Tessa Koch

Wounded World


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ängstlich, für einen kurzen Moment glaube ich fast, dass er mich noch immer liebt, noch immer zu mir gehört, so wie er mich ansieht.

      Dann reiße ich mich von ihm los und blicke stattdessen auf meine blutende Hand. „Ich habe mich am Rahmen geschnitten.“ Ich sehe wieder zu ihm auf, höre nur noch am Rande die Schreie und Rufe um uns herum.

      Behutsam nimmt er meine verletzte Hand in seine. „Das muss vielleicht genäht werden, wir sollten ins Krankenhaus damit.“

      „Es geht schon.“ Ich entziehe ihm sanft meine Hand. „Zuerst sollten wir schauen wie wir helfen können.“ Ich wende den Kopf und schaue wieder zu dem demolierten Wagen. Inzwischen haben die Ersthelfer sowohl die Frau aus dem Wrack gezogen als auch die Kinder von der Rückbank befreit. Meine Augen bleiben an der blutüberströmten Fahrerin hängen, deren Kopf der Anzugträger gerade in den Nacken drückt. Er öffnet ihren Mund, hält mit zwei Fingern ihre Nase zu und beginnt sie zu beatmen. Ich sehe wie ihr Brustkorb sich hebt, doch ihre Haut ist so fahl und grau wie die einer Toten.

      Im nächsten Moment öffnen sich ihre Augen. Sie scheint orientierungslos, verwundert über den fremden Mann, der seine Lippen auf ihre gelegt hat und sie beatmet. Da schreit der Mann auf einmal erstickt auf, will sich von der Frau zurückziehen. Ich sehe das Blut, das zwischen ihren aufeinander liegenden Lippen hervor strömt, sehe wie die Arme der verletzten Frau sich heben und ihre zerkratzten Hände fest den Kopf des jungen Mannes umfassen. Sie zieht ihn näher zu sich heran, löst ihre Lippen von seinen und versenkt im nächsten Augenblick ihre Zähne tief in seinem Gesicht.

      Die ältere Dame schreit entsetzt auf, wirft sich neben den beiden auf die Knie und zerrt krampfhaft an den Armen der Frau. Der Griff um den Kopf des Mannes löst sich, blutend kriecht er von ihr weg, leise stöhnend, während er eine Hand fest auf sein Gesicht gepresst hat. Ich will etwas sagen, auf die drei zugehen. Da wetzt die Frau ihre Zähne in den Arm der alten Frau, immer und immer wieder, während diese schreiend mit ihrem freien Arm auf sie einschlägt. Ihre Schreie gellen durch die Luft und vermischen sich mit anderen Stimmen und Rufen. Entsetzt starre ich auf die junge Frau, die über die alte Dame herfällt, immer und immer wieder.

      „Scheiße, Eve!“ Adam zerrt an meinem Arm, will mich auf die Beine ziehen. Ich blicke zu ihm auf und sehe, dass er nicht auf die junge Frau, sondern zu den Kindern sieht, die vor wenigen Minuten aus dem Wrack gezogen wurden. Auch ich sehe nun zu ihnen, sehe, wie das Mädchen sich auf den Anzugträger stürzt, seinen Knöchel fest umfasst und ihre Zähne in sein Bein schlägt.

      Meine Brust hebt und senkt sich viel zu schnell, ich blicke zwischen den Szenen hin und her, starr vor Angst und Fassungslosigkeit. Mein Blick fällt wieder auf den toten Jungen unter den Vorderreifen. Eine Bewegung hat mich aufmerksam werden lassen, ein Zucken seiner Hand. Doch das ist unmöglich. Im nächsten Moment schlägt auch er seine Augen auf, seine Finger kratzen über den blutgetränkten Asphalt, suchen Halt, um sich unter dem Auto hervorzuziehen. Sie finden den Fuß einer nahen Laterne und schließen sich fest um das Metall. Als der Junge zieht, dringt ein reißendes Geräusch an meine Ohren. Ich sehe zu seiner Hüfte, sehe die Haut aufreißen, die darunter liegenden Muskeln, das Fleisch. Im nächsten Augenblick reißt der Junge entzwei.

      Sein Kopf dreht sich, seine Haut ist so grau und tot wie die der Frau und des Mädchens. Seine Augen blicken mich direkt an, sie sind leer und weiß, wie die eines Blinden. Ein Ächzen kommt über seine rissigen Lippen, seine Hand streckt sich in meine Richtung und sackt dann zu Boden. Ich starre panisch atmend auf den toten Torso des Jungen, versuche zu verstehen, dass das hier kein Traum ist, dass das tatsächlich soeben geschah. Da zucken die Finger des Jungen erneut, er reißt plötzlich seinen Kopf hoch und versucht mit seiner zur Klaue geformten Hand nach mir zu greifen.

