseitegeschoben und zieht sich auf die Straße über uns. Die Gitarre unter den Arm geklemmt folge ich ihm. Wir laufen geduckt zu einem Auto und kauern uns hinter ihm zusammen. Überall um uns herum sind Parasiten, doch bis jetzt hat keiner von ihnen Notiz von uns genommen. „Was machen wir jetzt?“ Mein Herz schlägt so hart gegen meine Rippen, dass es wehtut, meine Hände sind schwitzig vor Angst.

      Liam wirft einen Blick über die Motorhaube des Wagens. „Weißt du, wie weit wir vom Interstate entfernt sind?“

      Auch ich schaue nun über das Auto, versuche mich zu orientieren. „Nicht weit“, flüsterte ich, erleichtert, dass ich weiß, wo wir sind. „Wir sind in einer Nebenstraße, wenn wir dort hinten rechts gehen und dann die nächste links, sind wir auf direktem Wege zum Interstate.“

      „Nur dass wir zu Fuß nicht lebend dort ankommen werden.“ Liam duckt sich wieder hinter das Auto. „Wir müssen fahren.“

      „Fahren? Wir werden nicht durchkommen bei den ganzen -“

      „Mit einem Motorrad schon“, unterbricht er mich leise. Ich folge seinem Blick und sehe eine Maschine nur wenige Meter von uns entfernt stehen. Mir entweicht ein Laut, der halb Stöhnen und halb Weinen ist. „Wir haben keine andere Wahl. Sorry, Kleines.“ Tatsächlich schafft Liam es, mir beruhigend zuzulächeln, in diesem Moment, in dem wir umzingelt von Parasiten hinter einem Auto kauern.

      „Schon gut, Hauptsache wir kommen hier endlich raus.“ Ich klinge belegt.

      „Mein Reden.“ Er schaut, ob die Luft rein ist, dann schleicht er mir voran auf das Motorrad zu. Auch hier steckt der Schlüssel, die meisten Bewohner Washingtons scheinen ohne nachzudenken geflohen zu sein, als die Angriffe begannen. Oder sie sind Teil der Untoten geworden. Liam schwingt sein Bein über die Maschine, ich klettere hinter ihm rauf. Im nächsten Moment röhrt das Motorrad laut auf, ich will mich an Liam festkrallen, merke jedoch schnell, dass sein Rucksack ein sicheres Festhalten unmöglich macht.

      „Setz deinen Rucksack ab!“, zische ich ihm zu.

      „Was?“

      „Ich kann mich sonst nicht an dir festhalten! Keine Sorge, ich nehme ihn.“

      „Er ist ganz schön schwer.“

      „Diskutier jetzt nicht mit mir!“ Ich sehe die ersten Parasiten auf uns zukommen, die durch das Röhren des Motorrads angelockt werden. „Gib mir einfach deinen beschissenen Rucksack!“ Er lässt den Rucksack von seinen Schultern gleiten und reicht ihn mir. Ich setze meinen ebenfalls ab, schwinge seinen auf meinen Rücken, stelle die Träger meines Rucksacks so weit wie möglich und ziehe ihn über Liams. Das Gewicht zieht unangenehm an meinen Schultern, doch nun kann ich meine Arme fest um seinen Oberkörper schlingen, nur die Gitarre ist noch zwischen uns. „Ich bin soweit“, sage ich.

      Liam gibt Gas und wir schnellen nach vorne. Er rast an den Parasiten vorbei, fährt dann rechts und gleich die nächste Straße links, so wie ich es ihm gesagt habe. Bereits nach wenigen weiteren Minuten Fahrt ist der Interstate zu sehen. Mit geweiteten Augen sehe ich die ganzen Autos an uns vorbeiziehen, die überall abgestellt worden sind. Wir umfahren sie wie Slalomstangen, ich versuche mir nicht vorzustellen, was mit all den Menschen geschehen ist, die in diesen Wagen auf dem Interstate gewesen sind. Auch hier sind einige Parasiten, sie taumeln zwischen den Autos umher, auf der Suche nach frischem Fleisch. Doch außer uns befindet sich kein lebender Mensch mehr auf dem Interstate. Liam lenkt das Motorrad geschickt durch die abgestellten Fahrzeuge und wir lassen so Washington immer weiter hinter uns, fahren bereits über den Potomac River hinweg. Von dem Slalomfahren wird mir leicht übel, ich presse mein Gesicht an Liams Rücken und schließe die Augen.

