Tessa Koch

Wounded World


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uns um, blickt uns starr an. „Was zum Teufel ist denn hier los? Die ganzen Unfälle, die Militär-Hubschrauber, jetzt diese Flüchtlingswelle …“

      „Keine Ahnung.“ Adam wirkt angespannt. „Ich denke, dass wir es erfahren werden, wenn der Präsident die Pressekonferenz gibt.“

      „Und wenn es wirklich ein Terroranschlag war? Sollten wir nicht auch lieber aus der Stadt? Adam, Babe, wir könnten zu meinen Eltern!“

      „Solange wir nicht wissen, was da draußen los ist, sollten wir die Wohnung lieber nicht verlassen, Schatz.“

      „Was meinst du mit Solange wir nicht wissen, was los ist? Wir wissen sehr gut, was los ist! Es gab Dutzende Unfälle mit Hunderten Toten! Direkt vor unserem Haus wurde ein Junge erschossen! Wir sollten die Stadt so schnell wie möglich verlassen, bevor die Terroristen noch unser Wohnhaus in die Luft sprengen!“

      „Sieh dir doch diese Bilder an!“ Hitzig deutet Adam auf den Fernseher, Aufnahmen Dutzender Autounfälle. „Alle versuchen gerade aus der Stadt zu kommen – was glaubst du, wie weit wir kämen, hm? Wenn wir nicht sogar in einen dieser Scheißunfälle verwickelt würden. Die Leute haben Panik und fahren sich gerade alle gegenseitig über den Haufen! Außerdem … außerdem denke ich nicht, dass es Terroranschläge sind.“

      „Was soll es denn dann sein? Ein Zug ist entgleist und es gab eine verdammte Explosion!“

      Adam sieht von meiner Hand auf und blickt mir direkt in die Augen. Ich sehe die Anspannung in seinem Gesicht, die Angst in seinen Augen. Ich weiß, welche Bilder er gerade im Kopf hat, ich weiß, an was er gerade denkt. Auch ich sehe wieder den Jungen vor mir, den toten Jungen, dessen Körper mit einem furchtbaren Geräusch entzwei reißt. Und der dennoch versuchte, mich zu fassen, mich zu greifen.

      „Clarissa.“ Meine Stimme klingt noch immer unnatürlich hoch. Seit dem Unfall rast mein Herz kontinuierlich, meine Gedanken überschlagen sich, so wie die Ereignisse in dieser Stadt. „Der Junge, den die Polizisten erschossen haben … Er war tot.“

      „Ja, sie haben ihm mitten ins Gesicht geschossen, wer wäre da nicht tot?“

      „Nein, du verstehst nicht.“ Ich schlucke schwer. „Er war schon vorher tot. Bei dem Unfall ist er überfahren worden, er lag unter den Vorderrädern des Wagens. Und als er sich befreien wollte … er riss entzwei, wie eine Puppe! Und er hat dennoch gelebt!“

      „Und als sie die Fahrerin aus dem Wrack gezogen haben, hat sie nicht mehr geatmet.“ Adams Hände zittern, während er behutsam einen Mullverband um meine Hand wickelt. „Doch als wir vorhin aus dem Fenster gesehen haben, war sie fort.“

      „Sie werden ihre Leiche weggeräumt haben. Sowas muss ja auch echt nicht allzu lange rumliegen.“ Sie zieht ihre Nase angewidert kraus.

      „Nein!“ Ich erschrecke selbst über meine Heftigkeit. „Sie waren tot! Aber sie haben dennoch gelebt, verstehst du? Die Frau aus dem Auto, sie griff einen der Helfer an! Und der tote Junge hat versucht, mich irgendwie zu fassen!“

      Kurz sieht Clarissa uns an, dann fängt sie an zu lachen. „Also laufen da draußen Tote herum, wollt ihr mir das sagen? Die uns Menschen fressen wollen? Meint ihr, dass uns eine verdammte Zombie-Apokalypse bevorsteht?“ Sie lacht wieder. Adam und ich sehen uns erneut an, ich kann in seinem Blick dieselbe Verunsicherung lesen, die auch ich empfinde. Nun, wo Clarissa es ausgesprochen hat, wirkt es einfach nur lächerlich. Mehr noch: Es klingt absolut verrückt.

      „Aber … wir haben es gesehen.“ Adam klingt wie ein verschämter Schuljunge.

      Clarissa hört zu lachen auf. „Leute“, sagt sie nun sanft, „ihr habt da draußen einen schweren Unfall gesehen. Einen Unfall, bei dem es Tote gegeben hat. Ihr steht unter Schock, verständlicherweise. Ich wüsste nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich einen echten Toten aus nächster Nähe sehen müsste. Da kann einem das Gehirn schon einmal einen Streich spielen. Sie haben die anderen Leichen bereits weggeräumt, deswegen waren sie verschwunden.“

      „Du hast doch aber selbst gesehen, wie der Junge den Polizisten angegriffen hat“, wende ich halbherzig ein. Ihre Worte, ihre Argumente sind viel zu überzeugend, viel zu realistisch. Und dennoch kann ich noch immer nicht ganz von dem ablassen, was ich meine gesehen zu haben.

