Reinhold Vollbom

Grüße von Charon


Скачать книгу

Steffen ließ den Blick befriedigend in die Runde schweifen.

      »Chef«, ertönte es mit einem Mal aus einem der Zimmer nebenan. »Kommen Sie bitte mal.«

      Wenige Sekunden später standen die beiden vor einer Schreibmaschine, in der noch ein Blatt eingespannt war. Kröger entfernte den Bogen Papier behutsam aus der Maschine und las den Text vor. »Hallo Lars, ich will es kurz machen. Ich habe dir Verträge untergeschoben, die du nie unterschrieben hättest, wenn du den wahren Sachverhalt kennen würdest. Es handelt sich um die Angelegenheit, in der wir uns vor zwei Jahren mal stritten. Nun wollte ich das Projekt heimlich durchziehen und bin dabei auf die Nase gefallen. Dieser Brief gilt als Beleg dafür, dass du an der ganzen Angelegenheit unbeteiligt bist. Tut mir leid.«

      Der Kommissar holte heftig Luft. »Höchstwahrscheinlich hat er, nachdem er den Brief geschrieben hatte, die Wohnung verlassen. Vielleicht ist er ein bisschen spazieren gegangen, um sich alles noch einmal in Ruhe zu überlegen. Und als er dann nach Hause zurückkam, gab es für ihn nur eine Lösung: Den Sprung!«

      Beide sahen sich mit zuckenden Achseln an. »Den Rest machen wir morgen, Kröger. Lass uns gehen.«

      ◊

      Am nächsten Morgen kam Kommissar Steffen ein wenig später ins Büro. »Hast du die Zeitung gelesen, Kröger?« Gespannt sah er seinen Assistenten an.

      Dieser nickte knapp. »Erstaunlich flink unsere Presse, nicht wahr?« Nach einer kurzen Pause sah Kröger vom Schreibtisch auf. »Aufgrund des Zeitungsartikels hat eine Barfrau angerufen. Sie sagte, dass Herr Sander gestern Abend bei ihr in der Bar war.«

      »Und?« Kommissar Steffen sah ihn fragend an.

      »Sie muss jeden Augenblick hier aufkreuzen.«

      Im selben Moment klopfte es. Eine ein wenig zu kräftig gewachsene Brünette betrat den Raum.

      Nachdem Kröger die persönlichen Daten aufgenommen hatte, fing Kommissar Steffen mit der Befragung an.

      »Wissen Sie, Herr Kriminalkommissar«, schilderte die Brünette den gestrigen Abend, »er schien sehr verzweifelt gewesen zu sein.« Gleich darauf berichtete sie Einzelheiten von dem Gespräch am Vorabend. »Im Grunde genommen kommt so etwas fast jeden Abend vor. Die Männer, die mir da ihre Seele ausschütten, sehen für mich alle gleich aus. Dieser Sander unterschied sich lediglich dadurch, dass er eine seltsam gepunktete Fliege trug. Ach so, und der Whisky. Er würde nur diesen Marlowe trinken, sagte er mir.«

      Kommissar Steffen erinnerte sich, solch eine Flasche in der Penthouse-Wohnung gesehen zu haben. Er stellte ihr weitere zwei, drei Fragen und verabschiedete sich darauf von ihr.

      »Nebenan sitzt seit fast einer Stunde sein Kompagnon, Lars Behnecke. Soll ich ihn reinholen?« Kröger sah seinen Chef fragend an. Der Angesprochene nickte knapp.

      »Na endlich!« In gespannter Erwartung betrat Lars Behnecke das Zimmer. »Nach dem, was ich heute Morgen gehört habe, muss ich in der Firma alle Unterlagen überprüfen, an denen Gerhard arbeitete. Sie können sich vorstellen, wie zeitaufwendig das ist.«

      »Es dauert nicht lange«, beschwichtigte ihn Kröger.

      »Wie es aussieht«, ergriff Kommissar Steffen das Wort, »hat Herr Sander mehrere Millionen veruntreut, in den Sand gesetzt oder wie immer man dazu sagen will. Jedenfalls wird das Geld für alle Zeiten verloren sein. Richtig?«

      »Ja, Herr Kommissar. Sie werden verstehen, dass mir dieses Fehlverhalten von Gerhard sehr zugesetzt hat. Stellen Sie sich einmal vor, er hätte keinen Abschiedsbrief geschrieben. Ihr Assistent sagte mir bereits, was drin steht.«

      Die weitere Befragung übernahm Kröger. Der Kommissar griff die Aktenmappe, die man ihm hereinreichte. Er öffnete die Mappe, blätterte sie flüchtig durch und schloss sie gleich wieder. Um sie den Bruchteil einer Sekunde später erneut aufzuschlagen. Mit aufgerissenen Augen hatte er Mühe seine Überraschung zu verbergen. Mehrere Atemzüge lang grübelte er fieberhaft. Gleich darauf griff er zum Hörer, wählte eine Nummer und flüsterte irgendetwas in die Muschel.

