Tessa Koch

Wounded World


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bleiches Gesicht kommt unter dem Laken frei, seine Zähne wetzen sich tief in das Fleisch des Polizisten, ich sehe ihn schreien, nach dem Toten treten. Sein Kollege zückt seine Waffe, schießt drei, vier, fünfmal auf den Jungen. Der letzte Schuss, mitten in das Gesicht des Kindes, stoppt ihn.

      „Oh mein Gott!“, kreischt Clarissa mir ins Ohr. „Die haben gerade ein Kind erschossen!

      „Ich glaube nicht, dass es ein Kind war“, flüstert Adam.

      „Was redest du denn da?“ Clarissa ist außer sich. „Sie haben einen Jungen erschossen, einen kleinen Jungen!“

      „Clarissa, ich –“

      „Ich fasse es nicht, Adam! Mitten ins Gesicht, ich … mir wird schlecht!“

      Ich wende mich abrupt vom Fenster, den beiden Streitenden ab, mein Herz schlägt hart gegen meine Brust. Ohne groß darüber nachzudenken gehe ich auf den Fernseher zu, greife die Fernbedienung und schalte das Gerät ein. „… weswegen der Zug entgleiste, ist noch nicht bekannt. Bei dem Unglück kamen mindestens 69 Menschen ums Leben.“ Ich schalte um. „… kam es zu einer Massenkarambolage. Ersten Berichten zufolge, fuhren mindestens 21 Fahrzeuge ineinander. Die Anzahl der Opfer ist noch nicht bekannt.“ Erneut wechsele ich das Programm. „… das Feuer, das durch eine bisher ungeklärte Explosion ausgelöst wurde, kostete 33 Menschen das Leben.“ Wieder schalte ich um. „… ein weiterer schwerer Verkehrsunfall, bei dem mehrere Fahrzeuge miteinander kollidierten. Die Polizei geht zurzeit von 16 Todesopfern aus.

      „Das ist alles heute passiert?“ Clarissa flüstert erstickt.

      „Auf jedem einzelnen Sender laufen Nachrichten.“ Adam klingt nach wie vor tonlos.

      Ich schalte wieder um. „… daher werden alle Einwohner Washingtons gebeten, in ihren Häusern zu bleiben und Fenster und Türen geschlossen zu halten. Auf einer für den Nachmittag angesetzten Pressekonferenz wird der Präsident persönlich zu den Entwicklungen Stellung nehmen.

       „Was zur Hölle geht da draußen vor?“

      Ich drehe mich zu Adam und Clarissa um und blicke in ihre blassen Gesichter. „Auf jeden Fall scheint der Unfall vor eurer Haustür kein Einzelfall heute gewesen zu sein. Es ist fast so als ob – als ob –“

      „ - die Welt unterginge.“ Adams Blick streift den meinen.

      „Was soll denn der Quatsch?“ Clarissa schaut zwischen uns hin und her. „Dreht ihr beide nun völlig durch? Nur weil es mehrere Unfälle heute gab? Das war wahrscheinlich nur ein dummer Zufall! Oder –“ Mit einem Mal erstarrt sie „– vielleicht ein Terroranschlag! Oh mein Gott, glaubt ihr, dass das Terroranschläge waren?“

      Adam holt tief Luft und will ihr antworten, ihr vielleicht sagen, was wir dort unten mit eigenen Augen gesehen haben. Doch im nächsten Moment übertönt ein unglaublicher Lärm seine Worte. Als wir alle drei zum Fenster eilen, sehen wir die Hubschrauber, die in einer starren Formation über den gegenüber liegenden Appartement-Komplex hinweg fliegen. Ich betrachte die grünen Helikopter, sehe die schweren Motorblätter rotieren.

      „Das sind Militärhubschrauber!“, rufe ich über den Lärm hinweg.

      „Und sie scheinen auf dem Weg zum Weißen Haus zu sein!“, ruft Adam zurück.

      Clarissa scheint den Tränen nahe. „Es gab doch einen Terroranschlag! Oh Gott, ich muss meine Eltern anrufen!“ Sie lässt Adam und mich am Fenster zurück. Die Helikopter entfernen sich und der Lärm nimmt langsam ab. Wir schweigen beide und starren den Hubschraubern durch den Regenschleier hinduch hinterher.

      „Was glaubst du, hat das alles zu bedeuten?“, frage ich schließlich.

      „Ich weiß es nicht“, erwidert er schlicht.

      „Adam“, setze ich an, zögerlich. „Die Fahrerin des Wagens, der Junge unter den Rädern … Sie waren tot.“

      „Ja.“

      „Was hat das zu bedeuten?“, frage ich nur wieder, hilflos.