      „Eve, der Junge war halbiert und lag im Sterben. Er muss unglaubliche Schmerzen gehabt haben. Ich würde vermutlich auch um mich beißen und schlagen, wenn mir so etwas passierte. Er muss geradezu wahnsinnig vor Schmerz geworden sein.“ Sie seufzt auf. „Dennoch hätten sie ihn nicht gleich erschießen müssen … so mitten ins Gesicht …“

      Wir verfallen ins Schweigen und denken alle über das nach, was gesagt worden ist. Ich komme nicht umhin mir einzugestehen, dass Clarissas Erklärungen Sinn ergeben. Das Auto hätte mich beinahe erfasst. Wäre Adam nicht gewesen, hätte ich vielleicht unter den Rädern gelegen. Außerdem sind wir beide ziemlich hart auf dem Boden aufgeschlagen, sodass eine Gehirnerschütterung nicht ganz auszuschließen ist. Und wie Clarissa schon richtig feststellte, habe ich noch nie in meinem Leben eine Leiche gesehen. Vielleicht war der Junge unter den Rädern nicht tot, zumindest noch nicht. Ebenso wenig wie die Unfallfahrerin. Und wenn sie wirklich starke Schmerzen hatten, orientierungslos und verwirrt waren … Es könnte erklären, weswegen sie die Leute angriffen. Weil sie … ja, wahnsinnig vor Schmerz geworden sind. Es ergibt alles einen Sinn, irgendwie.

      „Du hast recht, Clairy.“ Adam wischt sich mit beiden Händen über das Gesicht und sieht dann lächelnd zu ihr auf. „Eve und ich stehen einfach nur tierisch unter Schock. Außerdem habe ich mir den Kopf angehauen, als wir gestürzt sind.“

      Clarissa erwidert sein Lächeln zuckersüß. „Natürlich habe ich recht, Babe. Allerdings macht das die Sache nicht viel besser. Ich mache mir wirklich Sorgen.“ Sie blickt stirnrunzelnd zum Fernseher, der die ganze Zeit leise im Hintergrund läuft. Die Nachrichtensprecherin ist nach wie vor im Bild, hin und wieder werden verschiedene Unfallbilder eingeblendet. Am Fuße des Fernsehers läuft ein Text in Dauerschleife, der die Breaking News prägnant zusammenfasst. +++ Zugunglück: Mindestens 69 Tote +++ Massenkarambolagen fordern mindestens 45 Menschen das Leben +++ Explosion in Wohnsiedlung: Bisher 33 Tote geborgen +++ Washington Opfer mehrerer Terroranschläge? +++ Präsident beruft Pressekonferenz ein +++

      „Wahnsinn“, flüsterte ich, während die Sprecherin zu den Korrespondenten vor Ort abgibt.

      „Das kannst du wohl laut sagen.“ Adam erhebt sich und geht unruhig im Wohnzimmer auf und ab. „Es kann kein Zufall sein, dass an einem Tag so viele Katastrophen passieren.“ Er wirft einen schnellen Blick auf den Fernseher, gerade ist ein Reporter vor einer qualmenden Ruine im Bild zu sehen. „Ansonsten hätten wir auch die Hubschrauber nicht gesehen … Wenn das Militär anrückt, dann muss es ernst sein.“

      „Adam, jetzt mach uns doch keine Angst. Bitte.“ Clarissa folgt seinem Auf und Ab mit den Augen. „Wir sollten warten, was der Präsident zu sagen hat. Vielleicht gibt es eine ganz einfache Erklärung. Das Militär könnte nur zur Vorsicht hier sein. So wie man einen Flughafen gleich weiträumig absperrt, wenn ein verdächtiger Koffer gefunden wird. Und am Ende ist er doch nur voller Klamotten.“ Doch nicht einmal sie selbst wirkt von ihren Worten sonderlich überzeugt.

      „Wir haben keine andere Wahl als zu warten.“ Ich blicke auf meine bandagierte Hand, krümme die Finger so weit, bis der Schnitt zu schmerzen beginnt. „Was anderes können wir jetzt erstmal nicht tun. Ich denke auch, dass es sicherer ist in der Wohnung zu bleiben. Bevor man draußen totgefahren wird.“ Ich deute mit meiner anderen Hand auf den Fernseher, nun werden Bilder diverser Autounfälle eingeblendet. „Adam hat recht.“

      „War ja klar.“ Clarissa murmelt es nur, doch ich höre es dennoch.

      Wütend sehe ich zu ihr auf. „Glaub mir, ich bin die Letzte, die in eurer Wohnung festsitzen will! Denke ja nicht, dass ich mich gerne hier bei euch einniste!“

      „Dafür, dass du aber so ungerne hier bist, hast du erstaunlich wenig Anstalten gemacht zu gehen!“, giftet sie sofort zurück.