      Kröger näherte sich dem Ende der Befragung. Kommissar Steffen saß derweil gedankenversunken vor seinem Schreibtisch.

      »So, das war es. Oder haben Sie noch irgendetwas, Chef? – Chef?! Ist was?«

      »Wie? Äh, nein! Das heißt doch.« Kommissar Steffen schien ein wenig befremdet. »Sagen Sie mal, Herr Behnecke, wo waren Sie gestern Abend?« Die angespannten Gesichtszüge von Kommissar Steffen verrieten, dass er wieder im Thema war.

      »Ich? Was soll diese Frage?! Zu Hause. Ich war gestern Abend zu Hause, habe ein Buch gelesen und bin früh schlafen gegangen.«

      »Es ist da nämlich etwas, das ich mir nicht richtig erklären kann.«

      »Und was ist das?« Lars Behnecke sah den Kommissar forschend an.

      Kröger warf seinem Chef einen fragenden Blick zu.

      »Sehen Sie mal hier, Herr Behnecke, die Aufnahmen von dem Toten, wie er auf dem Gehweg liegt.« Der Kommissar öffnete die Mappe und zeigte seinem Gegenüber die darin befindlichen Bilder.

      »Na und? Das ist Gerhard.«

      »Im Schlafanzug?!« Kommissar Steffens Augen hefteten sich an den anderen.

      »Ich verstehe nicht …«

      »Dann will ich es Ihnen erklären. Gerhard Sander ging ein bis zwei Minuten nach Mitternacht am Nachtportier vorbei. Ungefähr drei Minuten benötigt er von da aus bis in seine Penthouse-Wohnung. Vom Betreten der Wohnung an, hat er allerhöchstens eine Minute Zeit gehabt sich vom Balkon auf die Straße zu stürzen.«

      »Das reicht doch, oder?«

      Der Kommissar legte eine Pause von einigen Sekunden ein, bevor er sich genauer äußerte. »Er betrat also die Wohnung, zog den Anzug aus und hängte ihn korrekt auf den Bügel. Danach zog er seine Schuhe aus und stellte sie ordentlich im Schuhschrank unter. Gleich darauf zog er sich den Schlafanzug an, um sich vom Balkon zu stürzen. Selbst, wenn er dies alles in der kurzen Zeit geschafft hätte, bleibt eine Frage offen. Warum geht er nicht gleich auf Balkon und stürzt sich hinunter?«

      Kommissar Steffen bemerkte in den Augen des anderen ein hektisches Flackern. Im Zimmer herrschte absolute Ruhe. Kurz darauf fuhr der Kriminalbeamte fort: »Vielleicht hat Gerhard Sander gestern Abend seine Wohnung gar nicht verlassen, wie es auch der Portier vermutete.«

      »Aber der Portier hat ihn doch gesehen. Vor ein paar Minuten hat mir Ihr Assistent selber gesagt, dass er gestern Abend im Blue Moon war.«

      »Vielleicht sollten wir das nur glauben, dass er es war. Sie, zum Beispiel, sehen dem Toten sehr ähnlich. Eine schwarze Perücke eine gepunktete Fliege und schon muss man zweimal hinsehen, um Sie von Ihrem Kompagnon unterscheiden zu können.«

      »Was sollte ich damit bezwecken?« Lars Behnecke warf dem Kriminalbeamten einen aufgebrachten Blick zu.

      »Nun, nachdem Sie gemerkt haben, dass Ihre Transaktionen ein Reinfall waren, haben Sie einen Sündenbock gesucht. Jemand dem Sie die Schuld in die Schuhe schieben konnten. Und da kam nur einer in Frage: Ihr Geschäftspartner. Sie haben sich eine Perücke aufgesetzt, eine gepunktete Fliege umgebunden und sich an der Bar als Gerhard Sander ausgegeben. Dann bestanden Sie darauf, nur diesen bestimmten Whisky zu trinken. Die Sache mit der Bar haben Sie sicherheitshalber eingebaut, falls jemand an dem Abschiedsbrief Zweifel hegte.«

      »Aber der Portier …«

      »Der Portier hätte Sie höchstens an Ihrer Stimme erkannt. Deswegen sind Sie auch wortlos an ihm vorbeigegangen. Dann haben Sie bei Gerhard Sander geklingelt. Dieser hat Ihnen ahnungslos die Tür geöffnet. Wahrscheinlich haben Sie ihn dann unter einem Vorwand auf den Balkon gelockt. Kampfspuren haben wir jedenfalls nicht entdecken können. Nachdem Sie ihn vom Balkon gestoßen hatten, schrieben Sie den Brief auf seiner Schreibmaschine. Er liebte dieses altertümliche Muster-Exemplar. Vermutlich hatten Sie sich den Text vorher schon zurechtgelegt. Tja, und dann sind Sie durch den Hinterausgang des Hauses verschwunden.«

      »Phantastereien!«