      Adam reißt sich vom Fenster los und sieht mich an. „Ich habe keine Ahnung. Aber wir sollten tun, was sie in den Nachrichten gesagt haben, und die Wohnung erstmal nicht verlassen. Und deswegen bleibst du auch hier.“

      „Aber ich –“

      „Nein, Eve. Wir wissen beide, was wir gesehen haben, oder?“ Ich erwidere nichts, sehe ihn nur an. „Ich lasse dich da jetzt nicht alleine raus. Und sie haben in den Nachrichten gesagt, dass alle bleiben sollen, wo sie sind. Also bleibst du hier. Zumindest bis sie Entwarnung geben. Bitte.“

      Ich weiche seinem Blick aus und umfasse die Fernbedienung noch etwas fester. Dadurch werde ich wieder auf meine verletzte Hand aufmerksam. „Au“, sage ich verwundert, lege die Fernbedienung beiseite und betrachte den Schnitt in meiner Handfläche. Er ist tief und noch immer tritt Blut aus der Wunde.

      „Verdammt, das habe ich ganz vergessen! Warte kurz, ich hole unseren Verbandskasten.“

      Adam lässt mich alleine im Wohnzimmer zurück. Kurz blicke ich ihm nach, dann wende ich mich dem Fernseher wieder zu. „… weitere Auffahrunfälle gemeldet. Daher bittet die Polizei, Ruhe zu bewahren und die Stadt nicht zu verlassen. Bitte bleiben Sie in Ihren Wohnungen und Häusern und verschließen Sie Fenster und Türen. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper und betrachte die Aufnahmen, die aus einem der Nachrichten-Hubschrauber aufgenommen worden sind. Sie zeigen verstopfte Straßen, Staus, Unfälle. Menschen, die mit schwerem Gepäck beladen zwischen den stehenden Autos entlanglaufen.

      „Sieht schlimm aus.“ Ich drehe mich zu Adam um, der gerade wieder den Raum betritt. Er hat einen Erste-Hilfe-Kasten in den Händen.

      „Ja.“ Ich blicke wieder auf den Fernseher. „Es müssen Hunderte sein, die versuchen, die Stadt zu verlassen. Und so kommt es zu immer mehr Unfällen.“

      „Wenn sie sagen, dass wir in unseren Wohnungen bleiben sollen, dann machen wir das erstmal auch. Wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben, was da draußen los ist. Ich glaube, hier drinnen sind wir erstmal sicherer als irgendwo dort draußen auf den Straßen.“

      Gerade spielen sie Bilder der Massenkarambolage ein. Überall ist Qualm, Blut, zersplittertes Glas und Tote. Mein Magen wird schwer nach unten gezogen. „Damit hast du wohl recht.“

      „Setz dich, Eve. Ich will mir deine Hand mal ansehen. Und so wie es aussieht, sollten wir es uns wohl ohnehin erstmal gemütlich machen.“ Adam deutet mit einem schiefen Lächeln auf die breite Ledercouch, neben der ich die ganze Zeit stehe. Bisher hat sich alles in mir dagegen gesträubt, mich hinzusetzen, zu akzeptieren, dass ich vorerst in der Wohnung meines Ex-Freundes und seiner neuen Flamme gefangen bin.

      Doch nun komme ich seiner Aufforderung seufzend nach. „Ich wollte nur deine Sachen vorbeibringen. Wer hätte geahnt, dass ich gleich auf unbestimmte Zeit hier bleiben muss?“

      „Es tut mir leid.“ Als ich von meiner Hand, die er gerade desinfiziert, zu ihm aufsehe, verstehe ich, dass er sich für mehr entschuldigt als nur für meinen unfreiwilligen Aufenthalt hier. Er entschuldigt sich für all das, was in den letzten Wochen zwischen uns geschehen ist. Was er mir angetan hat. Wieder kommen die alten Fragen, die alten Gedanken in mir hoch. Ich will ihn fragen, weswegen all das geschehen musste, weswegen er mir, uns, keine Chance gegeben hat. Ich will ihn fragen, ob er Clarissa wirklich liebt, ob es tatsächlich keine Hoffnung mehr für uns gibt. Ich will so vieles von ihm wissen, so vieles erfahren. Da sind so viele unbeantwortete Fragen in meinem Kopf, in meinem Herzen.

      „Ich erreiche sie nicht!“ Clarissa kommt wieder in den Raum und schreckt mich aus meinen Gedanken, dem Gefühlschaos in mir. „Das ganze Netz scheint zusammengebrochen zu sein, ich komme einfach nicht durch!“

      „Das wundert mich nicht.“ Adam nickt mit dem Kinn in Richtung Fernseher. „Durch die ganzen Unfälle und alles ist Panik ausgebrochen, es versuchen Hunderte, die Stadt zu verlassen. Und wahrscheinlich versuchen noch mehr, Familie