      Ich versuche nicht an meine Eltern zu denken, meinen Dad, der immer ein Träumer gewesen ist, und meine Mum, die ihn stets liebevoll auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen wusste. Ich versuche nicht daran zu denken, wie sie gemeinsam auf Dads alter Maschine aufgebrochen waren, zu einer abendlichen Tour, so wie sie es seit Jahren an besonders schönen Sommerabenden machten. Ich versuche nicht daran zu denken, dass sie nie zurückkamen, dass stattdessen ein Polizist an unserer Haustür klingelte, mich auf den Boden der Tatsachen zurückholte, für alle Zeit.

      Nur ab und an öffne ich meine Augen, sehe, dass wir den Potomac River bereits hinter uns gelassen haben. Dass wir Washington hinter uns gelassen haben. Noch immer müssen wir uns unseren Weg um Hunderte stehende Autos suchen, ich höre über das Röhren des Motorrads hinweg das Fauchen der Parasiten, die auf dem Interstate zwischen den Autos umherwandern. Sie folgen dem Lärm der Maschine, doch wir sind zu schnell für sie. Wir fahren noch eine gute halbe Stunde, ehe ich, das Gesicht nach wie vor an Liams Rücken gepresst, merke, wie wir langsamer werden. Ich öffne meine Augen, wir sind noch immer auf einem Interstate, doch ich weiß nicht auf welchem. Um uns herum stehen nach wie vor Autos, doch die Abstände zwischen den einzelnen Fahrzeugen sind größer. Vorsichtig blicke ich an Liam vorbei nach vorne und sehe, dass nur wenige Kilometer vor uns eine Kleinstadt liegt.

      „Warum werden wir langsamer?“

      „Ich weiß es nicht.“ Liam ist angespannt, als er das Motorrad zwischen zwei Pick Ups ausrollen lässt. „Scheiße“, sagt er, als wir zum Stehen kommen. „Scheiße!“ Er schlägt fest auf den Lenker. „Scheiße, scheiße, scheiße!“

      „Liam!“ Er hört auf, auf den Lenker einzuschlagen. „Wir müssen hier weg. Wir müssen hier schnell weg.“ Mein Ton bewegt ihn dazu, sich zu mir umzudrehen. Doch ich habe keine Augen für ihn, habe mich ebenfalls umgewandt. Hunderte Parasiten sind hinter uns, sie suchen sich ihren Weg an den parkenden Autos vorbei. Seit Washington an müssen sie uns gefolgt sein, je mehr Meter wir hinter uns gelassen haben, desto mehr von ihnen haben sich dem Strom angeschlossen und sind hinter dem lauten Motorrad her.

      „Oh mein Gott.“ Liam wirkt wie paralysiert.

      Ich steige von der Maschine, meine Gelenke sind steif. „Komm!“ Entschlossen fasse ich seinen Unterarm und ziehe auch ihn vom Motorrad. „Wir müssen laufen, wir müssen hier weg, okay?“ Er sieht mich nicht an, starrt über meine Schulter auf die Masse, die nur wenige hundert Meter hinter uns ist. „Liam!“ Nun blickt er mich an, das Gesicht starr. „Wir müssen laufen. In irgendeine Kleinstadt. Wir suchen uns ein Haus und schließen uns dort ein. Wenn wir schnell genug sind und leise, dann schaffen wir es. Wir haben es bis hierher geschafft, also haben wir das Schlimmste bereits hinter uns. Aber du musst jetzt bei mir sein. Du musst mir helfen, okay?“

      Mein Blick sucht den seinen. Für wenige Sekunden sehen wir uns an, dann schluckt er einmal fest und nickt. „Du hast recht. Wir können es schaffen.“

      „Genau.“ Ich drücke ihm seine Gitarre in die Hand. „Wir werden es schaffen.“ Ich strecke meine Hand nach ihm aus und sehe ihn an.

      „Wir werden es schaffen.“ Er ergreift meine Hand und verschränkt seine Finger fest mit meinen. Wir sehen uns ein letztes Mal um, sehen die Parasiten hinter uns näher kommen, Hunderte, vielleicht sogar Tausende. Doch wir sind schneller als sie, wir sind klüger als sie. Und wir wollen leben. Wir sehen