      Adam reißt mich ruckartig auf die Beine, zieht mich von dem Jungen fort, der sich schwer über den Boden zieht, auf uns zu. Die Schreie um uns herum werden lauter, panischer, als die Menschen auseinander stieben, in verschiedene Richtungen davonlaufen. Adam zieht mich hinter sich her, seine Hand fest um meinen Unterarm geschlossen. Während er mich zurück zu seinem Wohnblock zerrt, werfe ich einen Blick über die Schulter und sehe wie die Unfallfahrerin sich wankend erhoben hat und über die Straße stolpert. Die alte Dame liegt reglos neben dem Wagen, ihr Kopf auf einer Höhe mit dem leblosen Körper des Anzugträgers. Sie beide bluten, ihre Gesichter zur Unkenntlichkeit zerfleischt.

      Noch ehe ich verstehen kann, was da gerade passiert ist, was das zu bedeuten hat, schleift Adam mich über die Schwelle seines Blocks und knallt die Tür hinter uns zu. Wieder packt er mich am Arm, zieht mich hinter sich her die Treppe hoch. „Verschwinden Sie in Ihre Wohnung und schließen Sie sich verdammt nochmal ein!“, schreit er einen Mann an, der verstört aus seiner Wohnung in den Hausflur getreten ist. Wahrscheinlich haben ihn die Schreie aufgeschreckt. „Gehen Sie auf keinen Fall da raus!“ Noch ehe der Mann nachfragen kann, haben wir das nächste Stockwerk erreicht.

      „Adam, was ist da draußen los, weswegen brüllst du hier so rum?“, setzt Clarissa an, als wir den fünften Stock erreichen. Sie steht in der geöffneten Wohnungstür, ihr Gesicht ist blass und erschrocken.

      „Geh sofort wieder rein!“, brüllt Adam sie an und schubst mich unsanft in die Wohnung. Dann knallt er die Tür hinter uns ins Schloss, dreht den Schlüssel zweimal um und legt die Kette vor die Tür. Schweratmend legt er beide Hände auf das Holz, den Blick auf seine Füße gesenkt. Seine Schultern beben.

      Clarissa sieht von ihm zu mir. „Was – wieso ist sie hier? Was ist da draußen los?“

      „Es gab einen Unfall.“ Meine Stimme ist unnatürlich hoch.

      „Einen Unfall? Was?“ Sie dreht sich wieder zu Adam um, er steht nach wie vor an der Tür, als wolle er sie für den Notfall zuhalten. „Ich verstehe rein gar nichts! Adam, was soll –“ Ihre Worte gehen in dem lauten Geheul sich nähernder Sirenen unter.

      Der Lärm scheint Adam wieder zu besinnen. Schwungvoll stößt er sich von der Tür ab und geht ohne ein Wort an uns vorbei in das Wohnzimmer. Clarissa sieht mich an, eine Mischung aus Verwunderung und Ärger in ihrem Blick. Kurz erwidere ich ihren Blick, dann folge ich Adam in das Wohnzimmer. Er lehnt im Rahmen des großen Fensters, das auf die Straße führt. Langsam nähere ich mich ihm und blicke dann über seine Schulter.

      „Das – das kann nicht sein …“ Erschrocken lege ich meine unverletzte Hand über den Mund. Die Straße ist bis auf wenige Schaulustige leer, Polizisten und Sanitäter sperren die Unfallstelle im Regen ab. Einer der Sanitäter beugt über dem Anzugträger, ein weiterer über der alten Dame. Den Torso des Jungen haben sie abgedeckt. Von der Unfallfahrerin und den beiden schwerverletzten Kindern jedoch fehlt jede Spur. „Adam, wo sind sie hin?“

      „Ich weiß es nicht“, erwidert er tonlos, seine geweiteten Augen suchen jeden Zentimeter der Straße ab. Mein Blick jedoch hängt an dem zugedeckten Körper des Jungen, ich verstehe nicht, wieso er auf einmal doch … tot ist. Er wurde angefahren, er wurde zerteilt und dennoch bin ich mir sicher, dass er noch lebte. Habe ich es mir nur eingebildet?

      „Wieso steht ihr denn da? Adam, das ist widerlich, komm vom Fenster weg!“ Clarissa ist wütend, sie drängt sich zwischen Adam und mich, vielleicht gefällt es ihr nicht, dass wir uns so nahe sind. „Es tut mir ja leid, Eve, ich kann mir gut vorstellen, dass du unter Schock stehst, aber du musst jetzt gehen!“

      „Sie wird nirgendwohin gehen, Clarissa.“

      „Aber Adam, ich –“

      „Nein!

      Ich sehe zu Adam auf, ich fasse es nicht, dass er sich so für mich einsetzt. Doch er sieht weder mich noch Clarissa an. Sein Blick ist nach wie vor auf die Straße gerichtet. Als ich ihm folge, fällt er wieder auf den Torso. Die Hand des toten Jungen schaut unter dem Laken hervor. Und seine Finger zucken. „Das kann nicht sein …“, flüstere ich nur wieder, die Augen starr auf die Hand des Jungen gerichtet.

      Zwei Polizisten nähern sich dem Kind, sie scheinen in eine Unterhaltung vertieft. Als sie sich zu dem Jungen hinab beugen, Anstalten machen, die vermeintliche Leiche davonzutragen, möchte ich sie anschreien, ihnen zurufen, dass sie es nicht tun sollen. Ich weiß, was ich gesehen habe,